Gewerkschaftliche Niedriglohnpolitik

Verdi setzt auf prozentuale Steigerungen statt auf Festbetragsforderungen - zum Nachteil der Geringverdiener

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Für die Mitarbeiter der Post, deren Tarifvertrag am 30. April ausläuft, fordert die Gewerkschaft Verdi 7 Prozent mehr Einkommen auf 12 Monate. Der Briefmonopolist bot bisher 5,5 Prozent auf 24 Monate, will die Beschäftigten aber auch noch zu einer Arbeitszeitverlängerung zwingen.

Der niedrigste Bruttotariflohn bei der Post liegt bei 1.474,79 Euro, der höchste bei 4.131,76 Euro. Der "Ecklohn", also der Bereich, in dem nach Verdi-Angaben mit etwa 110.000 die meisten der insgesamt 180.000 Post-Arbeitnehmern arbeiten, beträgt zwischen 1.740,36 und 2.183,05 Euro. Bei einer prozentualen Steigerung um 7 Prozent, wie die Gewerkschaft sie fordert, würde die höchste Lohngruppe monatlich 289,22 Euro mehr bekommen, die niedrigste dagegen nur 103,24 Euro. Für das Gros der Durchschnittsverdiener läge die Lohnsteigerung zwischen 121,83 und 152,81 Euro.

Auf die Frage, warum statt solch einer prozentualen nicht eine Festbetragsforderung von beispielsweise 200 Euro erhoben wird, antwortet Verdi erst ausweichend, dass dies das "Entgeltsystem durcheinander bringen" und dazu führen würde, dass sich die Einkommensgruppen immer mehr annähern. Dies ist zum einen nur sehr bedingt richtig (denn tatsächlich blieben die Einkommensunterschiede in absoluten Zahlen gemessen ja bestehen) zum anderen fragt sich, welches Interesse eine Gewerkschaft daran hat, dass ein "Entgeltsystem" unangetastet bleibt.

Damit konfrontiert, verweist Verdi darauf, dass bei Festbetragssteigerungen in den untersten Lohngruppen der "Rationalisierungsdruck" steigen würde, was wiederum dazu führen könnte, dass solche Arbeitsplätze abgebaut würden. Betreibt die Gewerkschaft mit ihren Forderungen also eine Art Niedriglohnpolitik?

Eine Begründung, die nicht ganz zu überzeugen vermag und Raum für weitere Spekulationen lässt: Stecken etwa Marketinggründe dahinter? Klingen 7 Prozent für eine potentiell neidische Medienöffentlichkeit weniger als 200 Euro monatlich? Liegt es an den Interessen der Funktionäre, die vielleicht selbst eher mit hohen Einkommensgruppen zu tun haben oder solchen entstammen? Oder ist es sogar ein Unterschied, der von den Arbeitgebern aufgezwungen wird?

Die wahrscheinlichsten Gründe liegen wohl eher darin, dass die Tariftraditionen ein Relikt aus der Bonner Republik sind, an dem nach den drei alten Beamtengrundsätzen ("das haben wir schon immer so gemacht", "das haben wir noch nie so gemacht" und "wo kämen wir denn da hin") festgehalten wird. Folge dieser gewerkschaftlichen Traditionsorientierung ist, dass es nicht nur die Unternehmen sind, welche die Einkommensschere immer weiter auseinander klaffen lassen, sondern auch die Gewerkschaften, die stets prozentuale Lohnzuwächse fordern und andere Steigerungen nur im Ausnahmefall akzeptieren.

Damals sollten die prozentualen Lohnsteigerungen "Leistungsanreize" zementieren, heute sorgen sie jedoch dafür, dass es für untere Einkommensgruppen, in denen ein relativ großer Teil der Vollzeitarbeitskräfte zum Erreichen des Existenzminimums bereits jetzt auf staatliche Transferleistungen angewiesen ist, zunehmend prekärer wird. Tatsächlich ist in der bundesdeutschen Realität genau das Gegenteil dessen der Fall, was Verdi als erste Begründung für die Tarifpolitik der Gewerkschaft heranzieht: Zwischen 1995 und 2005 stieg die Lohnspreizung nach OECD-Angaben erheblich – was bedeutet, dass sich die Einkommensgruppen gesamtwirtschaftlich gesehen nicht annäherten, sondern entfernten.

Noch deutlicher wird die Wirkung prozentualer Lohnsteigerungen, wenn man die Managergehälter für einen Vergleich heranzieht, die allerdings übertariflich gezahlt werden: Erhält ein Manager mit einer Million Jahresgehalt 3 Prozent mehr, dann sind das 30.000 Euro und damit mehr als das Doppelte des Jahresgehalts eines Geringverdieners mit 15.000 Euro. Bei diesem würde ein dreiprozentiger "Lohnzuwachs" durch die Lebenshaltungskosten bedingten Konsumquote von annähernd 100 Prozent derzeit fast vollständig von der Inflation aufgefressen.

Obwohl die Managergehälter außertariflich gezahlt werden, sind auch hier die Gewerkschaften mit verantwortlich – durch ihre Mandate in den Aufsichtsräten, über die sie in den letzten Jahren den mittlerweile scharfer Kritik ausgesetzten Gehaltssteigerungen, Boni und Abfindungen zustimmten. Dietmar Hexel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands kündigte nun im Handelsblatt an, dass Vertreter der Gewerkschaften in solchen Gremien "überhöhten" Managergehältern nicht mehr zustimmen würden. Bei der Definition dessen, was "überhöht" ist, legt der großzügige Gewerkschafter dabei durchaus andere Maßstäbe an als jene, nach denen Manager Niedrigverdienerforderungen ab etwa 3 Prozent als "überhöht" bezeichnen: "Zweistelligen Zuwachsraten bei Vorstandsbezügen", so Hexel, "werden wir nicht mehr zustimmen".