"Großer Wendepunkt für Europa"
Christine Lagarde will den Corona-Finanzausgleich als Dauereinrichtung für die EU "diskutieren" lassen
Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) hat der französischen Zeitung Le Monde ein Interview gegeben. Darin warnt die ehemalige französische Finanzministerin, die 2016 wegen fahrlässigen Umgangs mit öffentlichen Geldern verurteilt wurde (vgl. Empörendes Urteil gegen IWF-Chefin), davor, dass die wirtschaftliche "Erholung" nach dem Corona-Einbruch im Frühjahr mit den erneuten Restriktionen im Herbst "Gefahr läuft, an Schwung zu verlieren". Deshalb werde sie nun "die Indikatoren genau beobachten".
Ziel: Mehr Inflation
Der "Werkzeugkasten" der EZB ist ihren Worten nach noch nicht leer, weshalb sie weitere Maßnahmen ergreifen könne und werde, wenn sie das für sinnvoll hält. Ob sie damit einen weiteren Ausbau ihres im im März lancierten und im Sommer von 750 Milliarden Euro auf 1.350 Milliarden Euro aufgestockten Pandemic Emergency Purchase Programms (PEPP) meint, mit dem die Zentralbanken Staatsanleihen und private Schulden aufkaufen, lässt die Französin offen. Sie wertet das Programm aber selbst als Erfolg.
Nach der "Stabilisierung der Märkte" müsse es jetzt nur noch für Inflation sorgen. Das geschehe in einem "Tandem" mit den "Targeted Longer-Term Refinancing Operations" (TLTROs). Damit können sich private Banken nicht nur zum Nullzins Zentralbankgeld leihen - sie bekommen sogar noch eine "Prämie" in Höhe von bis zu 0,4 Prozent, wenn sie ihr eigenes Kreditvergabevolumen steigern.
Ein- bis eineinhalb Billionen Euro
Die ein- bis eineinhalb Billionen Euro, die Lagarde bei einem Treffen der Eurogruppe im April als "substanzielle, schnelle und flexible" Staatliche Geldspritze forderte, hält sie für erreicht, wenn sie die 540 Milliarden Euro des ersten Eurogruppen-"Notfallpakets" mit einer Aufstockung des in der Eurokrise eingerichteten "Europäischen Stabilitätsmechanismus" (ESM) und die 750 Milliarden Euro aus dem am 21. Juli von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer genehmigten "Wiederaufbaufonds" addiert (vgl. Von der Leyen legt Plan für EU-Länderfinanzausgleich vor).
Dieser EU-Mitgliedsländerfinanzausgleich mit einem Volumen von etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts der 27 Staaten ist ihren Worten nach eine "historische Gelegenheit" und ein "großer Wendepunkt für Europa", der "die Dinge komplett verändert hat". Mit ihm habe man jetzt ein "zusätzliches Werkzeug", auch wenn das "so etwas wie eine Ausnahme" sei. Nun müsse man "diskutieren, dass es im europäischen Instrumentenkasten verbleibt" - ähnlich wie der ESM. Auch bis zu dessen Einrichtung habe es gedauert. Viele Regierungen bräuchten halt Zeit, bis sie anerkennen, dass eine "kollektive Antwort" die "richtige Antwort" sei.
Schock-Strategie
Das Geld für den Wiederaufbaufonds soll vor allem über gemeinsam aufgenommene Staatsschulden zusammenkommen, die zwischen 2027 bis 2058 aus dem EU-Haushalt beglichen werden. Zu diesem EU-Haushalt tragen die deutschen Steuerzahler den größten Nettoanteil bei. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel rechtfertigte das gegenüber den Abgeordneten von CDU und CSU einem Bericht der Tageszeitung Die Welt nach "auch geopolitisch", indem sie verlautbarte, durch die Coronakrise würden "die Karten auf der Welt neu gemischt" und es sei "im nationalen Interesse" Deutschlands, dass es neben China und den USA eine "starke" EU gebe. Vor acht Jahren hatte sie ihren Wählern noch versprochen, es werde keine Eurobonds gebe, "solange ich lebe".
Während der Coronakrise scheinen diese Eurobonds leichter durchsetzbar gewesen zu sein, als zu einer Zeit, in der EU-Gemeinschaftsschulden ein eigenständiges Thema wären. Naomi Klein erklärte bereits 2007 in ihrem Buch Die Schock-Strategie, wie Politiker und Ökonomen Krisensituationen nutzen, um Projekte zu verwirklichen, die in der Bevölkerung sonst möglicherweise keine Mehrheit hätten (vgl. Von Sportpalastreden, gekaperten Begriffen und gesellschaftlichen Buffer Overflows). Die Beispiele, die sie dazu aufführt, sind vor allem Privatisierungen und Deregulierungen, die Politik und Medien in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dominierten. Aber der zugrundeliegende Mechanismus lässt sich auch für andere Projekte einsetzen (vgl. Juncker und Schulz nutzen Naomi-Klein-Strategie).
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