Guerilla-Webcampaigning öffentlich-rechtlicher Art

Wenn Wahlprognosen auf Abwegen gehen

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Ob und wie Meinungsumfragen sich auf Wahlergebnisse auswirken können, ist seit langem umstritten. Dass Flaggschiff der ARD liefert einer alten politikwissenschaftlichen Diskussion neue Nahrung: Die Tagesschau Onlineredaktion hat in den letzten Tagen eine "18-Uhr-Prognose" für die Landtagswahlen im Saarland veröffentlicht. Dort wird am Sonntag gewählt - und die Kristallkugel scheint die CDU-Regierung im Amt zu bestätigen. Mit einer technischen Panne geht die ARD unfreiwillig in die Annalen des Guerilla-Webcampaigning ein.

Wahlkampfstrategen machen sich vor jeder Wahl große Gedanken um die grundlegenden Fragen der Kampagnenführung: Wie kann ich meinen Kandidaten mit seinen Botschaften meistbringend an das Wahlvolk verkaufen? Doch der Wähler ist nicht immer so brav, wie es der Stratege gerne hätte. Auch bei optimaler Kampagnenführung gibt es immer wieder Querschläger von außerhalb. "Guerilla Campaigning" ist das Schlagwort für einen neuen Typus von Onlinecampaigning. Anhänger und Gegner von Parteien bieten unabhängig von den Parteiwahlkämpfen Informationen oder gar gezielte Desinformationen und Argumente an. Doch was in den USA derzeit gezielt betrieben wird, hat die öffentlich-rechtliche Tagesschau nun unfreiwillig auch in der Bundesrepublik erprobt.

Die absolute Mehrheit wird die CDU bei der Landtagswahl am Sonntag im Saarland erringen - so die von der Tagesschau verbreitete 18-Uhr-Prognose für den Wahlsonntag, die mittlerweile entfernt wurde. Schon am Donnerstag vor der Wahl wurde dieses Ergebnis auf der Seite wahl.tagesschau.de platziert. Würde die Prognose zutreffen, dann heißt es für die Grünen "Welcome Back" auf den Plenarsesseln in Saarbrücken - und die FDP muss wieder mal draußen bleiben. Bemerkt wurde die fehlgeleitete "Prognose" von der Seite election.de.

Wahlprognosen kurz vor Wahlen sind dabei wissenschaftlich umstritten. Gängige Erklärungsmuster tragen die schönen Titel "Bandwagon-Effekt" oder "Wasted Vote". Der Wähler will demnach seine Stimme nicht verschwenden und orientiert sich an den Ergebnissen der Wahlforschung. Oder er äußert sich bei einer Befragung so, wie er den Wahlausgang selbst erwartet. Und auch Parteien und Politiker passen sich und ihren Wahlkampf den Prognosen an. In Österreich wurde 2001 eine parlamentarische Enquetekommission mit der Erforschung des Phänomens beauftragt. Fazit der Kommission: Ob die Vorwahlbefragungen einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben, hängt maßgeblich von der gewählten Befragungsmethode ab. Bewiesen ist nichts, widerlegt jedoch ebensowenig.

Die 18-Uhr-Prognose ist klassischerweise eine Nachwahlbefragung. Die aus dem Wahllokal kommenden Wähler werden hierbei befragt, wo sie ihr Kreuzchen gemacht haben. Ist die öffentlich-rechtliche ARD also Teil einer riesigen Wahlfälschungsmaschinerie?

Definitiv nicht: Auf Anfrage von Telepolis stellte sich heraus, dass eine technische Panne zu der Anzeige geführt hat. Statt der Zahlen von Infratest Dimap beinhaltete die Flashanimation reine Fantasiezahlen, die für einen Testlauf gedacht waren. Die "frei erfundenen, in keinster Weise an reale Verhältnisse angepassten Zahlen" hätten der Saar-CDU um Ministerpräsident Peter Müller sicher gut gefallen. Ob die SPD an der Saar aufgrund des vernichtenden "Ergebnis" ihren Wahlkampf umgehend eingestellt hat, ist bislang nicht bekannt. Die Tagesschau-Onlineredaktion hat den Fehler zwischenzeitlich korrigiert und entschuldigt sich bei den Lesern für Irritationen.