Haben Menschen von Natur aus ein Gefühl für Fairness?
Allen Unkenrufen zum Trotz ist der Mensch kein Homo oeconomicus, sondern mit einem faszinierenden Gerechtigkeitsgefühl gesegnet
Lange Zeit ging man davon aus, dass Kinder erst im Alter von sechs oder sieben Jahren infolge der Erziehung ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickeln. Tatsächlich zeigen aber eine Reihe neuerer Experimente, dass klare Anzeichen von fairem Verhalten deutlich früher auftreten. Schon im Windelalter zeigen Kleinkinder ein Empfinden für Gerechtigkeit, wenn 6 bis 10 Monate alte Kinder in einem Experiment Puppen zum Spielen bevorzugen, die einer anderen Puppe geholfen hatten. Den Unterschied zwischen einer fairen und einer unfairen Verteilung erkennen Kleinkinder schon im Alter von 15 Monaten, wie Studien zeigen.
Frühe Anzeichen eines Gerechtigkeitsempfinden
Auch die Bereitschaft der Kleinkinder, ihr Verhalten nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden auszurichten, zeigt sich früh. Der Harvard-Professor Felix Warneken führte ein beeindruckendes und ausgefeiltes Experiment durch, um den Gerechtigkeitssinn und die damit zusammenhängende Bereitschaft zu teilen zu testen. Zwei dreijährige Kinder zogen gemeinsam an einem Seil, um ein Brett heranzuholen und so an ein Spielzeug oder an Süßigkeiten in einer durchsichtigen Box zu gelangen. Ein Kind alleine hatte hierzu nicht ausreichend Kraft.
Nachdem die Kinder erfolgreich waren und die Box bei ihnen angekommen war, gab es manchmal darin zwei Löcher und manchmal nur eines, sodass regelmäßig ein Kind in der Versuchung war, sich die Belohnung alleine zu sichern. Doch fast immer teilten die Kinder den Fund gerecht auf. Felix Warneken kommentiert dieses Ergebnis: "Wir waren überrascht, dass diese Regel so strikt war, dass Gleichheit so stark bevorzugt wurde. Es war selten der Fall, dass ein Kind alles nahm und das andere Kind zu sagen hatte: ‚Hey, das ist nicht fair.‘" Manchmal machte sogar ein Kind seinen Partner darauf aufmerksam, wenn er nicht seinen Teil genommen hatte.
Selbstlose Kleinkinder
Auf eine andere Weise prüfte ein raffiniertes Experiment des Forscherteams um Katharina Hamann vom Max-Planck-Institut in Leipzig, ob Kinder freiwillig auf den eigenen Vorteil zugunsten einer gerechten Verteilung verzichten: Zwei Dreijährige erhielten nach einer gemeinsamen Arbeit drei Belohnungen, wobei ein Kind zwei und das andere nur eine bekam. Das übervorteilte Kind müsste also nun ein Opfer bringen, um eine tatsächlich faire Verteilung der Belohnungen zu gewährleisten. Fast immer teilte das von Glück begünstigte Kind mit dem glücklosen Kind!
In einem weiteren Experiment verzichteten sechs achtjährige Kinder lieber auf eine Belohnung und warfen sie weg, um zu vermeiden, dass eine ungleiche Verteilung entstand, auch wenn sie selbst diese zusätzliche Belohnung erhalten hätten.
Gerechte Kleinkinder
Und zuletzt ein faszinierendes Experiment des Forscherteams um Katharina Hamann, welches das sehr ausgeprägte Gefühl von Fairness und Gerechtigkeit demonstriert: Zwei dreijährige Kinder sollten dabei gemeinsam eine Holzlatte eine Treppe hinauftragen, um jeweils eine Belohnung zu erhalten. Das Besondere hierbei war jedoch, dass die Vorrichtung so konstruiert war, dass eines der Kinder schon deutlich früher seine Belohnung erhalten konnte, während das andere Kind noch die restlichen Treppenstufen hinaufsteigen musste. So gut wie alle Kinder halfen jedoch weiter, damit auch der Partner die Belohnung erhalten konnte. Drei Viertel der Kinder halfen sogar sofort, ohne erst zu der Maschine zu gehen, wo ihre Belohnung sie erwartete.
Summiert man diese Experimente, lässt sich festhalten: Das Verhalten des Kindes findet in den Denkfiguren des Homo oeconomicus schlicht nicht statt. Kleinkinder sind keine "unbeschriebenen Blätter", sondern von Natur aus offenbar mit einem beeindruckenden Gerechtigkeitsgefühl gesegnet.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Die Wiederentdeckung des Menschen" von Andreas von Westphalen. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch und faul. Generell ist er darauf aus, den größten Nutzen für sich selbst herauszuschlagen und bringt seine beste Leistung nur unter Konkurrenzdruck. So zumindest die herrschende Meinung in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik - mit weitreichenden Folgen, die wir alle zu spüren bekommen: zum Beispiel in der verfehlten Bildungs- und Sozialpolitik oder in einer zunehmend kontrollierten Arbeitswelt. Das Menschenbild im Kapitalismus ist nichts weiter als eine von der Wirtschaft verbreitete Mär.
Ein weiteres Kapitel aus dem Buch: Das verzerrte Menschenbild im Kapitalismus. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen.
Gehen wir jetzt einen Schritt weiter und wenden uns Experimenten zu, welche das Verhalten von Erwachsenen analysieren. Zentrale Frage: Wie ausgeprägt ist bei ihnen das Gefühl für Gerechtigkeit und Fairness? Oder anders gefragt: "Überlebt" das beeindruckende Potenzial des Kindes bis ins Erwachsenenalter oder sind die Erwachsenen ungerecht, jeder sich selbst der Nächste und ist in einer Umwelt der Habgier kein Platz für Fairness?
Überraschende Welt der Erwachsenen
Besonders wichtige Antworten auf diese Fragen liefern zwei Experimente aus der Spieltheorie: das Ultimatum-Spiel und das Diktator-Spiel.
Das Ultimatum-Spiel führte Werner Gürth erstmals 1982 durch. Hierbei spielen zwei Menschen miteinander, die sich nicht kennen, aber auch nicht miteinander kommunizieren können. Spieler A erhält einen Geldbetrag, beispielsweise 100 Euro. Es steht ihm nun frei, welchen Teil er hiervon Spieler B anbietet. Spieler B, der die Ausgangssumme kennt, kann nun seinerseits das Angebot annehmen (dann erhalten beide Spieler die von Spieler A vorgeschlagene Summe) oder ablehnen (dann gehen beide Spieler leer aus).
Ziel dieses Spiels ist herauszufinden, inwiefern die Menschen sich in der Tat als Nutzenmaximierer erweisen und welche Bedeutung Fairness in ihrem Verhalten spielt. Der Wirtschaftsprofessor Axel Ockenfels erklärt, welches Verhalten man von einem wahren Homo oeconomicus erwarten sollte:
"Die klassische Wirtschaftstheorie macht eine klare Prognose: Die sagt, Sie geben mir einen Euro - denn das ist, was 'Homo oeconomicus' tun würde unter der Annahme 'Mehr Geld ist besser als weniger Geld'. Wenn Sie mir einen Euro geben und ich annehme, dann bekomme ich einen Euro. Wenn ich ablehne, bekomme ich nichts. Und da ein Euro besser ist als nichts, nehme ich an. Da Sie ein 'Homo oeconomicus' sind, antizipieren Sie dieses Verhalten und dürfen sich darauf freuen, dass Sie fast den gesamten Kuchen kriegen und ich fast nichts."
Dies wäre die klassische individuelle Nutzenmaximierung rational agierender Spieler. Die Investition wird minimiert. Der Gewinn maximiert. Der Habgier wäre Genüge getan. Das Experiment zeigt einmal mehr, dass sich Menschen so gut wie nie verhalten, wie es die Wirtschaftswissenschaft vorhersagt.
Dabei ist zu beachten, dass dieses Experiment oftmals und in vielen Ländern der Erde wiederholt wurde. Die meisten Studien im Rahmen des Ultimatum-Spiels kommen zu dem Ergebnis, dass die Entscheider dem Partner zwischen 40 und 50 Prozent anbieten. Angebote, die geringer waren als 30 Prozent, lehnt die Hälfte aller Partner ab. Sie verzichteten also lieber auf einfach verdientes Geld, als eine unfaire Verteilung zu akzeptieren. Ockenfels kommentiert dieses Resultat: "Sie können das Spiel auch 100 Mal wiederholen, das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Leute haben eine Unfairness-Aversion. Sie wollen den anderen dafür bestrafen, dass er unfair war."
Überraschende Ergebnisse des Diktator-Spiels
Eine Variante des Ultimatum-Spiels ist das sogenannte Diktator-Spiel. Es zielt ebenfalls auf die Klärung der Frage ab, wie es um die Fairness des Menschen bestellt ist. Die Grundsituation entspricht hier exakt dem Ultimatum-Spiel, allerdings mit dem feinen, aber durchaus wichtigen Unterschied, dass jetzt der Vorschlag des Spielers, der die Verteilung des Geldes beziffert, definitiv ist, dem Partner wird also keine Entscheidungsbefugnis über Annahme oder Ablehnung des Angebots eingeräumt. 255 Experimente zum Diktator-Spiel wurden in einer Studie vom Max-Planck-Institut in Bonn ausgewertet. Im Schnitt gaben die Entscheider immer noch mehr als ein Viertel ab, obwohl der unbekannte Partner die Aufteilung nicht torpedieren konnte, sie also problemlos ihrer Habgier freien Lauf lassen und schlicht die gesamte Summe hätten behalten können.
Dies ist extrem erstaunlich, denn jedes Angebot über null stellt für den Entscheider einen konkreten Verlust dar und ist aus wirtschaftlicher Sicht schlicht unvernünftig. Insbesondere wenn man bedenkt, dass auch ein extrem niedriges Angebot in keiner Weise selbstschädigend wäre.
Allen Unkenrufen zum Trotz ist der Mensch von Natur aus mit einem faszinierenden Gerechtigkeitsgefühl gesegnet, das auch im Erwachsenenalter weniger stark zu verschwinden scheint, als man gemeinhin annehmen könnte.
Zusätzlich verwendete Literatur: Klein, Stefan: Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Frankfurt am Main 2011. Pickett, Kate; Wilkinson, Richard: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2009. Tomasello Michael: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Berlin 2016. Tomasello, Michael: Warum wir kooperieren? Berlin 2012.