Granaten auf ein Atom-U-Boot
40 Jahre nach der Oktoberkrise sind brisante Informationen veröffentlicht worden
"Fragen sie mich nicht, wie oft ich in Key West in mein Flugzeug gestiegen bin", sagt der ehemalige US-Pilot William B. Ecker. Unzählige Male seien er und seine Kollegen in jenen Oktobertagen des Jahres 1962 nach Kuba geschickt worden, um mit den wendigen Spionageflugzeugen Luftaufnahmen der Insel zu machen. "Während die U-2-Fugzeuge höher flogen, zogen wir im Tiefflug über die Stützpunkte, um detaillierte Aufnahmen zu machen", erinnert sich Ecker. Vor kurzem konnte sich der Airforce-Pilot a.D. ein genaueres Bild von dem Gebiet machen. Am Rande einer Konferenz zum 40. Jahrestag der Krise kam der heute 86-jährige Ecker erstmals zum Ort des Geschehens und traf mit den damaligen Gegenspielern zusammen.
Vor der tunnelförmigen Lagerhalle hatten kubanische Militärs eine Schautafel aufgestellt, auf der eine unscheinbare Luftaufnahme des Platzes zu sehen ist. An diesem Ort in den Bergen waren vor 40 Jahren atomare Sprengköpfe der sowjetischen Armee gelagert worden. "Das Foto von diesem Stützpunkt wurde am 23. Oktober gemacht", erklärte der kubanische Brigadegeneral Antonio Lusson dem Gästen der Konferenz "Die Kuba-Krise - eine politische Vision 40 Jahre danach". Eckers Einwand erstaunt selbst die Kubaner. "Dieses Foto habe ich am 14. Oktober 1962 bei einem Überflug Kubas von Westen nach Osten geschossen." Zwei Tage später, am 16. Oktober um 8.45 Uhr Morgens wurde es zusammen mit anderen Luftaufnahmen von U-2-Flugzeugen US-Präsident John F. Kennedy vorgelegt. Es waren die ersten "harten" Beweise von Atomwaffen auf Kuba, mit denen die heißen 13 Tage der Krise begannen.
Im historischen Rückblick wird die Oktoberkrise heute oft allzu einfach dargestellt. Die Sowjets hätten Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert und Kennedy habe sich zu massiven Reaktion gezwungen gesehen. Die Geschichte, von den Protagonisten der Krise jüngst in der kubanischen Hauptstadt rekonstruiert, zeichnet ein anderes Bild. "Ein Gleichgewicht des Schreckens hat zu diesem Zeitpunkt nicht existiert", so Estefan Morales, Historiker an der Universität von Havanna. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre habe die US-Außenpolitik auf den aggressiven Ausbau ihrer Hegemonie gesetzt. Die massive nukleare Überlegenheit von siebzehn zu eins verlieh Washington das dazu notwendige Selbstbewusstsein.
Versuch einer Wiederherstellung des Gleichgewichts
Chruschtschows Memoiren zufolge war es ein vergleichsweise lauer Frühlingstag, an dem er dem damaligen Vizepräsidenten des Ministerrates, Anatoly Mikojan, von seinen Plänen berichtet, atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen auf der Karibikinsel Kuba zu stationieren. Beiden Staatsmännern ist die politische und militärische Brisanz des Vorhabens in diesem Moment klar, doch die Sowjetführung stand unter immensem Handlungsdruck. Wenige Tage zuvor erst war die Stationierung von US-amerikanischen "Jupiter"-Atomraketen in der Türkei bekannt geworden. Mit weiteren europäischen Raketenstellungen unter anderem in Italien hatte es Washington damit auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegen fertiggebracht, einen atomaren Gürtel um die Sowjetunion zu legen und die tödliche Bedrohung stetig zu erhöhen. Nach einem Start hätten die US-Raketen aus der Türkei nur zehn Minuten benötigt, um sowjetisches Territorium zu erreichen. Die Raketen wären eine knappe halbe Stunde in der Luft geblieben.
Mit einer Stationierung entsprechender sowjetischer Waffen hoffte Chruschtschow das Gleichgewicht wieder relativ ausgleichen zu können. Trotzdem meldet Mikojan Bedenken an, als er Präsident ihm erklärt, die Stationierung verdeckt vorantreiben zu wollen. Erst im November 1962, während eines geplanten Staatsbesuches des sowjetischen Staatschefs in Havanna, wolle er die Stationierung der Raketen wenige Seemeilen vor der US-amerikanischen Ostküste bekannt geben. "Um den 25. November herum sollten unsere Einheiten auf Kuba die volle Kampfkraft erreicht haben", erläuterte General a.D. Anatoly Gribkow die sowjetischen Pläne am 12. Oktober in Havanna. "Wir wollten die Amerikaner vor vollendete Tatsachen stellen", so der heute 84-Jährige, der damals einer der führenden sowjetischen Militärs auf der Karibikinsel war. Politische Effekte zählten viel in diesen Tagen.
Die Rolle Kubas
In der Retrospektive haben zwei außenpolitische Konfliktlinien der USA zu der Raketenkrise im Oktober und November 1962 geführt. Vorrangige Bedeutung hatte der ideologische und sich zunehmend auf die militärische Ebene verlagernde Konflikt zwischen Washington und Moskau. Mindesten ebenso bedeutsam war in der Entwicklung der Krise aber die auf den gleichen Grundlagen basierende Konfrontation zwischen Washington und Havanna. Trotzdem wird der revolutionären Regierung Kubas im Westen bis heute gemeinhin eine passivere Rolle zugewiesen, als ihr tatsächlich zukam. Ohne ihre Einwilligung wäre eine Stationierung sowjetischer Raketen auf dem Territorium des Karibikstaates schließlich nicht möglich gewesen.
Dass Havanna auf das Anliegen der Sowjets einging, war in erster Linie der Terrorpolitik Washingtons geschuldet. Erst im April des Vorjahrs war im April 1961 die Invasion von 1.400 exilkubanischen Söldnern in der "Schweinebucht" gescheitert. Trotz des immensen Erfolges der jungen revolutionären Regierung (114 Tote und fast 2.000 Gefangene auf der Seite der Invasoren) wiesen alle politischen und geheimdienstlichen Erkenntnisse auf weitere Invasionspläne hin. Zwar wurde diese Intention auf US-Seite von Präsident J.F. Kennedy immer wieder bestritten, jüngst freigegebene Geheimdokumente belegen aber, dass der im Januar 1962 angetretene Demokrat nur noch bedingt Einfluss auf den Krieg gegen Kuba hatte.
Am ersten Amtstag informierte Eisenhower seinen Nachfolger Kennedy von der geplanten Invasion in der Schweinebucht und auch die weiteren Terrorpläne lagen schon griffbereit in der Schublade. Unter der Ägide der CIA und exilkubanischer Lobbyisten lief nur wenige Monate nach dem Scheitern der Invasion die "Operation Mangoose" an, ein Geheimprogramm mit 32 Aktionen gegen die kubanische Regierung. Das Programm beinhaltete eine Kombination von Sabotageakten, Infiltration und psychologischer Kriegsführung mit militärischen Übungen und Notfalloperationen für eine Invasion Kubas zum Sturz von Fidel Castros Regierung. Im März 1962 wurde die Vorgehensweise für die "Operation Mongoose" von Präsident Kennedy überprüft. Er merkte an, dass der "endgültige Erfolg" der Operation "entscheidende Interventionen des US-Militärs erfordern" würde. Kennedy hat aber nie offiziell die Invasion autorisiert. Man wusste allerdings, dass der kubanische Geheimdienst die vom CIA unterstützten Gruppen von Exilkubanern infiltriert hatte, die ironischerweise genau für den Oktober 1962 eine Invasion Kubas geplant hatten.
Für Kennedy gab es kaum einen Handlungsspielraum
Die Lehren der Konferenz von Havanna, so McNamara ist "die Rekonstruktion der Gefahr, die von der damals stattgefundenen Verschiebung der Entscheidungsprozesse auf die militärische Ebene ausging". Von Beginn der Krise am 16. Oktober 1962 an insistierte der militärische Flügel der Berater Kennedys auf ein militärisches Vorgehen gegen Kuba. Die Pläne dafür waren schon lange zuvor entworfen worden.
Nach der Diskussion der jüngst freigegebenen Dokumente, vor allem aus den USA und Kuba, wird klarer, dass Kennedy bei seinem Amtsantritt im Januar 1961 durch eben diesen Machtgewinn des militärischen Komplexes nur noch wenig Spielraum hatte. Umso bemerkenswerter ist der Ausgang der Krise. "Tatsache ist", schreibt Carlos Lechuga, der ehemalige Botschafter Kubas vor den Vereinten Nationen, in einem Rückblick auf die Krise, "dass Kennedys Vorgänger Eisenhower die CIA mit dem Training konterrevolutionärer Einheiten in Guatemala beauftragt hatte." Die Mobilmachung der US-amerikanischen Eliten gegen die Regierung Castro hatte indes nichts mit deren späterem sozialistischen Charakter zu tun. 1959 ging es den "Barbudos" schließlich lediglich um die Niederschlagung der Diktatur von General Fulgencio Batista, eine Marionette Washingtons.
Die Basis für die US-amerikanische Kuba-Politik damals und heute ist die gleiche. Schon im frühen 19. Jahrhundert machten die USA einen "natürlichen Anspruch" auf Kuba geltend und besetzten wirtschaftliche Schlüsselpositionen. Ebenso ging man in Washington 1959 vor. Während Regierungssprecher nach dem Einzug der Revolutionäre in Havanna Sympathie mit den angekündigten sozialen Reformen auf Kuba bekundeten, wurden hinter verschlossenen Türen Umsturzpläne geschmiedet. Schon mit der Agrarreform im Mai 1959, spätestens aber nach der Verstaatlichung der von US-amerikanischen Firmen kontrollierten Schlüsselindustrien wurde in Washington an eine Annäherung nicht mehr gedacht.
Mehr Glück als Verstand
Geleitet wurden die konterrevolutionären Programme von der ersten Stunde an vom damaligen Vizepräsidenten Richard Nixon, dem FBI-Chef Edgar Hoover, sowie den altgedienten Kuba-Botschaftern Arthur Gardner und Earl Smith. Nachdem Kuba von 1959 an mit einer nicht gekannten Terrorwelle überzogen, international isoliert und wirtschaftlich boykottiert wurde, war eine Annäherung an die Sowjetunion nur die logische Konsequenz. "Wir haben damals die Folgen unseres Handelns nicht bedacht", gestand der damalige Außenminister Washingtons nun in Havanna ein. Ein weiterer enger Mitarbeiter, Theodore C. Sorenson, bezeichnete die Angriffe auf Kuba als "historischen Fehler, für den ich mich persönlich entschuldige".
"Wenn wir und die Informationen heute ansehen, bleibt uns nur ein Dankesgebet, dass sich Kennedy in den heißen Tagen der Krise gegen die Forderungen einer Invasion verwahrt hat", schätzt auch Thomas Blanton, der Vorsitzende des National Security Archive ein. Blanton, der maßgeblich an der Ausrichtung der Konferenz zur Oktoberkrise in Havanna beteiligt war, hat heikles Material aus den Militärarchiven der USA und Russlands zu Tage gebracht. Am 27. Oktober, in den gespanntesten Stunden der Krise, griff ein US-Kriegsschiff ein sowjetisches U-Boot vor Kuba mit Granaten an. Nicht bekannt war, dass das Boot mit nuklearen Sprengköpfen bestückte Torpedos an Bord hatte. Vadim Orlov, der Kommandant des angegriffenen Bootes gab dem zuständigen Offizier die Order, die Torpedos gefechtsbereit zu machen. "Vielleicht hat der Krieg längst begonnen", so der Kommandant des U-Bootes, "Schießen wir also zurück. Wir werden sterben, aber wir werden sie mit versenken."
Erst eine Krisensitzung mit seinen Offizieren bewegte den Militär zum Abdrehen unter dem Beschuss der US-Navy. Vor zehn Jahren war bei einer ähnlichen Konferenz in der kubanischen Hauptstadt herausgekommen, dass neben den bekannten 33 Raketenstützpunkten auf Kuba neun bis dato unbekannte Rampen mit Luna-Raketen bestückt wurden. Im Fall einer Invasion wären die sowjetischen Militärs zum Abschuss autorisiert gewesen.
"Mit mehr Glück als Verstand auf militärischer Seite" ist die Krise auch nach Ansicht von McNamara gelöst worden. Bei militärischem Vorgehen würden immer Fehler begangen, so der ehemalige US-Außenminister zum Abschluss der Konferenz. Zuletzt habe das sich in Afghanistan gezeigt, wo kanadische Soldaten unter "friendly fire" umgekommen sind und eine Hochzeitsfeier bombardiert wurde. "Während uns das Gedenken an die Oktoberkrise an ein besonnenes Vorgehen mahnt, läuft die derzeitige US-Politik der Bush-Administration genau in die entgegengesetzte Richtung", so McNamara.
Besonders der neuerlich erwogene Einsatz von Atomwaffen durch die amtierende US-Regierung belege diese bedenkliche Politik. "Wenn ich mit konventionellen Waffen einen Fehler mache, sterben Menschen", so der US-Politiker, "geschieht das bei Kernwaffen, können ganze Nationen zerstört werden." Daran gelte es immer zu erinnern.
Niemand habe 1962 einen Einsatz von Atomwaffen angestrebt, resümiert auch Schlesinger die Krisentage. "Trotzdem standen die drei beteiligten Regierungen an der Kippe eines Atomkrieges". 1962 sei die Situation trotz allem Kräftemessens schließlich durch Diplomatie gelöst worden. "Wir haben uns über jeden Schritt zweimal überlegt", so McNamara. Bewusst habe man die Seeblockade als "Quarantäne" bezeichnet. "denn 'Blockade' war ein kriegerischer Terminus". Durch die Blockade schließlich sei Zeit gewonnen worden, um die Krise auf diplomatischem Weg, wenn auch nur noch zwischen Washington und Moskau zu lösen.
Lehren für die Gegenwart
Umso unerbittlicher war die Reaktion, als der amtierende republikanische Präsident George W. Bush Kennedys Handhabung der Oktoberkrise unlängst in einer Rede aufgriff, um sein Konzept eines Präventivkrieges gegen den Irak zu rechtfertigen. Bush zitierte Kennedys Worte: "Wir leben nicht länger in einer Welt, in der der einfache Einsatz von Waffen ausreichende Sicherheit gewährleistet." Laut Bush ein frühes Lehrstück einer präventiven Militärpolitik.
"Völliger Unsinn!", befindet der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Schlesinger: "Unser Ziel war es damals, jede Art von militärischer Konfrontation zu vermeiden, auch wenn es starke Gegenkräfte gab." Beistand bekommen die ehemaligen Mitarbeiter in der aktuellen Diskussion in den USA vom Friedensforschungsinstitut Carnegie Endowment for International Peace. Auch dessen Präsidentin Jessica Tuchman Mathews widerspricht Bush: "Eine der bedeutendsten Lektionen aus der Oktoberkrise ist, dem Gegenüber Bewegungsspielraum zu lassen und ihn nicht gegen die Wand zu drängen." So erst würden unbedachte Gegenreaktionen vermieden.