Gewaltkriminalität: Wie Medien die Wirklichkeit verzerren
Medien nennen vor allem dann die Herkunft von Gewalttätern, wenn diese Ausländer sind, und vermitteln dadurch ein falsches Bild über Kriminalität in Deutschland
In Augsburg schlagen mehrere Männer einen Passanten tot. Medien berichten ausführlich - unter anderem auch über die Herkunft der mutmaßlichen Täter. Einer sei "deutscher, türkischer und libanesischer Staatsangehörigkeit", heißt es zum in einem Beitrag der Bild-Zeitung.
Bei einem zweiten Täter handle es sich um einen Italiener. Wenige Tage später sticht in München ein Mann auf einen Polizisten ein. Auch diesmal berichten viele Medien und der Boulevard. Doch dass es sich beim mutmaßlichen Täter Daniel G. um einen Deutschen handelt, erfahren die Leser in den meisten Berichten nicht.
Spätestens seit der Kölner Silversternacht diskutieren Öffentlichkeit, Politik und Medien darüber, in welchen Fällen Medien die Nationalität von Tatverdächtigen nennen sollen. Das Weglassen der Herkunft verschleiere zunehmende Migrantenkriminalität, argumentieren die einen. Das Nennen der Nationalität führe zu einem gesellschaftlichen Generalverdacht, sagen die anderen.
Medien berichten immer häufiger über die Herkunft von Gewalttätern
Wie oft Medien über die Nationalität von Gewalttätern berichten und welchen Eindruck von Kriminalität in Deutschland sie damit vermitteln ist der Gegenstand einer aktuellen Untersuchung, die kürzlich vorgestellt wurde. Diese kommt zum Ergebnis: Medien nennen die Herkunft von Tatverdächtigen tatsächlich immer häufiger. Mit der Realität von Gewaltkriminalität in Deutschland hat das Bild, das sie dadurch vermitteln, allerdings wenig zu tun.
Thomas Hestermann hat für die Untersuchung Beiträge aus Hauptnachrichten und Boulevardmagazinen der acht meist gesehenen Fernsehsender sowie den Bundesausgaben der auflagenstarken überregionalen Tageszeitungen untersucht. Die Daten aus dem Jahr 2019 hat er mit Ergebnissen aus früheren Untersuchungen verglichen. Sein Resultat: 2019 nannte fast jeder dritte Fernsehbeitrag (31,4 Prozent) und jeder zweite Zeitungsbeitrag die Herkunft des Tatverdächtigen. Im Jahr 2017 war es nur jeder sechste Fernsehbeitrag (17,9 Prozent) und 2014 gerade einmal jeder zwanzigste (4,8 Prozent).
Besonders häufig erwähnten Medien dabei die Herkunft, wenn es sich bei den Tatverdächtigen um Ausländer handelte. Die Nationalität von deutschen Tatverdächtigen sei nur sehr selten genannt worden.
Deutsche begehen 69% der Gewalttaten, kommen aber nur in 3 Prozent der Medienberichte vor
Wie wenig die mediale Berichterstattung allerdings über die Realität von Kriminalität in Deutschland aussagt, wird deutlich, wenn man die Zahlen mit jenen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik vergleicht. So machen Deutsche zwar über zwei Drittel (69,4 Prozent) der polizeilich erfassten Gewalttäter aus, wurden im Jahr 2019 aber nur in rund 3 Prozent der Medienberichte zum Thema genannt.
Ausländische Tatverdächtige hingegen kommen in 28 bzw. 41 Prozent der Fernseh- und Zeitungsberichte zum Thema vor, obwohl sie weniger als ein Drittel an der Polizeilichen Kriminalstatistik ausmachen. Das bedeutet: Ausländische Tatverdächtige werden in Fernsehberichten 19 mal so häufig erwähnt, wie es ihrem statistischen Anteil entspricht. In Zeitungsberichten ist es sogar das 32-fache. "Die Berichterstattung kehrt die Erkenntnisse der Polizei komplett um", resümiert Hestermann in seiner Studie.
Medien berichten wesentlich häufiger, wenn der Täter Ausländer ist
Noch stärker ist die mediale Verzerrung der Untersuchung zufolge bei Gewalttaten, die mit Messern begangen werden. Bei ausländischen Tätern wird hier fast ausnahmslos die Herkunft genannt. Die Nationalität von Deutschen wird hingegen in kaum einem der Beiträge benannt. Und das obwohl auch hier die meisten Täter Deutsche sind. Hestermann schreibt dazu:
Die häufigsten Vornamen lauten Michael, Daniel und Andreas. In Fernseh- und Zeitungsberichten aber heißen die Messerstecher nicht Michael, Daniel oder Andreas, sondern Sayed, Alaa oder Ahmad.
Thomas Hestermann
Die Studie ist nicht die erste, die Hestermann zu dem Thema anstellt. Bereits 2017 untersuchte der Journalismus-Professor, wie häufig Medien über Gewalttaten deutscher und nicht-deutscher Tatverdächtiger berichten, und kam schon damals zu ähnlichen Ergebnissen.
Im Jahr 2017 berichteten Fernsehsender viermal so oft über Gewalttaten nichtdeutscher Tatverdächtiger wie noch drei Jahre zuvor. Deren Anteil an der Kriminalstatistik hatte sich in diesem Zeitraum allerdings gerade einmal um ein Drittel erhöht.
Das umgekehrte Phänomen fand Hestermann bei nichtdeutschen Opfern von Gewalttaten: Diesen widmete das Fernsehen nur halb so viele Berichte wie 2014, obwohl ihre Zahl laut BKA angestiegen war. Das Urteil des Journalismus-Professors Thomas Hestermann damals:
Die deutschen Medien haben den gewalttätigen Einwanderer als Angstfigur neu entdeckt.
Thomas Hestermann
Migranten werden häufiger zu Gewalttätern
Mit der Frage, wie groß der Migrantenanteil an Gewalkriminalität in Deutschland ist, haben sich Anfang 2018 der Gewaltforscher Dirk Baier und der Kriminologe Christian Pfeiffer befasst. Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums untersuchten sie, ob und wenn ja warum Flüchtlinge in Niedersachsen häufiger Gewaltdelikte begehen.
Das Ergebnis ihrer Studie: Schwere und gefährliche Körperverletzung, die besonders häufig mit Messern begangen werden, haben in den letzten Jahren wieder zugenommen. Verantwortlich dafür seien vor allem nicht-deutsche Tatverdächtige.
Den Grund für die Zunahme sahen sie allerdings weniger in kulturellen, als in demographischen Faktoren. Neben der rein zahlenmäßigen Zuname von Flüchtlingen verwiesen sie darauf, dass junge Männer in der Flüchtlingsbevölkerung überrepräsentiert sind: "In jedem Land der Welt sind die männlichen 14- bis unter 30-jährigen bei Gewalt- und Sexualdelikten deutlich überrepräsentiert."
Nicht die Herkunft, sondern die Ankunft ist entscheidend
Dass es weniger die Nationalität als die Lebensumstände sind, die darüber entscheiden ob, ein Menschen gewalttätig wird, ist das Ergebnis einer Studie des Kriminalwissenschaftler Christian Walburg.
Im Auftrag des Mediendienstes Integration hat Walburg im Jahr 2016 Polizeistatistiken, Studien und Umfragen zu Flüchtlingskriminalität ausgewertet. Sein Ergebnis: Flüchtlinge begehen dann mehr Straftaten, wenn sie nur über eine "geringe Bleibeperspektive" verfügen. Jene mit "günstiger Bleibeperspektive, Zugang zu Integrationskursen, zu Bildungsangeboten und Aussicht auf Zugang zum Arbeitsmarkt" begingen sogar weniger Straftaten als der deutsche Durchschnitt.
Eine Entwicklung, die die zunehmende Berichterstattung über Gewalttaten auch nicht vermittelt: Gewaltkriminalität ist in Deutschland insgesamt rückläufig. Polizeilich erfasste Fälle von Gewaltdelikten sanken in den letzten beiden Jahren um rund 4 Prozent.
Die Fälle von Mord und Totschlag unter Jugendlichen haben sich seit Mitte der 2000er sogar fast halbiert. Das Risiko in Deutschland Opfer einer Straftat zu werden ist trotz Ereignissen wie in Augsburg und München so niedrig wie seit 1991 nicht mehr.