Ground Zero der Menschheit
Seite 3: Die Stadt des Imperiums und die Stadt der Slums – Teil 2
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- Das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit wird in Städten stattfinden, zum allergrößten Teil in armen Städten und dort hauptsächlich in Slums
- Die Stadt des Imperiums und die Stadt der Slums – Teil 2
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Mir scheint, die Bush-Administration hat es in Bagdad fertiggebracht, eine unheimliche Version der urbanen Welt zu schaffen, die Du in Planet der Slums beschreibst. Im Zentrum der Stadt gibt es die ummauerte imperiale Grüne Zone mit ihren Starbucksfilialen und jenseits davon die zerfallende Hauptstadt und der riesige Slum Sadr City – und der einzige Austausch, den es zwischen den beiden Städten gibt, sind die Kampfhubschrauber, die in die eine Richtung fliegen, und die in die andere Richtung fahrenden Autobomben.
Mike Davis: Genau. Bagdad wird zum Paradigma: Der öffentliche Raum bricht zusammen, und das Mittelfeld zwischen den Extremen schwindet dahin. Die sunnitisch-schiitisch gemischten Viertel werden nicht mehr nur durch amerikanische Aktionen, sondern durch konfessionellen sektiererischen Terror rapide ausgelöscht. Sadr City, es hieß mal Saddam City, der östliche Quadrant von Bagdad, hat groteske Ausmaße erreicht – zwei Millionen Arme, meist Schiiten. Und es wächst immer noch weiter, wie übrigens auch die sunnitischen Slums. Nun mehr nicht wegen Saddam, sondern aufgrund der verheerenden amerikanischen Politik, die so gut wie kein Geld in den Wiederaufbau der Landwirtschaft gesteckt hat. Viele Felder sind wieder zu Wüste geworden, während alle Mittel – wenn auch erfolglos – auf die Wiederherstellung der Ölindustrie konzentriert wurden. (...)
Natürlich sind Green Zones so was wie Gated Communities, die Zitadelle innerhalb der Festung. Auch sie entstehen überall in der Welt. In meinem Buch konterkariere ich diese Tendenz mit dem Wachstum der Slums an der Peripherie – die Mittelklasse lässt ihre traditionelle Kultur und zugleich die Innenstadt im Stich, um sich in Gegenwelten zurückzuziehen, die kalifornische Lifestyles nachahmen. Manche sind auf äußerste Sicherheit ausgelegt, wirkliche Festungen. Andere sind eher typisch amerikanische Vororte, aber allesamt drehen sie sich um die fixe Idee eines Phantasie-Amerika, und speziell Phantasie-Kalifornien, wie es allseits durchs Fernsehen verbreitet wird.
Entsprechend kann der Neureiche in Peking auf dem Highway zu umzäunten Gebieten, die Orange County oder Beverly Hills heißen, pendeln. In Kairo gibt es auch ein Beverly Hills und ein ganzes, von Walt-Disney inspiriertes Viertel. In Jakarta finden sich ebenso Gebiete, wo Menschen in einem imaginären Amerika leben. Ihre Ausbreitung unterstreicht, wie bindungslos die neue städtische Mittelklasse auf der ganzen Welt ist. Damit einher geht die Besessenheit, alles so zu bekommen, wie es im Fernsehen gezeigt wird. Es sind echte Orange County-Architekten, die das „Orange County“ bei Peking entwerfen. Alles ist unglaublich wiedergabegetreu gegenüber dem, was die globale Mittelklasse im TV oder Filmen sieht.
Um auf das andere urbane Projekt von Bush zu kommen – etwas ähnliches scheint in New Orleans zu passieren, oder?
Mike Davis: Absolut. Leider will die Mehrheit der weißen Upperclass in New Orleans lieber in einer völlig unechten Themenpark-Version des historischen New Orleans leben als sich der wirklichen Aufgabe zu stellen, die Stadt wieder aufzubauen bzw. mit einer afroamerikanischen Mehrheit zu leben. Was sich die Leute unter Authentizität vorstellen, hat längst jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren. In Ökologie der Angst habe ich gezeigt, wie die Universal Studios Ikonen von Los Angeles extrahiert, miniaturisiert und in einen eingefriedeten, sicheren Ort, der sich City Walk nennt, gepackt haben. Und dahin zu gehen, ersetzt – wie in Las Vegas – einen wirklichen Besuch der Stadt. Man besucht den Freizeitpark der Stadt, der eigentlich ein Einkaufszentrum ist. Mit einem Casino hätte man das komplette Erlebnis. Durch diese Entwicklung werden die Armen zunehmend vom Zugang zu Kultur und dem öffentlichen Raum abgeschnitten, während die Wohlhabenden freiwillig darauf verzichten und sich in einen künstlichen allgemeinen Raum zurückziehen, der sich von Land zu Land wenig unterscheidet. Das Dazwischen zerfällt.
Aber es gibt große Unterschiede zwischen den Kulturzonen und Kontinenten. Was in Lateinamerika am erschreckendsten ist, ist das Ausmaß der laufenden politischen Polarisierung, die Vehemenz des Widerstands der Mittelklasse gegen die Forderungen der Armen. Chávez braucht Ärzte aus Kuba, weil nur eine Handvoll venezolanischer Ärzte in den Slums arbeitet. Im Nahen Osten ist es ganz anders. In Kairo zum Beispiel, wo der Staat sich zurückgezogen hat oder zu korrupt ist, um grundlegende Dienstleistungen zu erbringen, wird der Bedarf durch islamische Fachkräfte gedeckt. Die Muslimbrüderschaft hat den Ärzteverband übernommen und den der Ingenieure. Im Gegensatz zur lateinamerikanischen Mittelklasse, die sich nur rührt, um ihre Privilegien zu erhalten, organisiert sie Dienstleistungen und eine zivile Parallelgesellschaft für die Armen. Sicher auch, weil der Koran Wohltätigkeit verlangt, aber das macht einen erheblichen Unterschied aus und hat wichtige Auswirkungen auf das Leben der Stadt.
Ich möchte einen kleinen Abstecher machen. Vor Planet der Slums hast du Vogelgrippe geschrieben und während unseres Gesprächs ist mir klar geworden, dass es thematisch mit Planet der Slums verbunden ist, weil es auch von einer Art globalen Verslumung handelt – der der Landwirtschaft.
Mike Davis: Eine Dickenssche Welt viktorianischer Armut wird neu erschaffen, aber in einem Ausmaß, das die Zeitgenossen von Königin Viktoria entsetzt hätte. Daher fragt man sich natürlich, ob auch die Angst der viktorianischen Mittelklassen vor den Krankheiten der Armen zurückkehrt. Ihre erste Reaktion auf Seuchen war es, nach Hampstead zu ziehen, aus der Stadt zu flüchten, um die Armen loszuwerden. Erst als es offensichtlich war, dass die Cholera trotzdem von den Slums auf die Mittelklasse-Wohngebiete übergriff, wurde in die nötigsten sanitären Einrichtungen und die öffentliche Gesundheitsfürsorge investiert.
Wie im 19. Jahrhundert gibt es heute die Illusion, wir könnten irgendwie auf Distanz gehen oder uns einmauern oder die Flucht ergreifen vor den Krankheiten der Armen. Ich glaube nicht, dass die meisten von uns sich der riesigen, buchstäblich explosiven Konzentrationen möglicher Krankheiten bewusst sind. Vor mehr als 20 Jahren warnten die führenden Experten für Infektionskrankheiten in einer Reihe von Büchern vor neuen und neu aufflammenden Krankheiten. Sie sahen, dass Globalisierung weltweite ökologische Instabilität verursacht und diese Veränderung vermutlich die Balance zwischen Menschen und ihren Mikroben so verändert, dass neue Seuchen auftauchen können. Sie warnten zudem, dass Krankheiten nicht so beobachtet würden und die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht so aufgebaut würde, wie es angesichts der Globalisierung nötig wäre.
In meinem Buch untersuche ich einerseits das Verhältnis zwischen dem wachsenden globalen Slum, der überall sanitäre Katastrophen bedingt und alle klassischen Voraussetzungen für eine rasante Ausbreitung von Krankheiten schaffte, und zum anderen arbeite ich heraus, wie die veränderte Viehwirtschaft völlig neue Rahmenbedingungen für das Auftreten von Tierkrankheiten und ihre Übertragung auf Menschen schafft. Grippe ist ein wichtiger Indikator für Infektionskrankheiten. (...) Das ist eine extreme ökologische Schieflage, sie hat die Ökologie der Grippe und die Umstände verändert, unter denen Krankheiten vom Tier auf den Menschen überspringen können. Im selben Zeitraum hat sich auch die Gesundheitsfürsorge in der städtischen Dritten Welt verschlechtert. Aufgrund der Strukturanpassungsmaßnahmen der 1980er Jahre waren Hunderttausende Ärzte, Krankenschwestern und Gesundheitsarbeiter gezwungen auszuwandern, sie verließen Kenia oder die Philippinen, um in England oder Italien zu arbeiten. Das ist die Rezeptur für ein biologisches Desaster, und die Vogelgrippe ist bereits die zweite Pandemie der Globalisierung. (...)
… und der Verslumung.
Mike Davis: Ja, Krankheit in einer Welt der Slums. So etwas wie das Überspringen der Vogelgrippe auf Menschen ist beinahe unvermeidlich angesichts der Kombination des globalen Slums und weit reichender Verschiebungen in der Ökologie von Mensch und Tier. Noch beunruhigender als die reine Bedrohung durch Krankheiten wie die Vogelgrippe ist jedoch die Reaktion darauf – eine umgehende Hortung von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten in einer Handvoll reicher Länder, die zudem ein Monopol auf die Herstellung dieser lebenswichtigen Medikamente haben. Mit anderen Worten, das ist die fast reflexartige gedankenlose Preisgabe der Armen. Wenn die Vogelgrippe nicht in diesem, sondern in fünf Jahren ausbrechen sollte, wird der Unterschied der sein, dass der Schutz in den USA, Deutschland oder England verbessert wurde. Die Armen werden auf dem selben Stand wie heute sein, gerade Afrikaner, für die am meisten auf dem Spiel steht, da HIV eine Bevölkerung so zurichtet, dass sie besonders anfällig für andere Infektionen wird.
Das ist ein mögliches Austauschverhältnis zwischen der Stadt des Imperiums und der Slum-Stadt. Das andere, tödliche Verhältnis ist ein gewalttätiges, unser Krieg gegen Terror, Drogen und sonst was. Wenn man an Vietnam und dann den Irak denkt, entspricht die Slum-Stadt in den Annalen des modernen Kriegs ziemlich genau dem Dschungel.
Mike Davis: Ohne die explosiven sozialen Widersprüche, die sich immer noch auf dem Land häufen, klein reden zu wollen – es ist klar, dass sich die Zukunft der Guerillakriegsführung und des Aufstands gegen das Weltsystem in Richtung Stadt bewegt. Niemand hat das so gut wie das Pentagon kapiert, bzw. energischer versucht, mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen zu Rande zu kommen. Seine Strategen verstehen viel besser als die Geopolitik und die traditionelle Außenpolitik die Bedeutung einer Welt der Slums ...
… und der globalen Erwärmung.
Mike Davis: Ja, weil sie die potenzielle Instabilität verstehen, die sie erzeugt, und sich vielleicht auch vorstellen, dass sie auf lange Sicht vorteilhaft auf das Gleichgewicht der Kräfte einwirkt. Die USA haben uns in den letzten Jahren ihre außergewöhnliche Fähigkeit demonstriert, die hierarchische Organisation einer modernen Stadt auszuschalten, lebenswichtige Infrastruktur und Knotenpunkte anzugreifen, Fernsehsender in die Luft zu jagen, Pipelines und Brücken zu zerstören; Smart Bombs können so etwas. Aber zugleich stellte das Pentagon fest, dass diese Technologie nicht gegen die Slum-Peripherie anwendbar ist, gegen die labyrinthischen, fast unbekannten und nicht kartografierten Teile einer Stadt, die keine Hierarchien hat, keine zentralisierte Infrastruktur, keine großen Gebäude.
Es gibt wirklich einiges an bemerkenswerter militärischer Literatur, die sich mit dem auseinandersetzt, was in den Augen des Pentagons das neuartigste Terrain dieses Jahrhunderts ist, und dessen Modelle sie nun in den Slums von Karachi, Port au Prince und Bagdad finden. Hauptsächlich ist das auf die Ereignisse 1983 in Mogadischu zurückzuführen, die die USA schockierten und zeigten, dass die herkömmlichen militärischen Straßenkampftaktiken in einer Slum-Stadt nicht funktionieren. (...) Wenn man Studien des Army War College liest, entdeckt man eine andere Geopolitik als die, der sich die Bush-Administration verschrieben hat. Die Kriegsplaner betonen keine Achsen des Bösen oder überbordende Verschwörungen, sie unterstreichen die Bedeutung des Terrains – die wuchernden Slums der Peripherie und die Chancen, die sie einem ganzen Konglomerat von Oppositionellen bieten – Drogenbaronen, al-Qaida, revolutionären Organisationen, religiösen Sekten –, dort Operationsbasen zu schaffen. Deshalb studieren Pentagontheoretiker Architektur und Stadtplanungstheorie. Sie nutzen geografische Informationssysteme und Satelliten, um Wissenslücken zu füllen, denn der Staat weiß in der Regel wenig über seine eigenen Slums an der Peripherie.
Die Frage nach dem Austausch von Gewalt zwischen der Stadt der Slums und der Stadt des Imperiums ist mit einer grundlegenderen Frage verbunden – der Frage nach den wirksamen Kräften. Wie wird diese sehr große Minderheit der Menschheit, die heute zwar in Städten lebt, aber von der formellen Weltwirtschaft ausgeschlossen ist, ihre Zukunft finden? Welche Möglichkeiten hat sie als historische Kraft? Die alte Arbeiterklasse – wie Marx im Kommunistischen Manifest schrieb – war aus zwei Gründen eine revolutionäre Klasse: Weil sie unter den gegebenen Umständen nichts zu verlieren hatte, aber auch weil sie durch den modernen industriellen Produktionsprozess zentralisiert wurde. Sie verfügte über das enorme Machtpotential des Streiks, einfach die Produktion lahm zu legen und die Fabriken zu übernehmen.
Heutzutage haben wir eine informelle Arbeiterklasse ohne strategische Position im Produktionsprozess und der Wirtschaft, die aber dennoch eine neue soziale Macht entdeckt hat – die Macht, die Stadt zu stören, in der Stadt zuzuschlagen – von der gewaltfreien Kreativität der Leute von El Alto, dem riesigen Slum von La Paz, wo die Einwohner regelmäßig die Straße zum Flughafen verbarrikadieren oder Transportwege abschneiden, um ihre Forderungen zu stellen, bis zum heute verbreiteten Einsatz von Autobomben durch nationalistische und konfessionelle Gruppen, die Mittelklasse-Wohngebiete, Bankenviertel und sogar Green Zones treffen.
Ich sage mal, was ich für die womöglich größte zerstörerische Macht halte – die Macht, globale Energieflüsse zu stören. Arme können das mit geringster Technologie entlang der vielen Tausend Kilometer ungesicherter Pipelines auf diesem Planeten bewerkstelligen.
Mike Davis: In der Hinsicht sind bereits Anhaltspunkte für eine beginnende Entwicklung zu erkennen. Allein im letzten Monat gab es einen versuchten Autobombenanschlag auf die größte Erdölverarbeitungsanlage Saudi-Arabiens und die erste Autobombe im Nigerdelta. Sie verletzte niemanden, aber der Einsatz wird höher.
Planet der Slums endet mit dieser Bemerkung: „Während das Imperium Orwellsche Repressionstechniken einsetzen kann, haben die von ihm Geächteten die Götter des Chaos auf ihrer Seite.“
Mike Davis: Und Chaos ist nicht immer eine Kraft zum Schlechten. Das schlimmste Szenario ist einfach eines, in dem die Menschen zum Schweigen gebracht werden. Ihr Exil wird ein permanentes. Die Triage der Menschheit findet unausgesprochen statt. Menschen werden genau so dem Sterben und Vergessen anheim gegeben, wie wir das AIDS-Massensterben vergessen und gegen Spendenaufrufe bei Hungernöten abstumpfen. Der Rest der Welt muss aufgeweckt werden. Die Armen der Slums experimentieren mit vielen ideologischen Varianten, in öffentlichen Foren, mit Unruhe stiftenden Maßnahmen – von nahezu apokalyptischen Angriffen auf die Moderne selbst bis zu avantgardistischen Versuchen neue Modernen zu erfinden, neue Arten sozialer Bewegungen. Aber es ist ein grundsätzliches Problem, wenn so viele Menschen um Jobs und Raum kämpfen. Der naheliegendste Weg, das zu regulieren, ist der Aufstieg von Paten, Stammeschefs und ethnischen Führern, die mit ethnischen oder religiösen Prinzipien oder rassistischer Ausgrenzung arbeiten. Darin steckt eine Tendenz zu sich selbst aufrechterhaltenden, beinahe endlosen Kriegszuständen zwischen den Armen selbst. Man findet also in ein und derselben armen Stadt eine Vielfalt widersprüchlicher Tendenzen – Leute, die den Heiligen Geist umarmen, die sich Straßengangs anschließen, die radikalen sozialistischen Organisationen beitreten, die zur Klientel konfessioneller oder populistischer Politiker werden. (...)
Das Interview mit Mike Davis erschien im Mai 2006 in Tom Dispatch. Übersetzung: Klaus Viehmann.
Das Buch Planet der Slums (248 Seiten, 20.00 €) ist eben auf Deutsch im Verlag Assoziation A erschienen. Dort wird auch demnächst die "Geschichte der Autobombe" von Mike Davies erscheinen.