Griechenland: Vom Vorzeigeland der ersten Welle zum Versager in der zweiten
Der griechische Alltag ist mittlerweile vollkommen von Covid-19 bestimmt. Seit gut einer Woche sind nahezu sämtliche Intensivbetten in Krankenhäusern mit Covid-19-Patienten gefüllt
Bislang reagiert die Politik darauf mit Strenge. Verstöße von Bürgern gegen die Ausgangsbeschränkungen werden auch dann mit Bußgeldern von 300 Euro geahndet, wenn es sich nur um Formfehler in der Dokumentation eines erlaubten Aufenthalts außer Haus handelt. Ob Polizisten einem Arbeitnehmer, der wegen Überstunden außerhalb der dokumentierten Arbeitszeiten beim Nachhauseweg eine Strafe verpassen oder nicht, liegt nicht im Ermessen des Beamten. Versammlungen oder politische Kundgebungen sind auch bei Einhaltung von Hygienevorschriften nicht gestattet. Oft errichtet die Polizei Straßensperren und kontrolliert alle, die zu Fuß oder PKW passieren.
Die Bußgelder stehen in keiner Relation zu den durchschnittlichen Einkommen der Griechen. Insofern ist es nachvollziehbar, dass der überwiegende Teil der Geldbußen nicht bezahlt wird. Unbeglichene Bußgeldbescheide werden von Amts wegen der Steuerschuld der Bürger zugerechnet. Somit werden sie in der Statistik für die nicht beglichene Steuerschuld der Griechen auftauchen.
Seit zwei Monaten unbezahlt sind auch die Sanitäter und Krankenwagenfahrer, die eigens für die Pandemie eingestellt wurden. Ebenfalls nicht beglichen werden die Lohnabrechnungen für die Überstunden der Krankenhausärzte. Sie warten auf ihr Gehalt, während die Regierung immer mehr Bereitschaftspolizisten rekrutiert.
Es ist bezeichnend, dass am Sonntag, den 29. November, von der Polizei 50.283 Kontrollen von Personen vermeldet wurden, während es gemäß des Gesundheitsdienstes EODY landesweit 16.426 Covid-19-Tests gab.
In den Krankenhäusern, vor allem in Nordgriechenland, fehlt es an Ausstattung und Verbrauchsmaterial. So ist zum Beispiel in Kilkis die komplette Sauerstoffversorgung der Krankenzimmer zusammengebrochen. Nun werden einzelne Gasflaschen neben die Patienten gestellt. Intensivstationen sind in Kilkis überhaupt nicht vorhanden.
Der Premier als Vorbild?
Ebenso im Ermessen der Beamten liegt, ob er eine Begründung für das Aufsuchen eines weiter von der eigenen Wohnung entfernten Supermarkts akzeptiert. Allein mit der Begründung billigerer Preise brauchen sich die Beamten nicht zufrieden zu geben. Die Regierung betont immer wieder, dass es von der peniblen Durchführung der Maßnahmen abhängt, die Pandemie einzuschränken. Regierungssprecher Stelios Petsas meinte am Montag, "das persönliche Verhalten kann uns im Zusammenhang mit dem Corona-Virus zum Triumph oder zur Niederlage führen".
Die persönliche Verantwortung, sie wird von der Regierung immer wieder als Grund für das zusammenbrechende Gesundheitssystem zitiert. Für die Regierenden selbst gilt sie offenbar nicht. So ließ sich ausgerechnet Premier Kyriakos Mitsotakis am Sonntag zusammen mit Passanten und Moto-Cross-Fahrern auf dem Parnitha-Gebirge ablichten. Weder der Premier, noch seine ihn begleitende Gattin und erst recht nicht die Passanten und Motorradfahrer trugen Masken. Abstände wurden nicht eingehalten.
Ein Video zeigt, dass die Gattin des Premiers sich kurz ein Motorrad auslieh, um damit durch den Nationalpark Parnitha zu düsen. Unüberhörbar ist, dass der Premier herzlich darüber lacht. Außer der Tatsache, dass der lustige Ausflug ins Grüne in Griechenland wegen der zahlreichen Covid-19-Toten und des desolaten Gesundheitssystems Verstörung hervorruft, übertraten der Premier und seine Gattin gleich mehrfach das Gesetz.
Als Regierender und Abgeordneter ist Mitsotakis trotz der Ausgangsbeschränkungen legitimiert, sich im Rahmen der Ausübung seiner amtlichen Pflichten frei im Land zu bewegen. Eine Fahrradtour im Nationalpark gehört offensichtlich nicht zu den Amtspflichten des Premiers. Körperliche Ertüchtigung ist per Regierungserlass nur in der unmittelbaren Umgebung der Wohnung gestattet. Anfragen bei der Polizei ergeben, dass bis zu zwei Häuserblocks Entfernung als "unmittelbare Umgebung" gewertet wird.
Marava Grabowski, die Gattin von Mitsotakis, hat keinerlei amtliche Funktion. Der Naturschutzpark befindet sich rund 42 Kilometer vom Athener Zentrum entfernt. Zudem hatten weder der Premier noch seine Ehefrau Masken auf. Ein Oxymoron, wenn bedacht wird, dass Mitsotakis bei Videokonferenzen demonstrativ Maske trägt.
Moto-Cross-Fahrten, zumal mit für den Straßenverkehr nicht zugelassenen Maschinen, sind in Griechenland nur auf speziellen Pisten zulässig. Der Nationalpark Parnitha, in dem jegliche Fahrten mit motorisierten Fahrzeugen illegal sind, gehört nicht dazu. Petsas kommentierte den öffentlichen Aufschrei über die illegale Tour des Regierungschefs mit den Worten, man solle den Premier nicht "wegen seiner Menschlichkeit verurteilen". Wahrheitswidrig fügte Petsas hinzu, dass jeder Bürger des Landes zum Cross-Fahren in den Naturpark fahren könne. Sein Statement blieb in den staatlichen und regierungsnahen Medien unwidersprochen.
Epidemiologische Gefahren werden von der Regierung selektiv wahrgenommen. So meinte Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis angesichts hoher Infektionszahlen unter Polizisten, dass sich die Beamten wohl nicht im Dienst angesteckt hätten. Denn da wären sie im Freien, wo das Virus laut Chrysochoidis nicht infektiös ist. Bilder von Einsatzpolizisten, die dicht nebeneinanderstehend in Gruppen während des 17. November das Versammlungsverbot überwachten, kursieren in der gesamten griechischen Presse. Zudem wurden die öffentlichen Versammlungen im Freien eben wegen der Infektionsgefahr von Chrysochoidis Polizeichef verboten. Rund 800 Polizisten sind bislang positiv getestet worden.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Thessaloniki ist der Hotspot der Fallzahlen, Todesfälle und überfüllten Krankenhäuser. In Griechenlands zweitgrößter Stadt fand am 26. Oktober das Fest zu Ehren des Stadtpatrons, des Heiligen Dimitrios, statt. In Nordgriechenland, rund um Thessaloniki, starben bis Sonntag 946 Personen. Im Großraum Attika, in dem fast doppelt so viele Einwohner leben, waren es 507.
Die Regierung zeigt sich im Nachhinein von der Heftigkeit des Ausbruchs überrascht. Allerdings melden sich nun Kommunalpolitiker zu Wort. Ihren Angaben gemäß wurde bereits Tage vor dem 26. Oktober von der Lokalpolitik ein Lockdown gefordert. Schon am 22. Oktober hatten die Kommunalpolitiker ihr Anliegen erfolglos an die Regierung herangetragen. Der für den Katastrophenschutz zuständige parlamentarische Staatssekretär Nikos Chardalias, von Mitsotakis zum Chefkoordinator für die Pandemiemaßnahmen ernannt, schenkte den Parteifreunden aus Reihen der Kommunalpolitik kein Gehör.
Auch in Thessaloniki fiel Mitsotakis offensichtlicher Realitätsverlust auf. Bei einer Ortsinspektion im Ippokratio-Krankenhaus wurde er am Samstag informiert, dass sämtliche Intensivstationen belegt seien. Der Premier warf ein, dass doch 30 neue Betten geschaffen würden und gab selbst den Termin für die Fertigstellung, Ende Februar 2021, bekannt. Die Betten werden mit einer Spende der Stavros Niarchos Stiftung finanziert. Die Stiftung hatte ihre zweckgebundene Spende bereits im Frühsommer getätigt. Fakt ist, dass die Betten jetzt fehlen und dass der Staat den Sommer tatenlos verstreichen ließ.
Kaum vom Ippokrateio-Krankenhaus weg, eilte Mitsotakis in einen bekannten Teigwaren-Laden einer nordgriechischen Ladenkette, um, von Kameras begleitet, lachend Tsoureki zu kaufen. Szenen, die im griechischen TV übertragen wurden, während an der Kritik der fehlenden Intensivbetten gespart wird.
Die Regierung versucht immer noch, mit einer Scheinrealität Planungsfehler zu überdecken. So präsentierte Gesundheitsminister Vassilis Kikilias vor wenigen Tagen einen detaillierten Impfungsplan für Covid-19, obwohl noch nicht bekannt ist, welcher Impfstoff tatsächlich zum Zuge kommt. Kikilias stellte rund 1000 Impfzentren vor. Mindestens eines davon existiert nicht (mehr). Die Poliklinik von Mouzaki in Karditsa wurde Anfang September bei den Überschwemmungen wegen des Unwetters "Ianos" von der Flut weggespült.
Der Staat versagt nicht nur in der Covid-19-Pandemie und hat längst den Überblick über die Katastrophen verloren. Eigentümer von durch die Flut im August zerstörten Häusern rund um den Lilantas haben keine der vor Kameras großzügig versprochenen Hilfsgelder erhalten. Sie bekommen aber aktuell Druck von Seiten einiger Inkassounternehmen. Für ihre zerstörten Häuser haben sie keine Stromrechnungen bezahlt. In diesen Rechnungen sind Kommunalabgaben enthalten. Falls sie diese nicht umgehend begleichen, so erfahren die Geschädigten, würde ihnen umgehend der Strom abgestellt.
Die Frage nach den Schuldigen
Seit der Öffnung des Landes für den Tourismus im Sommer gab es in Griechenland Stimmen, die im Zusammenhang mit dem Tourismus vor einer zweiten Welle der Pandemie warnten. Mitsotakis selbst hatte im Parlament zugegeben, dass das Land zahlreiche Touristen verloren hätte, wenn am ursprünglichen Plan, nur nachweislich negativ getestete Touristen ins Land zu lassen, festgehalten worden wäre. Aus dem gleichen Grund wurde die zunächst geplante Selbstisolation der Eingereisten für 72 Stunden nicht umgesetzt.
Trotzdem hielt die Regierung bislang am Narrativ fest, dass der Tourismus keineswegs zur Ausbreitung der Pandemie beigetragen habe. Anfang November sprach Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis zaghaft von einer Fehleinschätzung. Er fügte jedoch hinzu, dass die Regierung den Virologen vertraut habe, und somit selbst kaum Schuld am Desaster habe.
Nun sprechen erste Politiker der Regierungspartei Klartext. Selbstkritisch bemerkte der frühere parlamentarische Staatssekretär im Gesundheitsministerium und aktuelle Parlamentarier Dimitris Vartzopoulos: "Es ist offensichtlich, dass die Öffnung [für den Tourismus] ein Fehler war. Wir haben 100 Tote pro Tag. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass wir nicht in dem Maße öffnen durften, in dem wir es taten. Alternativ hätten wir, da wir im Sommer wegen des Tourismus geöffnet hatten, viel früher in den Lockdown gehen müssen. Was diskutieren wir darüber? Das ist selbstverständlich." Fehler der Politik sieht Vartzopoulos auch in der unzureichenden und zu späten Planung für die zweite Pandemiewelle.
Nahezu beiläufig erfuhren die Griechen im Rahmen von Rettungsflügen für Covid-19-Patienten aus Nordgriechenland, dass während des Sommers mehr als 50 Flüge Touristen von den Inseln in Hospitäler mit Intensivstationen auf dem Festland brachten. Die Meldung kam über den Staatssender ERT. Dabei fiel den Redakteuren offenbar nicht auf, dass die griechischen Urlaubsinseln den Sommer über als Covid-19-frei beworben wurden. Bei den täglichen Meldungen der Infektionszahlen gab es für die Inseln bis in den Spätsommer kaum Infektionen, und erst Recht keine Berichte über Intensivpatienten.
Reportagen und Berichte, dass damals die Infektionszahlen der Inseln systematisch verschleiert würden, hatte die Regierung als "Fake News" dementiert. Mit dem gleichen Begriff reagierte nun der staatliche Gesundheitsdienst EODY auf eine Affäre, derer sich die Staatsanwaltschaft angenommen hat. Der am Sonntag in den Printausgaben der Zeitungen To Vima und Dimokratia geäußerte Vorwurf gegen den EODY klingt ungeheuerlich. Es heißt, dass der Gesundheitsdienst bei den Fall- und Todeszahlen ein System der doppelten Buchführung hätte, und somit sowohl die Regierungskommission der Virologen, als auch den Premierminister im Unklaren über den wahren Verlauf der Pandemie lasse.
Für den EODY sind die Berichte eine "Ausgeburt einer kranken Fantasie". Professor Alkiviadis Vatopoulos, selbst Mitglied der Regierungskommission, bestätigt jedoch, dass die an die Kommission gemeldeten Datensätze mangelhaft und stark verbesserungswürdig seien. Vatoupoulos erklärte aber auch, dass die getroffenen Maßnahmen nicht nur von den Wissenschaftlern, sondern maßgeblich von den Politikern getroffen würden. Seine Kollegin, die Virologieprofessorin Athina Linou, dementierte zwar den Begriff "doppelte Buchführung", bemängelte jedoch eine "nicht einheitliche Datenlage". Sie bekräftigte, dass sie die Zeitungsberichte nicht überraschen würden. Linou selbst forderte auch das Eingreifen der Staatsanwaltschaft.
Oppositionelle Kommentatoren wie die Medizinjournalistin Dani Vergou sehen im Streit über die Daten einen "Bürgerkrieg" in den Reihen der Regierung. Vergou meint, es gehe nun darum, ein Bauernopfer für das Versagen der Regierung in der Pandemie zu finden.