Haftbefehle gegen Netanjahu und Hamas-Chef: Was darf der IStGH?

 Benjamin Netanjahu und Yahya Sinwar in Handschellen mit IStGH-Logo

Benjamin Netanjahu / Yahya Sinwar. Bilder: Prashantrajsingh / Anas-Mohammed / Shutterstock.com

Mutmaßliche Kriegsverbrechen im Israel-Gaza-Krieg: Chefankläger Karim Khan straft beide Konfliktparteien ab. Das sind die Grundlagen.

Der jüngste Israel-Gaza-Krieg hat seit dem 7. Oktober zehntausende Menschenleben gekostet. Der Vorstoß am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Ahndung mutmaßlicher Kriegsverbrechen bietet nun Anlass zu neuen diplomatischen Kontroversen: Dass die Anklagebehörde des IStGH entschlossen gegen beide Konfliktparteien vorgeht, könnte Deutschland in eine Zwickmühle bringen.

Noch hat der Gerichtshof jedoch den Anträgen nicht stattgegeben. Zeit genug daher, sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen und damit, was dieser historische Schritt für die deutsch-israelischen Beziehungen bedeuten könnte.

Haftbefehlsanträge mit vergleichbar schweren Vorwürfen

Chefankläger Karim Khan veröffentlichte am 20. Mai 2024 eine ausführliche Stellungnahme zu den Haftbefehlsanträgen, die er im Kontext des Konflikts zwischen Israel und Gaza erlassen hatte.

Die Haftbefehle richten sich gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Joav Gallant auf der einen und Yahya Sinwar, den Kopf der radikal-islamischen Hamas auf der anderen Seite. Sie betreffen außerdem den Stellvertreter des Hamas-Anführers, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (Deif), sowie Ismail Haniyeh, den Auslandschef der Hamas.

Dieser Vorstoß kam unerwartet und er polarisiert. Nicht zuletzt, weil gegen beide Konfliktparteien in dem schon fast acht Monate andauernden Krieg zwischen Israel und Gaza nun vergleichbar schwerwiegende Vorwürfe erhoben wurden.

Warum darf der IStGH sich einmischen?

Der IStGH wurde als unparteiisches, übergeordnetes Instrument mit der Zielsetzung errichtet, gegen besonders schwere Verbrechen vorzugehen – Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft geschlossen als besonders verachtenswert anerkennt. Das IStGH-Statut (das Rom-Statut) umfasst daher in erster Linie vier Kernverbrechen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression.

Außerdem gilt der Grundsatz der Komplementarität: Der Gerichtshof greift nicht ein, wenn der betroffene Staat selbst tätig wird und räumt damit der staatlichen Souveränität den Vorrang ein. Er lässt Nationalstaaten also Raum, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern und (auch schwere) Straftaten selbst zu verfolgen.

Wird der IStGH tätig, ist das also ohnehin schon bezeichnend für die Bedeutsamkeit und Schwere der in Rede stehenden Taten – und auch die Untätigkeit der Nationalstaaten.

Israel unterzeichnete IStGH-Statut nicht

Seine Gerichtsbarkeit darf der IStGH über Verbrechen in jenen Staaten ausüben, die das IStGH-Statut unterzeichnet haben – und auch über Taten, die von den Staatsangehörigen dieser Staaten auf dem Territorium anderer Staaten verübt wurden. Artikel 125 Abs. 3 des IStGH-Statuts eröffnet die Beitrittsmöglichkeit zum Statut für "alle Staaten".

Während Israel kein Unterzeichnerstaat des IStGH-Statuts ist, trat Palästina ihm im Jahr 2015 bei. Das war und ist nicht unumstritten, denn längst nicht alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft erkennen die Staatsqualität Palästinas an.

Was bedeutet Palästinas Status als Vertragsstaat?

Eine Entscheidung des IStGH im Jahr 2021 schaffte insofern ein wenig Klarheit, als Palästina jedenfalls für die Zwecke des Statuts als Vertragsstaat anerkannt wird. Endgültig beenden kann auch dies die Debatten um Palästinas Staatsqualität nicht, da der Entscheidung die Bindungswirkung fehlt.

Deutlich wird aber, dass das Gericht die Beurteilung der Staatlichkeit Palästinas im völkerrechtlichen Sinne von seiner Anerkennung als "Staat unter dem Rom-Statut" trennt. Es begründete 2021 seine Entscheidung mit dem "Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung", hielt aber fest, dass es sich damit nicht zu Grenzstreitigkeiten positioniere.

Wann kann der Strafgerichtshof Haftbefehle erlassen?

Haftbefehle kann der Strafgerichtshof nach Artikel 58 IStGH-Statut erlassen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass vom Statut umfasste Verbrechen begangen wurden. Ein Arrest muss notwendig sein, um die Person an der Gefährdung der Ermittlungen oder aber der Begehung weiterer Verbrechen zu hindern.

Vorausgesetzt, die von Khan in seinen Haftbefehlsanträgen erhobenen Vorwürfe treffen zu, sind Haftbefehle ein folgerichtiger Schritt. Sinwar, Deif und Haniyeh beschuldigt er, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Einklang mit Artikel 7 und 8 des Rom-Statuts begangen zu haben.

Genauer handele es sich unter anderem um Mord, Geiselnahme, Folter und Vergewaltigung sowie weitere Straftaten, die sexuelle Gewalt beinhalten. Die Angeklagten seien strafrechtlich verantwortlich für Anstiftung und Planung der genannten Taten, die ohne sie, so der Vorwurf, nicht hätten ausgeführt werden können.

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Khan machte auch zum Kontext der Straftaten Ausführungen. Denn Kriegsverbrechen im Rahmen des IStGH-Statuts setzen voraus, dass sie im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (nicht-) internationalen Ausmaßes stattgefunden haben. Der Chefermittler sieht in dem Konflikt zwischen Israel und Palästina einen Konflikt internationalen Ausmaßen, bewertet aber den Konflikt Israels mit der Terrororganisation Hamas als Konflikt nationalen Ausmaßes.

Im zweiten Teil der Anträge werden Netanjahu und Gallant Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Sie seien gemeinsam – als Mittäter – verantwortlich für das "Aushungern von Zivilisten", "willkürliche Tötungen" und das intentionale Attackieren von nicht am Konflikt beteiligten Zivilisten in Gaza. Außerdem beschuldigt Khan sie der willkürlichen Verursachung großen Leidens und psychischer und physischer Verletzungen in dem Gebiet.

Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht

Insbesondere, so der Vorwurf, hätten die Entscheidungsträger sich im Rahmen der Verteidigung gegenüber der Hamas nicht an das humanitäre Völkerrecht gehalten. Sie seien insbesondere verantwortlich dafür, dass der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser und Nahrung in Gaza blockiert und die Gewährleistung humanitärer Hilfe aktiv behindert werde.

Hunger werde außerdem von den israelischen Streitkräften gezielt als Kriegswaffe eingesetzt. Das Ziel sei eine Kollektivbestrafung der Bevölkerung in Gaza für den Angriff am 7. Oktober. Zwar bestätigt Khan das Recht Israels, sich und seine Bevölkerung gegen Angriffe zu verteidigen, hält aber die von Israel gewählten Mittel dieser Verteidigung für kriminell.

Über die Anträge entscheiden muss nun die Vorverfahrenskammer I des IStGH. Sollten die Haftbefehle erlassen werden, wäre zunächst einmal die Reisefreiheit aller Beteiligten stark eingeschränkt. Zwar hat der IStGH selbst keine Exekutive, kann die Adressaten also nicht selbst verhaften.

Die insgesamt 124 Unterzeichnerstaaten des Rom-Statuts hingegen sind verpflichtet, Personen, gegen die ein Haftbefehl vorliegt, festzunehmen und an das Gericht zu überführen. Netanjahu müsste also befürchten, auf dem Territorium eines kooperierenden Staats verhaftet zu werden. Diese eingeschränkte Bewegungsfreiheit allein, so bewertete es die New York Times, hätte strafähnlichen Charakter und könnte Israel (weiter) isolieren.

Israel-Solidarität oder IStGH: Deutschland im Zwiespalt

Die teils empörten internationalen Reaktionen auf den Haftbefehlsantrag Khans kamen nicht völlig unerwartet: nicht nur Israel wie die Anschuldigungen zurück – auch US-Präsident Biden verurteilte den Vorstoß des Ermittlers. In Deutschland bemängelte das Auswärtige Amt, der Antrag Khans habe den "unzutreffenden Eindruck der Gleichsetzung" hervorgerufen.

Gemeint war damit die Gleichsetzung der Verbrechen der Hamas beim Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 mit den Verbrechen, die Khan Israel im Rahmen seiner Selbstverteidigung in Gaza vorwirft. Ungerechtfertigt sei das, weil Israel sein legitimes Recht auf Selbstverteidigung ausübe, während die Hamas noch immer Geiseln gefangen halte und die Bevölkerung in Gaza als Schutzschilde missbrauche.

Folgt der IStGH den Anträgen Khans, sitzt die Bundesregierung zwischen den Stühlen: auf der einen Seite steht die bisher aktive Unterstützung der Rechtsprechung des IStGH durch die Bundesrepublik. Gleichzeitig pflegte die Bundesregierung in der Vergangenheit, und insbesondere im aktuellen Konflikt, einen äußerst vorsichtigen Umgang mit dem israelischen Präsidenten.

Wie entwickelt sich also die Loyalität zu Israel, die Teil der deutschen Erinnerungskultur und ungeschriebene diplomatische Regel ist, wenn ein internationales Gericht Haftbefehle gegen Netanjahu ausstellt?

Zerreißprobe für deutsch-israelische Beziehungen

Bis die Entscheidung der Vorverfahrenskammer ergeht, lässt sich die Situation zwar nicht mit Endgültigkeit bewerten. Eine Zerreißprobe ist sie für Deutschland aber jetzt schon. Die Vorwürfe gegen Israel stellen die unvergleichliche israelisch-deutsche Beziehung, die so stark von der Vergangenheit geprägt ist, auf die Probe. Denn die deutsche Bewertung der völkerstrafrechtlichen Frage nach der Verantwortung Israels entsteht unter Bedingungen, die einen objektiven Blick fast unmöglich machen.

Das durch die Haftbefehlsanträge verdeutlichte Dilemma wird zeigen, ob die Bundesrepublik trotz der historischen Schuld, die sie auf sich geladen hat, den Mut findet, die gegenwärtigen Ereignisse in Gaza differenziert zu betrachten. Und als wie groß sie ihre Verantwortung, nicht nur gegenüber Israel, sondern auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft, empfindet.