Haben Arbeiter ein Vaterland?

Gastarbeiter aus Mosambik im Chemiefaserwerk "Herbert Warnke" in Guben, DDR, 1988. Bild: Rainer Weisflog, ADN/Bundesarchiv, CC BY-SA 3.0 DE

Abschließende Gedanken zur These, sozial gehe nur national (Teil 5 und Schluss)

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Teil 1: Dichtung und Wahrheit über ein Septembermärchen
Teil 2: Wie Befürworter der "Willkommenskultur" gegen Fremdenfeindlichkeit argumentieren
Teil 3: Wie sich Meinungsbildner Fremdenfeindlichkeit erklären
Teil 4: Was rechten Willkommensgegnern zu sagen wäre

Zwei frühe Theoretiker der Arbeiterbewegung meinten noch, nein, als ihnen als "Kommunisten vorgeworfen (wurde), sie wollten das Vaterland, die Nationalität abschaffen", und sie erwiderten, man könne den Arbeitern "nicht nehmen, was sie nicht haben".1 Nicht, dass Arbeiter keinen Pass und keine Obrigkeit gehabt hätten, gemeint war die Feindlichkeit der Nation gegenüber ihren Interessen. Eine heutige Expertin für Arbeiterfragen betont dagegen in ihrer "linken Antwort zur Regulierung der Migration", "der häufig kritisierte Satz ‚Sozial geht nur national‘ (sei) in erster Linie eine empirische Tatsache".

Sie bezog damit Stellung in einem Streit, der "das ehemals ‚links‘ genannte Lager tief gespalten (hat …) - in globalistische Anhänger der Open-Border-Philosophie einerseits und Bewahrer des National- und damit des Sozialstaats andererseits". Wo die einen "Idealisten" bleiben, sind die anderen unterwegs zu einem Realismus eigener Art.

Dieser Realismus anerkennt die "empirische Tatsache" einer staatlich verwalteten Eigentumsordnung, die alle zu Konkurrenten macht, die darin ihr Leben fristen und von denen sich ein Teil auch mit Flucht und Armutsmigration konfrontiert sieht:

Wir haben heute einen großen Niedriglohnsektor mit Leiharbeit, Dauerbefristungen, Minijobs. Viele Flüchtlinge werden gerade in diesem Sektor Arbeit suchen und verstärken damit den Druck auf die Löhne. Ähnlich ist es bei den Wohnungen. Da suchen die Flüchtlinge vor allem in jenen Stadtvierteln, in denen die ohnehin schon Ärmeren leben.

Sahra Wagenknecht im Streitgespräch mit Frauke Petry

Unter Betonung darauf, dass sich hier je nach Lage Konkurrenzsituationen "verstärken", die "ohnehin schon" da sind, wird es ungefähr so sein, wie von Wagenknecht beschrieben. Ihre Ursachenbestimmung, dies sei "die Folge einer Politik, die den Arbeitsmarkt dereguliert und den sozialen Wohnungsbau weitgehend eingestellt hat", sowie die Ergänzung ihres Mitstreiters, "dass der Ruf nach offenen Grenzen eine zentrale Forderung des Neoliberalismus (sei) und der freizügige Personenverkehr ebenso im Unternehmer-Interesse (liege) wie der grenzenlose Kapitalverkehr und der Freihandel" (Oskar Lafontaine), sind aber mit Vorsicht zu genießen.

Denn erstens waren die rot-grünen Hartz-IV-Reformen keine "Deregulierung" im Sinne eines staatlichen Heraushaltens, sondern eine aktive und wachstumsfreundliche Neuregulierung des Arbeitsmarkts.

Zweitens ist mit dem Vorwurf "Neoliberalismus" fast immer konnotiert, dass finanzkapitalistische Interessen Einfluss im Staat gewinnen, der ohne sie sozialer handeln würde.

Zugunsten des Wirtschaftswachstums ist drittens der "Personen- und Kapitalverkehr" einerseits freigesetzt, wird aber andererseits (z.B. nach der Weise des Herrn Trump) auch eingeschränkt, wenn der Staat den bezweckten Erfolg daraus vermisst und Abhilfe herbeiregieren will.

Sozialstaats-Illusionen

Dass "die Menschen einen Anspruch darauf (haben), dass der Staat sie vor Dumpingkonkurrenz schützt"2, gehört also nicht erst seit den Hartz-Reformen zu den Sozialstaats-Illusionen. Im umstrittenen Kamingespräch mit Peter Gauweiler und Thilo Sarrazin Ende September ließ Lafontaine durchblicken, wie er sich diesen Schutz illusionsloser vorstellen kann:

"Jedes unbegleitete Flüchtlingskind‘ koste monatlich 5.000 Euro - wie solle er das ‚guten Gewissens einer Sozialrentnerin erklären‘, zitiert ihn der BR. (…) Lob des Saarländers für Sarrazins ‚beinahe sozialdemokratisches Plädoyer‘, dessen Vorschlag also, Putzfrauen und Gärtner einfach besser zu bezahlen und dafür niemanden mehr ins Land zu lassen." (junge Welt)

Wie in der zitierten gewerkschaftlichen Sicht geht offenbar auch für Lafontaine und Wagenknecht "sozial nur national". Dass die lohnsenkende Konkurrenz der abhängig Beschäftigten - gleich, ob in- oder ausländisch - im Arbeitskampf immer wieder zu unterbrechen sei, wird dann im linken Liederabend besungen, während die Arbeitervertretung tagsüber "die Politik in der Verantwortung (sieht), Konkurrenzen und Unterbietung am Arbeitsmarkt zu verhindern" und "sich gemeinsam mit den Sozialpartnern anschau(t), wo es einen Fachkräfteengpass gibt"3, wo der nationale Arbeitsmarkt also zu öffnen bzw. zu schließen ist.

Das Bezeichnende dieser Positionen ist, dass sie vom globalen Kapitalismus reden, also um ihn wissen - allerdings als "die Realität", der Rechnung zu tragen ist, will man nicht "weltfremd" in der Gegend herumlaufen: "Wenn wir über offene Grenzen für alle reden, dann ist es eine Forderung, die die meisten Leute als völlig irreal und weltfremd empfinden und damit ja auch recht haben." (Wagenknecht)

"Es gibt ein fundamentales Missverhältnis von politischer Wünschbarkeit und Machbarkeit beim Thema Migration." (Anke Hassel s.o.) "Machbarkeit" beginnt auf der "real", also positiv genommenen Grundlage des kapitalistischen Ladens und seiner herrschaftlichen Verwaltung.

Weil die Zuwanderung unter diesen Verhältnissen Löhne drückt und Mieten steigert, soll der Staat ausgrenzend eingreifen – und so wird das Vaterland zur unumgänglichen Mutter alles Sozialen. Der Sozialstaat, welcher der Sache nach das marktwirtschaftliche Ausbeutungsverhältnis haltbar macht, indem er dafür sorgt, dass die Beschäftigten der Mühsal ihrer abhängigen Arbeit samt den damit verbundenen Wechselfällen im Normalfall eine lebbare Existenz abgewinnen können, veranlasst die zitierten "Machbarkeits"-Linken zu einem Patriotismus eigener Art.

In diesem verstehen offenbar auch sie sich als Anwälte und Bewahrer der Nation, gewinnen Grenzkontrollen und Zurückweisungen arbeiterfreundliche Qualitäten ab, halten Einreisestopps für Entwicklungshilfe, die den Brain Drain unterbinden, blasen verbliebene Befürworter der "Willkommenskultur" zu Nützlingen des Neoliberalismus auf usw. Der schon zitierte enthüllende Historiker erkühnt sich darüber zu der Aussage, "dass die Regierung in Wien ‚aus falschen Gründen das Richtige gemacht‘ hat, als sie erklärte, den UN-Migrationspakt nicht unterzeichnen zu wollen"4.

Zukunftshoffnungen

Die in und außerhalb der Linkspartei noch vorhandenen "Anhänger der Open-Border-Philosophie" (s.o.) bemerken den national-patriotischen Schlag ihrer Opponenten, mögen ihn nicht, wissen ihm aber wenig entgegenzusetzen. "Wenn wir über Grenzen diskutieren, dann nicht, wie wir sie schließen oder geschlossen halten, sondern wie wir die Grenzen demokratisieren können" (Katja Kipping), heißt ein schwacher Versuch, den "offenen Grenzen" ein gefälligeres Update zu geben - wenigstens als Zukunftshoffnung: "Das Leitbild der offenen Grenzen in einer friedlichen und solidarischen Welt ist eine Zukunftsvision, die wir anstreben. Gegenwärtig sind die Bedingungen dafür jedoch nicht gegeben", so ein Thesenpapier der Partei Die Linke.

Könnte man, wenn man schon merkt, wie wenig man "gegenwärtig" in Sachen "friedlicher und solidarischer Welt" zu melden hat, sich nicht einfach dazu entschließen, die Kritik an den herrschenden Zuständen zusammenzutragen und zu verbreiten?

Anders gefragt: Muss man sich mit "realistischen Zwischen- und Übergangslösungen, die uns diesem Ziel näherbringen" (ebd.) beständig zum ideellen Mitregenten machen, der das nationale oder europäische Grenzregime im Geiste mitbestimmen möchte und Phantomdebatten darüber führt, ob das "Steuer- und Finanzkonzept der LINKEN (…mit) Mehreinnahmen in Höhe von rund 180 Milliarden Euro" (ebd.) für eine Open-Border-Politik ausreichen könnte? Muss man nicht.

P.S. zur Seenotrettung:

Die Absicht, Kriegs- und Armutsflüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten, verbleibt, ohne dass sie dies zu verantworten hätte, auf zweifache Weise in der Abhängigkeit von den politischen Instanzen, gegen die sie opponiert. Offensichtlich ist zunächst, dass Seenotretter dann behindert und kriminalisiert werden, wenn Staatsorgane die Rettungstätigkeit zum "Pull-Faktor" erklären und unterbinden oder einschränken wollen. Aber auch wenn die Aktionen stattfinden bzw. erlaubt sind, widmen sie sich – in tendenzieller Sisyphusarbeit wie jede Caritas – den Resultaten von Geschäft und Gewalt, ohne auf deren Ursachen Einfluss zu nehmen.