"Häufung des terroristischen Wahnsinns"

Russland und der Westen haben die Entscheidung selber in der Hand, wie sehr der Terrorismus das laufende Jahrhundert prägen wird

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Fühlen sich die Russen ohnehin schon nicht unbedingt sicher auf allen ihren Straßen, haben die terroristischen Anschläge der letzten acht Tage das Land endgültig in Angst und Schrecken versetzt. Letzte Woche brachten tschetschenische Terroristen zwei Passagierflugzeuge zum Absturz und schickten rund 90 unschuldige Menschen in den Tod. Am Dienstag riss eine Selbstmordattentäterin neun Menschen in einer U-Bahn-Station in Moskau mit in den Tod. Gestern nun haben 17 Geiselnehmer rund 400 Kinder, Eltern und Lehrer in einer Schule in Beslan in Nordossetien in ihre Gewalt gebracht und drohen, für jeden getöteten Geiselnehmer 50 Kinder umzubringen. Laut der Nachrichtenagentur Ria Nowosti sind wieder Tschetschenen aber auch Angehörige anderer Nationalitäten am Werk.

Der Bundeskanzler ist ja bekannt dafür, dass er die russische Gewaltherrschaft in Tschetschenien und die dortigen Menschenrechtsverletzungen "differenziert" betrachtet. Dass sich daran nichts geändert hat, verdeutlichte Gerhard Schröder, als er die Wahlfarce in Tschetschenien mit den Worten kommentierte, er habe keine "empfindliche Störung der Wahlen" feststellen können. Auffällig ist dabei, wie schnell in unseren Gefilden kritische Töne an den Tag gelegt werden, wenn es um Russlands Teilschuld am Gemetzel geht. Da darf dann auch schon mal Sonia Mikich von Monitor den Tagesthemen-Kommentar sprechen. Dann wird auf den Tisch gelegt, was der Ernst der Lage gebietet: Dass Zar Vladimir Putins in Tschetschenien die Lunte neu angezündet hatte, der Westen den russischen Terrorismus deckt, um Wirtschaftsverträge in einem freundlichen Klima abzuschließen und der Mut zu einer politischen Lösung fehlt.

Analysiert man nur die eine (tschetschenische) Seite der Medaille, kommt etwa der Kommentar von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung dabei heraus:

Die Häufung des terroristischen Wahnsinns in den vergangenen Tagen macht die neue Qualität besonders deutlich: In Russland nehmen die Terroristen Schulkinder als Geiseln - was Präsident Putin praktisch keinen Handlungsspielraum gibt.

Wer aber hat von der "Häufung des terroristischen Wahnsinns" gesprochen, als im April 2004 im irakischen Falludscha reihenweise Frauen und Kinder durch US-Soldaten starben und unbewaffneten Männern in den Rücken geschossen wurden, nachdem vier US-Söldner gelyncht worden waren? Wenn es um unsere transatlantischen "Freunde" geht, wir in den Kommentaren erst einmal rhetorisch runtergeschaltet.

Erst letzte Nacht wieder hat das US-Militär in Falludscha 17 Menschen getötet. Der Angriff richtete sich nach Angaben der amerikanischen Armee gegen ein mutmaßliches Versteck des mutmaßlichen Qaida-Terroristen Abu Mussab al Zarqawi. Beim US-Angriff sollen auch zwei oder drei Kinder getötet worden sein. Wer kann die älteren Brüder der getöteten Kinder nicht verstehen, wenn sie in den Guerillakrieg ziehen? Doch beim amerikanischen Terrorismus wird drum herum geredet. Da heißt es dann etwa im Kommentar "Gefahr aus Teheran" von Martin van Creveld, Autor des Buches "Frauen und Krieg", in der Welt: "Die ganze Welt hat erlebt, wie Amerika den Irak angegriffen hat - wie sich herausstellt, ohne jeden Grund." Wenn die bekannten Gründe schon alle gelogen waren, dann gab es halt gar keine.

Auch in Israel sind am Montag wieder Menschen gestorben. Selbstmordattentäter nahmen mindestens 18 Israelis mit in den Tod. Die Bild-Zeitung hat markant aufgemacht über das "Blutbad in Israel!" Nichts gegen die Aufmachung auf Seite 1. Aber hatte Bild auch erwähnt, dass die israelische Armee in den vergangenen Tagen Häuser in Flüchtlingslagern zerstört und etliche Familien obdachlos gemacht hatte? Berichtet die Bild-Zeitung genau so alarmistisch, wenn israelische Kampfhubschrauber Wohnhäuser bombardieren, in Menschenmengen schießen und Autos in belebten Straßen zerstören - ganz egal wie viele Zivilisten dabei drauf gehen?

Oder stehen da doch die Unternehmensgrundsätze des Welt- und Bild-Verlages Springer im Weg? Beißt sich da vielleicht die "Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes" mit der Unterstützung der Lebensrechte des palästinensischen Volkes? Zur "Sicherung der journalistischen Unabhängigkeit" gehört bei Springer auch "die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika" und "die Ablehnung jeglicher Art von politischem Totalitarismus". Bitte, liebe Springer-Kollegen, mit gutem Beispiel voran.

Die Diskussion um das Dilemma, wo Freiheitskampf endet und wo Terrorismus anfängt, drückt die Scheu aus, die Dinge beim Namen zu nennen. Vereinfacht ist ein Freiheitskämpfer jemand, der sich gegen eine völkerrechtswidrige Besatzung wehrt. Ein Terrorist ist jemand, der Gewalt anwendet oder androht, um eine politische Veränderung zu erreichen, und dabei keine Rücksicht auf jedwede Verluste nimmt. Staatsterrorismus liegt vor, wenn ein staatlicher Akteur sich in einem Konflikt oder Krieg nicht an die völkerrechtlichen Konventionen hält und die Zivilbevölkerung bewusst in Mitleidenschaft zieht, sei es durch die eigenen Soldaten oder die Unterstützung von Todesschwadronen. Doch meist ist Terrorismus eben nur das, was die anderen machen. Der eigene Staatsterrorismus wird gedeckt.

Es geht hier gar nicht darum, den Terroristen in Nordossetien oder irgendwo sonst eine Rechtfertigung zukommen zu lassen. Mord bleibt Mord und das Schlimmste auf der Welt. Doch wenn wir nicht wollen, dass der Terrorismus zum prägenden Problem des 21. Jahrhunderts wird, sollten wir uns in Russland und im Westen nicht vor der Selbsterkenntnis drücken, dass wir es zunächst einmal selbst in der Hand haben, wie sehr der Terrorismus uns geißeln wird.