"Hart zu sich, hart zu den Seinen"
Der Alltag auf dem Lande mit all seinem Neid, Hass und sexuellem Missbrauch: "Tannöd"
Süddeutschland, fünfziger Jahre: Eine komplette Bauernfamilie samt Kindern und Magd wird bestialisch ermordet. Andrea Maria Schenkel macht sich auf die Suche nach dem Mörder und wird in einem kleinen Dorf schließlich auch fündig. Noch interessanter als die Frage, wer der Täter ist, sind aber ihre genauen und feinsinnigen Beobachtungen eines Sozialmilieus, das sich aus Katholizismus, Postfaschismus und ungebrochener männlicher Macht speist.
Als die Familie Danner eines Mittags von den Nachbarn auf ihrem Hof erschlagen aufgefunden wird, ist die Aufregung im Dorf so groß wie das Mitleid gering. Denn keiner der Dörfler hat die Bewohner des abseitig gelegenen Anwesens Tannöd so richtig gemocht. Den einen gelten sie als Eigenbrötler, andere fühlen sich vom alten Danner betrogen. Solange der Täter noch nicht feststeht, bleibt deswegen viel Raum für Gerüchte über die Motive.
War es einer der von den Danners unregelmäßig angeheuerten billigen Gelegenheitsarbeiter, die sich in Tannöd das Hoftor in die Hand gaben? Hat sich eine ehemalige polnische Zwangsarbeiterin für ihre Pein in Kriegstagen gerächt? Oder hat der Teufel seine Klauen im Spiel, weil Gott so viel Inzest nicht mehr ertragen konnte? Klar ist nur, dass das Tatwerkzeug eine Spitzhacke war.
Schenkel hat mit "Tannöd" einen klassischen Krimi geschrieben. Und doch ist ihr Buch weit mehr als das. Sie rekonstruiert das Geschehen aus literarisch hübsch dokumentierten Gesprächen mit den Dörflern, die geschickt mit Passagen aus der Sicht des bis kurz vor dem Ende anonymen Täters, eines Zeugen sowie diversen Gebeten gemischt sind. Heraus kommt dabei eine detail- und atmosphärenreiche Untersuchung über die Verfasstheit des katholischen Provinzsubjekts in einer Zeit, in der der Nationalsozialismus militärisch zwar besiegt ist, im Inneren der Bürger aber zu nicht geringen Teilen fortlebt.
"Tannöd" ist also ein Krimi, der keinen Kriminalfall bräuchte. Der Alltag auf dem Lande mit all seinem Neid, Hass und sexuellem Missbrauch, seiner Gewalt und Knechtung des Einzelnen ist grausam genug. "Die geistige Enge war fast körperlich zu spüren", heißt es treffend an einer Stelle, Männer waren "alle gleich in ihrer Gier, in ihrer widerlichen Lüsternheit" an einer anderen. Der örtliche Pfarrer charakterisiert den alten Danner als "hart zu sich, hart zu den Seinen", könnte mit diesen Worten aber so gut wie jeden Mann im Dorf und auch so manche Frau meinen.
Der Mordfall wird schließlich aufgeklärt, die Last fällt von den Dorfbewohnern ab. Nun können sie weiter so sein wie sie eben sind. Das Grauen aber hat deswegen noch lange kein Ende. Schenkel ist ein eiskaltes und luzides Buch über die dunklen Seiten der katholisch-postfaschistischen Provinz gelungen. Man ahnt am Ende, dass es gibt Schlimmeres geben kann, als mit einer Spitzhacke erschlagen zu werden.
Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Edition Nautilus, Hamburg 2006. 128 S., 12,90 Euro