Hanauer Mordnacht – der wahre Untersuchungsausschuss
In einer Ausstellung des Recherchekollektivs Forensic Architecture werden die Versäumnisse der Behörden und ihr respektloser Umgang mit Angehörigen minutiös dokumentiert
Warum hatte der Täter des rassistischen Anschlags von Hanau eine Waffenerlaubnis? Um diese Frage sollte es am vergangenen Montag im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags gehen, der sich den rassistischen Morden vom 19. Februar 2020 in Hanau widmet.
Doch die Befragung eines Mitarbeiters der zuständigen Waffenbehörde wurde schon kurz nach Beginn der Sitzung abgebrochen. Der Grund dafür sind laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hanau gegen Unbekannt.
Bereits zu Beginn der Befragung hatte der Anwalt eines Zeugen mit Blick auf das Ermittlungsverfahren auf das Aussageverweigerungsrecht seines Mandaten verwiesen. Auf die weitere Befragung des Mannes und der weiteren für Montag geladenen Zeugen wurde vorerst verzichtet. Der öffentliche Teil der Sitzung war damit beendet.
Kritik kam von der Obfrau der Fraktion Die Linke im hessischen Landtag, Saadet Sönmez: "Auch wenn es legitim ist, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, hätten die als Zeugen geladenen Mitarbeiter der Waffenbehörde Main-Kinzig dies vorher von Ihrem Anwalt mitteilen können", so Sönmez. Es sei respektlos, "den Ausschuss und die Öffentlichkeit derart auflaufen zu lassen".
Ein Affront ist dieses Vorgehen vor allem gegenüber den Freunden und Angehörigen der neun Toten des rassistischen Amoklaufs vom 19. Februar 2020.
Drei Türen – eine Ausstellung als Aufklärung
Ihr Leiden und ihr Kampf um Aufklärung stehen im Mittelpunkt einer Ausstellung, die bis zum 10. September 2022 im Frankfurter Kunstverein zu sehen ist. Unter dem Titel "Three Doors" hat sich das aktivistische Recherchekollektiv Forensic Architecture gemeinsam mit der Initiative 19. Februar, in der sich Angehörige und Unterstützer der Opfer zusammengetan haben, mit dem Ablauf der Todesnacht im wahrsten Sinne des Wortes minutiös beschäftigt.
So sieht man auf einem Bildschirm die entscheidenden Minuten in der Hanauer Arena Bar, als der Täter vor dem Gebäude bewaffnet aus seinem Auto steigt und schießend zur Tür hereinkommt. Die Besucher:innen der Bar flüchten in den Hinterraum und damit in eine Sackgasse, so dass der der Täter dort sechs Menschen erschießen konnte.
In der Untersuchung wird gezeigt, dass sie eine Überlebenschance gehabt hätten, wenn der Notausgang der Bar nicht verschlossen gewesen wäre. Dabei handelt es sich um eine drei titelgebenden Türen der Ausstellung. Bei der zweiten Tür handelt es sich um den Eingag zum Wohnhaus des Täters in Hanau-Kesselstadt, die in der Mordnacht von der Polizei nur unzureichend bewacht worden war. Der Mörder Tobias Rathjen hätte das Haus verlassen und sein blutiges Werk draußen fortsetzen können. Letztendlich erschoss er in der elterlichen Wohnung seine Mutter und sich selbst.
Eine andere Untersuchung widmet sich der drei fehlschlagenden Notrufe, die der 22-jährige Vili Viorel Paun an die Hanauer Polizei abgesetzt hatte. Das Notruftelefon war nicht besetzt. Der junge Mann hatte daraufhin in seinem Auto den Täter verfolgt und in den letzten Minuten seines Lebens verzweifelt versucht, die Polizei zu erreichen. Damit hätten mindestens die drei letzten Morde verhindert werden können.
Bevor Rathjen weiter Menschen tötete, erschoss er Vili Viorel Paun durch die Windschutzscheibe des Autos. Mittlerweile ist bekannt, dass der Polizeinotruf auch wegen kommunaler Einsparungen seit Jahren nicht ständig besetzt war.
Wer durch die Ausstellung geht, sollte sich Zeit nehmen. Denn hier werden die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Fehlern und Versäumnissen in der Mordnacht präsentiert, allerdings in Auftrag gegeben von den Organisationen der Opfer und ihrer Unterstützer.
Forensic Architecture arbeitet ausschließlich für zivile Betroffene sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Gewalt, für NGOs und unabhängige Vereine. Einzelne Projekte werden dabei vom Europäischen Forschungsrat mitfinanziert.
Bekannt geworden ist Forensic Architecture unter anderem durch die Rekonstruktion des NSU-Mordes an Halit Yozgat in Kassel, bei dem ein Verfassungsschutzmitarbeiter am Tatort war – und eine Untersuchung zur Dessauer Polizeizelle, in der 2005 der Geflüchtete Oury Jalloh verbrannt war. Auch hier zeigte sich, dass die offizielle Erklärung des Brandes, Jalloh habe sich selbst angezündet, nicht stimmen kann. Die verrauchte Tür dieser Zelle ist ebenfalls in der Ausstellung nachgebaut.
Angehörige wurden Opfer von Polizeigewalt
Im ersten Stock kann man die erschütternden Aussagen der Angehörigen der Hanauer Mordopfer hören, die immer wieder den mangelnden Respekt der staatlichen Behörden beklagen.
Ihm sei nicht geglaubt worden, als er als Augenzeuge und Überlebender der Mordserie in der Arena-Bar die Polizei angerufen habe, sagt Piter Minnermann. Juliano Kierpacz, der Sohn der in der Arena-Bar ermordeten Mercedes Kierzpacz berichtet, wie er und andere Angehörige der Getöteten in der Mordnacht Opfer von Polizeigewalt wurden.
Sie mussten stundenlang vor dem abgesperrten Bereich warten, weil sie keine Auskunft über das Schicksal ihrer Verwandten bekamen. Sie hatten sich in kalten Winternacht entschlossen, in einem Auto zu warten. Plötzlich kam ein Einsatzkommando, umstellte die Insassen des Wagens und forderte sie auf, mit erhobenen Händen herauszukommen. Erst nach rund zehn Minuten beendete die Polizei mit der Bemerkung "Das sind die Angehörigen" die Aktion.
Man kann sich schwer vorstellen, was Hinterbliebene fühlen, die ohnmächtig vor der Absperrung stehen und nicht zu ihrer ermordeten Freundin, Mutter und Tante kommen können und dann von der Polizei wie Täter behandelt werden. In diesem Augenblick wussten sie noch nicht, dass das Haus des Täters der Mordnacht unzureichend abgesichert worden war.
Das Ausstellungsprojekt ist ein Ort der Aufklärung über eine Gesellschaft, in der solche Morde immer vorkommen. Eine kleine Broschüre gibt online einen guten Überblick.
Nicht nach dem Mythos Mitte schielen
Nur an einem Punkt würde ich widersprechen. Da heißt es, dass die Randgruppen in der Debattenkultur am lautesten sind, was immer darunter verstanden werden. Anklagend wird behauptetet, dass wir eine Debattenkultur zulassen, "die von den Rändern aus bestimmt und nicht aus der Mitte der gesellschaftlich geführt wird". Es ist bedauerlich, dass auch progressive Künstler und Recherchierende dem Mitte-Mythos erlegen sind. In der Realität ist diese Mitte ein Konstrukt. Trotzdem streben fast alle in diese Mitte. Warum sagen die Beteiligten einer solchen Ausstellung nicht, dass sie dort gar nicht hin wollen? Vom Rand aus hätten sie die Möglichkeit, dieser imaginierten Mitte den Spiegel vorzuhalten.