"Gut gemeinte Absicht, die ihre selbstkritische Kontrolle verliert"
Der Sozialwissenschaftler Hartmut Krauss über Political Correctness, postmodernen Feminismus und die die Errichtung wahrheitswidriger Tabuzonen. Teil 1
Der Siegeszug der "Political Correctness" beginnt am amerikanischen Campus der Achtziger Jahre und setzte sich in den 90ern über linke Zeitschriften und das bürgerliche Feuilleton sowie in nicht wenigen Teilen des universitären Betriebs in Deutschland fort. Seit einiger Zeit bereits ist der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, wo er mittlerweile Ziel für wütende Angriffe konservativer und rechter Kritiker der spätbürgerlichen Gesellschaft geworden ist. Ähnliches lässt sich auch über den Werdegang des postmodernen Feminismus berichten. Jedoch kann man beides nicht nur von rechts, sondern auch von links kritisieren. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Hartmut Krauss.
Herr Krauss, in letzter Zeit häuft sich die Kritik an der "Political Correctness" und dem postmodernen Feminismus. Halten Sie diese Kritik für berechtigt und ab welchem Punkt stimmen Sie mit den Kritikern nicht mehr überein? Was sind Ihre eigenen wesentlichen Kritikpunkte daran?
Hartmut Krauss: Der in den Medien und der Öffentlichkeit wabernde Streit um das Phänomen der "Political Correctness" (PC) bedarf zunächst einmal einer genaueren Einordnung aus kritisch-gesellschaftstheoretischer Perspektive. Dabei ist als erstes Folgendes hervorzuheben: Die sich geschichtlich entwickelnden Systeme zwischenmenschlicher Herrschaft sind bekanntlich nicht nur durch ungleich verteilte wirtschaftliche und politische Handlungsmacht einschließlich der entsprechenden Ressourcen (Eigentum/Geld, Privilegien, soziales Kapital) gekennzeichnet, sondern darüber hinaus ganz wesentlich durch die Aneignung und Ausübung von ideologischer und geistig-kultureller Herrschaft.
Im Näheren ist diese ideologische Herrschaftsausübung dadurch gekennzeichnet, dass sich bestimmte Teilgruppen der Herrschenden die realitätsbezogene Deutungs-, Interpretations- und Definitionsmacht inklusive Informations- und Wissenskontrolle unter den Nagel reißen und vermittels besonderer Einrichtungen (religiöse Institutionen, Bildungs- und Erziehungswesen, Medien, Parteien et cetera) die herrschaftskonforme Sozialisation der bevormundeten Gesellschaftsmitglieder organisieren. Es kommt folglich zur Transformation der Ideen der Herrschenden in die herrschenden Ideen.
Kommt hier das Hegemonie-Konzept von Gramsci zum Tragen?
Hartmut Krauss: Richtig. In Anlehnung an Antonio Gramsci lässt sich sagen, dass zwischenmenschliche Herrschaft nicht ausschließlich aus "Zwang" (Gewaltandrohung und -anwendung) besteht, sondern immer auch - in jeweils unterschiedlicher Anteilsgröße - aus Hegemonie im Sinne der weitreichenden Möglichkeit, das Denken und Fühlen der beherrschten Gesellschaftsmitglieder in herrschaftskonforme Bahnen zu lenken. Im Resultat entsteht somit eine relativ stabile geistig-moralische Führung der Beherrschten durch die Herrschenden. Erodiert diese Hegemonie infolge aufbrechender Krisen und Systemwidersprüche, so gerät dieser von oben erzeugte Konsens unter Druck und die ideologische Disziplinierung der Beherrschten wird brüchig.
Wie gestaltet sich konkret dieser von oben erzeugte Konsens in den öffentlichen Diskursen?
Hartmut Krauss: Ein wesentlicher Teilbereich der ideologischen Herrschaftsausübung ist die Begriffshoheit und damit die Regelung der öffentlichen Sprache in Verbindung mit der Vergabe von Teilnahmerechten und Zugangschancen in Bezug auf den öffentlichen Diskurs. Wer sich diesen zuteilenden Diskursregeln nicht unterwirft, bestimmte herrschaftskonforme Signalbegriffe im Sinne von sprachlichen Demutsgesten nicht verwendet, grundsätzliche Kritik am Systemganzen erkennen lässt, Gegen-Begriffe einführt et cetera, bleibt vom herrschaftlich kontrollierten Diskurs ausgeschlossen und wird - gemäß der jeweiligen konkreten Herrschaftsformen - als "Ketzer", "Ungläubiger", "Kommunist", "vaterlandsloser Geselle", "Klassenfeind", "Volksschädling", "Rassist" et cetera verpönt und stigmatisiert.
Das Anheften von Etiketten ohne rational überzeugende Begründung ist untrennbarer Bestandteil von Diskursherrschaft - auch in nichttotalitären Herrschaftssystemen wie dem postdemokratischen Kapitalismus. "Politische Korrektheit" im Allgemeinen ist demnach sprachlich domestizierte und öffentlich ausgedrückte Herrschaftskonformität via Diskursanpassung.
"Argumentation wird durch entpolitisierende Einlullung ersetzt"
Die "Political Correctness" wie auch die Leitmotive der bürgerlichen Gesellschaft sind aber auf den ersten Blick alles andere als Repressionselemente. Wie kommt es, dass die bürgerliche Gesellschaft gegen ihre eigenen Ziele und Prämissen zusehends immun wird und sie sogar ins Gegenteil verkehrt?
Hartmut Krauss: Mit dem Übergang von der vormodernen (Feudal-)Gesellschaft zu modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sind zwar menschheitsgeschichtlich herausragende Leitideen (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) und institutionalisierbare Konzepte wie die Idee der Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Trennung von Staat und Religion, die Zurückdrängung der (christlichen) Religion auf ein Teilsystem, die Demokratie et cetera entstanden. Diese Leitideen sind aber aufgrund ihrer Abstraktheit gegenüber den realen Ungleichheitsverhältnissen zwischen den entfeudalisierten, säkularisierten und asymmetrisch pluralisierten Gesellschaftsmitgliedern nur sehr unvollständig und zum Teil gar nicht eingelöst worden. Das genau ist - neben der Aufdeckung der widersprüchlichen Anatomie der kapitalistischen Vergesellschaftungsform - der eigentliche Kern des ursprünglichen wissenschaftlichen Sozialismus: Wie lässt sich im Interesse der allgemeinmenschlichen Aufklärungsideale die kapitalistische Selbstnegation der kulturellen Moderne theoretisch begreifen und praktisch-kritisch überwinden?
Die bürgerliche Demokratie im Allgemeinen wie die heutige postdemokratische Herrschaftsform im Besonderen ist jedenfalls strukturell dadurch gekennzeichnet, dass weder das Prinzip der "chancengleichen Fairness" (Rawls) noch das voraussetzungsvolle Prinzip des "herrschaftsfreien Diskurses" (Habermas) auch nur annähernd zur Anwendung gelangt. Sieht man einmal von der absolut unübersichtlichen Informations- und Kommunikationsanarchie des Internets ab, so ist die spätkapitalistische Öffentlichkeit der wachsenden Verflechtung von ökonomischer und ideologischer Herrschaft in Gestalt global wirksamer Medienkonzerne und einer ausufernden Infotainment-Industrie unterworfen, die Argumentation und rationalen Diskurs durch säuselnde Überredung, entpolitisierende Einlullung und demoskopische Meinungsvermarktung ersetzt.
"Während Bilderkünstler die Wortschöpfer verdrängen, empfinden sich gebildete Leser und nachdenkliche Bürger zunehmend als aussterbende Gattung." (Benjamin Barber)1. Der aufklärte und mündige Citoyen wird stillgelegt und in unserer postdemokratisch gelenkten Mediengesellschaft zunehmend durch den Claquer in verworrenen Talkshows ersetzt.
Wie kommt jetzt die "Political Correctness" ins Spiel?
Hartmut Krauss: Das zunächst in den USA in Anschlag gebrachte Konzept der PC im Besonderen hatte ursprünglich und vordergründig das zunächst durchaus progressive Ziel, negative (pauschal herabsetzende, entwürdigende und beleidigende) Redeweisen gegenüber Minderheiten, nichtweißen Amerikanern (Rassismus) und Frauen (Sexismus) zu kritisieren und aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen. Doch jede gut gemeinte Absicht, die ihre selbstkritische Kontrolle verliert, zum Dogma erhoben wird und nach der Logik der einfachen Negation verfährt, kann überdreht werden und in ihr Gegenteil umschlagen. Auf diese Weise kann auch der berechtigte Kampf gegen Diskriminierung relativ leicht in eigentätige Diskriminierung umschlagen.
"Männer werden als potentielle Rudelvergewaltiger naturalisiert"
Können sie diese Punkte näher benennen?
Hartmut Krauss:
- Die Haltung, dass Minderheiten gegenüber Diskriminierung, das heißt falschen und herabsetzenden Eigenschaftszuschreibungen, geschützt werden sollen, verführt vielfach dazu, diese Minderheiten im Sinne eines positiven Vorurteils generell gegenüber jeglicher, auch rational begründbarer und gerechtfertigter (legitimer) Kritik zu immunisieren und pauschal unter Denkmalschutz zu stellen. Das ist eine Position, die ich vom Standpunkt eines wahrheitsorientierten wissenschaftlichen Aufklärungsdenkens als "scientifically incorrect" bezeichnen würde.
- Verdrängt wird somit der Tatbestand, dass es nicht zwangsläufig ein positives Eigenschaftsmerkmal beziehungsweise eine Verkörperung des ontologisch "Guten" ist, wenn man ein Angehöriger einer wie auch immer zusammengesetzten Minderheit ist.
- Indem nicht mehr zwischen Diskriminierung und begründeter Kritik unterschieden wird, schlägt die PC in ihr Gegenteil um: Sie verkommt selbst zu einer Diskriminierungsideologie, wenn zum Beispiel jede Form von Kritik an Migranten als rassistisch denunziert oder aber jeder Mann aus radikalfeministischer Sicht systematisch berlusconisiert oder gar als potentieller Rudelvergewaltiger naturalisiert wird.
Im Sinne der "wissenschaftlichen Korrektheit" ist es nicht nur berechtigt, sondern eine rationale und moralische Selbstverständlichkeit, unbegründete Diskriminierung von Minderheiten beziehungsweise Menschengruppen als reaktionäre Herrschaftsstrategie entschieden zurückzuweisen und zu kritisieren. Andererseits ist aber auch die pauschale Diffamierung von begründeter Kritik an bestimmten Gruppen unter dem Vorwand der PC, also die Errichtung wahrheitswidriger Tabuzonen, ebenso entschieden abzulehnen.
"Die kulturelle Moderne war kein Geschenk der Bourgeoisie"
Nun haben Sie sich aber noch nicht über den postmodernen Feminismus geäußert ...
Hartmut Krauss: Im Zuge der europäischen Herausbildung, Festigung und Ausgestaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entwickelten sich entlang der sozialen Frage und der Frauenfrage zwei wirkungsmächtige Gegenbewegungen als progressive Reaktion auf die kapitalistische Selbstnegation der modernen Emanzipationsideale. Erst durch diese Bewegungsdynamik gelangte die kulturelle Moderne zu ihrer realen Entfaltung und ist demzufolge nicht etwa ein historisches Geschenk der siegreichen Bourgeoisie.
So konnte die sozialistische Arbeiterbewegung zwar keine revolutionäre Umgestaltung der entwickelten kapitalistischen Länder realisieren, aber dafür erreichte sie die etappenweise Erkämpfung nicht nur politischer Grundrechte für die Lohnabhängigen wie allgemeines Wahlrecht, Streikrecht, Koalitionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit et cetera, sondern insbesondere die Durchsetzung eines ganzen Bündels sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Regelungen wie Arbeitslosen-, Kranken-, Invaliden- und Rentenversicherung; Senkung der Arbeitszeit, gesetzlicher Urlaubsanspruch; Tarifverträge; Kündigungsschutzbestimmungen; Abfindungsregelungen und vieles mehr.
Eine ähnliche progressive Verrechtlichung vermochte auch die klassisch-feministische Bewegung auf frauen- und familienpolitischem Gebiet durchzusetzen. Wurde noch im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 die männliche Herrschaftsstellung sanktioniert, so wurde im Artikel 3 des Grundgesetzes von 1949 der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben. Im Gleichberechtigungsgesetz von 1958 wurde dann die alleinige männliche Entscheidungsmacht in allen ehelichen Angelegenheiten aufgehoben, darunter auch das Recht des Mannes, einen Arbeitsvertrag der Ehefrau zu kündigen. Im Eherechtsreformgesetz von 1976 wurde schließlich die alleinige väterliche Gewalt über die Kinder außer Kraft gesetzt sowie die rechtliche Festlegung der Frauen auf die Hausfrauenarbeit als Regelfall suspendiert.
Mittlerweile ist es so, dass Mädchen im feminisierten Erziehungs- und Bildungswesen aufgrund besser angepasster Formalverhaltensweisen bessere (Noten-)Chancen als Jungen haben und zudem eine rechtliche Benachteiligung von Scheidungsvätern beklagt wird. Unter anderen Abstimmungsverhältnissen hätte es neben der Bundeskanzlerin mit Gesine Schwan auch eine Bundespräsidentin gegeben. Jetzt fehlt nur noch der Quotensturm auf die Vorstandsposten der DAX-Konzerne, um die Gleichberechtigung symbolisch zu vollenden. Sparsam formuliert können wir auf jeden Fall mit Blick auf die einheimische Bevölkerung feststellen, dass von einer deutlichen Zurückdrängung und nachhaltigen Aufbrechung der patriarchalischen Vormachtstellung innerhalb der modernen Herrschaftsverhältnisse auszugehen ist.
"Die postmodernistischen Feministinnen kommen mir vor wie die Zöglinge einer Mädchenschule für Häschen"
Gibt es Übereinstimmungen mit Ihrer Position oder lehnen Sie den Genderfeminismus in Bausch und Bogen ab?
Hartmut Krauss: Ich stimme dem Genderfeminismus insofern zu, dass die biologische Geschlechtszugehörigkeit vom sozialen Konstrukt der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung und sozialen Eigenschaftszuschreibung abzuheben ist und die biologische Geschlechtszugehörigkeit kein Grund für rechtliche und sonstige Benachteiligungen sein darf. Entscheidend ist für mich aber, dass die postmodernistische Version des Feminismus aufgrund ihrer untrennbaren Verknüpfung mit dem Kulturrelativismus den Umschlag von einer ursprünglich progressiven Emanzipationstheorie in eine reaktionäre Abwehrideologie darstellt.
Um diese Einschätzung an einem Bild zu verdeutlichen: Die postmodernistischen Feministinnen kommen mir vor wie die Zöglinge einer Mädchenschule für Häschen. Man hat ihnen das Bild vom bösen Fuchs gezeigt (wahrscheinlich noch ein extrem übertreibendes und unrepräsentatives von Domenique Strauss-Kahn oder Jörg Kachelmann) und erklärt, seht her, der weiße, mittelständische, westliche gebildete ("postpatriachalische") Mann: Das ist euer Fressfeind beziehungsweise der wirkliche Bösewicht. Was man ihnen aber nicht gezeigt und nicht erklärt hat, ist, dass es noch ein anderes gefährliches Wesen gibt, dass noch dazu vermehrt im eigenen Biotop (und nicht nur am Urlaubsstrand) auftritt: Den nichtwestlichen, religiös indoktrinierten und legitimierten, vormodern-patriarchalisch geprägten, womöglich noch polygamen Macho-Mann, der nicht auf verinnerlichte Triebkontrolle trainiert ist, sondern auf Verhüllung des weiblichen Körpers und des Kopfhaars sowie auf die Verteidigung der am weiblichen Wohlverhalten festgemachten "Ehre".
"Identifikation mit dem Aggressor"
Gesetzt es wäre so: Wie kann man dann diese Feindbildkonstellation trotz entgegenstehender Tatbestände aufrechterhalten?
Hartmut Krauss: Am besten mit den herkömmlichen Mitteln: Verleugnung, Verkehrung ins Gegenteil, Projektion, Identifikation mit dem Aggressor et cetera. Auf diese Weise wird der vormoderne islamische Patriarch zum edlen Wilden und die unterworfene Kopftuchträgerin zum Emanzipationssubjekt umgedeutet und gegenüber der konträren Faktenlage eine hermetische Mauer der Immunisierung (defensiv) und Diffamierung (offensiv) aufgebaut. Lieber wird eine vormodern-antiemanzipatorische Herrschaftskultur verteidigt, als dass frau das Ur-Feindbild fallen lassen oder korrigieren könnte.
Die Faktenlage besagt nun aber eindeutig, dass durch die kalte Küche der konzeptionslosen deutschen Zuwanderungspolitik, die ursprünglich kurzfristigen großkapitalistischen Interessen folgte, eine migrationsbedingte Reinstallierung vormoderner, islamisch-patriarchalisch geprägter Herrschaftskultur stattgefunden hat und weiterhin stattfindet, die mit dem oben skizzierten Entwicklungsverlauf massiv kollidiert beziehungsweise diesen innerhalb parallelgesellschaftlicher Milieus revidiert. Die viel zitierten Ehrenmorde2bilden dabei nur die Spitze eines Eisbergs von Verhältnissen, die von Zwangsverheiratung, über eine hohe intrafamiläre Gewaltbelastung3über eine sehr hohe Suizidversuchsrate unter jungen muslimischen Migrantinnen bis hin zu milieuinternen Schiedsgerichten reichen, die nach der Scharia urteilen etcetera.
"Ich halte manche Debatten für ein wenig entrückt"
Wenn das so stimmt: Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Hartmut Krauss: Entscheidend für diesen importierten Repressionszusammenhang ist die Sicherstellung einer generationsübergreifenden Stabilität vormodern-religiöser (islamischer) und patriarchalischer Grundeinstellungen bei türkischen und arabischen Migranten. Das zusätzlich Skandalöse ist darin zu sehen, dass der deutsche Staat mit der flächendeckenden Einführung von Islamunterricht diesen Herrschaftszusammenhang von außen zentral absichert. So heißt es zum Beispiel in dem Islam-Lehrbuch "Lernstraße Islam, 15 Stationen für den Unterricht in der Sekundarstufe I" von Friederun Rupp-Holmes4 mit Bezug auf den Koran:
"Eine muslimische Frau soll Schleier tragen, damit sie in der Öffentlichkeit als Muslima erkannt wird. (…). Durch den Schleier ist eine muslimische Frau im Westen natürlich in der Öffentlichkeit vielerlei Unannehmlichkeiten und Demütigungen ausgesetzt.(…) Eine verschleierte Frau hat Allah bewusst ihre Eitelkeit, ihren Wunsch zu gefallen, von der Gesellschaft anerkannt zu werden (was auch immer man darunter verstehen mag), und ihren Hochmut geopfert. (…) Es liegt in der Natur der Sache, dass eine verschleierte Frau weniger sexuelles Interesse erweckt als eine unverschleierte Frau. Eine Frau, die sich verschleiert, übernimmt damit auch ein Stück moralische und spirituelle Verantwortung für ihre männliche Umwelt, indem sie diese daran hindert, vom rechten Weg abzukommen. Der richtig angelegte Schleier signalisiert jedem Mann, dass seine Trägerin ihr Leben Gott geweiht hat und an weltlichen Affären nicht interessiert ist. Wir sehen, der Schleier als Bestandteil des islamischen Moralsystems schützt die Reinheit seiner Trägerin und die des (un-)gewollten Betrachters und dient somit dem Schutz der Familie."
Im Kapitel "Die geschlechterspezifische Erziehung im Islam" heißt es unter anderem im Sinne der normativen Tradierung des islamischen Patriarchats: "Auf Grund der eindeutigen Aufgabenverteilung von Mann und Frau im islamischen Recht ist auch eine differenzierte Erziehung von Jungen und Mädchen notwendig. Jedes Geschlecht muss neben der allgemeinen Bildung und Erziehung auf seinen speziellen Aufgabenbereich vorbereitet werden. Diese Aufgabenvermittlung äußert sich im täglichen Leben, indem das Mädchen beispielsweise zur Beaufsichtigung der Geschwister und zur Reinigung des Heimes herangezogen wird und der Junge den Vater bei seinen Geschäften begleitet. Ein wichtiger Aspekt dieser geschlechtsspezifischen Erziehung ist die Bewusstseinsentfaltung. So muss der Junge so früh wie möglich auf sein Amt als Familienoberhaupt vorbereitet werden, damit er in dieser Hinsicht seine große Pflicht erkennt und ein entsprechendes Verantwortungsbewusstsein entwickeln kann."
Im Weiteren wird die Emanzipation der Frau schlicht mit der weiblichen Erfüllung der islamischen Pflichten gleichgesetzt.
Vor dem Hintergrund dieser islamischen Genderkonstruktion, die das konkrete Zusammenleben in sich erweitert reproduzierenden Migrantenmilieus bestimmt, halte ich dann doch manche Debatten über Gleichberechtigung und Geschlechterwiderspruch, die sich ausschließlich auf die postpatriarchalischen Verhältnisse zwischen den Deutschen ohne Migrationshintergrund beziehen, für ein wenig entrückt.
"Das >Meinen< sollte gegenüber dem argumentierenden Äußern abgewertet werden"
Existieren Ihrer Ansicht nach berechtigte Tabu-Zonen für den öffentlichen Diskurs oder sollte alles frei diskutiert werden können?
Hartmut Krauss: Es darf zum Beispiel eine offene, seriöse und chancengleiche Debatte über das Verhältnis der islamischen Grundinhalte zu den Prinzipien der säkular-demokratischen und menschenrechtlichen Moderne auf jeden Fall nicht länger in eine solche Zone gerückt werden Generell bin ich dagegen, dass die öffentliche Auseinandersetzung über reale gesellschaftliche Probleme tabuisiert beziehungsweise subtil unterdrückt wird. Andererseits bin ich auch dafür, dass die Privat- und Intimsphäre von Personen vor dem Boulevard-Voyeurismus geschützt bleibt.
Zu bedenken ist allerdings auch, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung missbraucht und in sein Gegenteil verkehrt werden kann und oftmals in dieser Hinsicht pervertiert wird. Das geschieht zum Beispiel immer dann, wenn unter dem Vorwand der freien Meinungsäußerung Lügen verbreitet, elementare Wahrheiten geleugnet (Holocaustleugnung, Leugnung des türkischen Genozids an den Armeniern) und ohne angemessene Begründung diffamierende Aussagen gegen Einzelpersonen oder Personengruppen getroffen werden. Überhaupt bin ich dafür, in Anlehnung an Kants Unterscheidung zwischen "Meinen", "Glauben" und "Wissen" das bloße (begründungsinsuffiziente) "Meinen" gegenüber dem argumentierenden Äußern von Ansichten und Überzeugungen abzuwerten. Es würde zweifellos das Niveau der Kommunikationskultur anheben und keineswegs den demokratischen Diskurs beeinträchtigen, wenn das unqualifizierte (argumentationslose) Behaupten in Verbindung mit offenkundigem Verleumden (Anheften von stigmatisierenden Etiketten) auch strafrechtlich stärker geahndet und dem Verleumder der unverdiente Deckungsschutz der (missbrauchten) Meinungsfreiheit so entzogen würde.
"Auch die freie Meinung unterliegt dem Prinzip der Wahrheitsorientierung"
Ich meine mich erinnern zu können, dass auch die Aufklärer die Meinungsäußerung nicht vom Wahrheitsgehalt entkoppelt haben...
Hartmut Krauss: Stimmt. Nicht umsonst kennt bereits die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 folgende Einschränkungen:
Artikel 10: "Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört."
Artikel 11: "Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte: Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen."
Diese Vorbehalte entspringen keiner Willkür, sondern spiegeln die Grundüberzeugung der Aufklärer, dass das "Gute" ohne das "Wahre" nicht auskommt und somit auch die freie Meinung dem Prinzip der Wahrheitsorientierung unterliegt. Ohne Wahrheitsorientierung, die immer dem Modus des Wissens verpflichtet ist, ist die freie Rede im Grunde haltlos und jederzeit pervertierungsanfällig.
Zum Primat der Wahrheitsorientierung als vernünftiges Richtmaß und legitimes Einschränkungsprinzip heißt es bereits im Essay über die Vorurteile bei Du Marsais und d’Holbach (1770)5, "dass die Menschen ohne die Wahrheit weder tugendhaft noch glücklich sein können und dass demzufolge für Wesen, die zu einem Leben in der Gesellschaft bestimmt sind, die Wahrheit immer das dringendste der Bedürfnisse darstellen wird."
Mit der Metamorphose des antifeudalen Bürgertums zur kapitalistischen Bourgeoisie, der Reduktion der Vernunft auf profitlogischen Utilitarismus sowie der (Wieder-) Versöhnung von bürgerlicher Ideologie und (Kirchen-)Religion wird die Meinungsfreiheit von der Wahrheitsorientierung weitgehend abgelöst und verkommt vielfach zur Weihrauchparole, wenn es darum geht, Lügen und Diffamieren zu legitimieren. Ein vorläufig letzter Akt war in dieser Hinsicht die Verteidigung der Leugnung des türkischen Völkermordes an den Armeniern im Namen der Meinungsfreiheit durch den französischen Verfassungsrat.
Wie sehen nun die wesentlichen Knotenpunkte des "postdemokratischen Herrschaftsmodells" aus?
Hartmut Krauss:
- Die Refeudalisierung der Zugänge zum Hof der öffentlichen Meinungsindustrie an Stelle einer chancengleichen demokratischen Debatte der Citoyens.
- Die PC als eine Legitimationsideologie dieser postdemokratischen Refeudalisierung.
- Die Rehabilitierung der Lüge und der Diffamierung im Gewand der wahrheitsentkoppelten Meinungsfreiheit als postmoderne Herrschaftsstrategie.
In Teil 2 des Interviews äußert sich Hartmut Krauss zu Hartz IV, dem 11. September, der Schuldenkrise, der neuen Weltordnung und den Linken.
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