Harter Aufschlag
Schweden ist keine Ausnahmegesellschaft mehr
Schweden erlebt gerade, was gemeinhin "politische Krise" genannt wird. Einer kaum ins Amt gelangten rot-grünen Regierung, gestützt von der Linken, wird von einer Reichstags-Mehrheit der Haushalt der bürgerlichen Vier-Parteien-Opposition aufgezwungen. Es waren die fremdenfeindlichen Schwedendemokraten, die mit ihrem Stimmverhalten diese Entwicklung herbeiführten. Damit stand die Minderheitsregierung unter Stefan Löfven vor der Wahl, unmittelbar zurückzutreten und dem bestehenden Reichstag die Bildung einer neuen Regierung zu erlauben oder baldige Neuwahlen auszurufen. Letzteres geschah.
Was sich in derart dürre Worte kleiden lässt, wird von der Gesellschaft Schwedens als hochgradig aufwühlendes Drama empfunden und erlebt. Warum?
Seit längerem wirkt ein Spannungsfeld in der und auf die Gesellschaft, das den Schweden nunmehr eine Einsicht aufzwingt, die sie sich liebend gerne erspart hätten: Schwedens Gesellschaft ist eine Gesellschaft wie jede andere auch. Für alle anderen Gesellschaften wäre solche Aussage eine banale Binsenweisheit - für Schweden kommt es einer Revolution gleich.
Schweden war über Jahrhunderte eine arme, eine starre, eine konservative Gesellschaft. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts begann sich dies zu ändern, doch wurde die aufkommende Industrialisierung von häufigen und heftigen Klassenkämpfen begleitet. Es war die sozialdemokratische Regierung, der es nach Fehlschlägen 1938 gelang, Gewerkschaften und Unternehmer mit dem "Abkommen von Saltsjöbaden" in eine ökonomisch-politische Konkordanz zu zwingen.
Diese Konstellation erwuchs zum einen aus zentralen Grundzügen der schwedischen Gesellschaft, zum anderen wurde sie zur entscheidenden Produktivkraft für die kommenden Jahrzehnte. In einer vom Zweiten Weltkrieg erschütterten und aufgewühlten Welt vermochte sich Schweden nicht bloß zu behaupten, es schaffte den Aufstieg zu einer modernen, allgemeinen Wohlstand hervorbringenden Wirtschaftsnation. Und Ausfluss der in der Konkordanz enthaltenen Traditionslinien war der Wohlfahrtsstaat - weltweit als "schwedisches Modell" bekannt.
Gerne und ausgiebig sonnten sich die Menschen des kleinen, am Rande von allem gelegenen Schweden im Glanz solch globaler Vorbildrolle, der sich weitere Elemente hinzugesellten. Nicht nur die neutrale Friedensnation (die kürzlich 200 Jahre ohne Krieg feiern konnte), auch die nach seiner Abwendung von Deutschland angenommene Rolle als Moralnation und das Auftreten als Weltgewissen erzeugte in Schweden ein höchst eigentümliches Selbstbild.
Fremdenfeinde in der Heimstatt des Guten
Schweden weist in der Tat Vorzüge auf, von denen Menschen andernorts noch nicht einmal zu träumen wagen. Vertrauen, Akzeptanz, Toleranz, Ausgleich, Konsens, Teilen, Fürsorge sind hier weitestgehend gelebter Alltag. Beispielhaft: Wenn irgendwo auf der Welt eine Krise oder ein Krieg ausbricht und Menschen fliehen müssen - dann wird in Schweden als erstes gefragt, wie viele Menschen es sind, die aufgenommen werden müssen. Und das Land nimmt stets überproportionale Anteile auf.
Aus diesen Gründen sahen und empfanden Schweden sich und ihre Gesellschaft stets als etwas Besonderes, als vorbildlich, als unvergleichlich. Es war eine Genugtuung, weltweit respektiert, geachtet, anerkannt, gepriesen zu werden. In schwedischen Augen war Schweden eine einzigartige Gesellschaft, gleichsam Heimstatt "des Guten". Dieses Selbstbild als "humanitäre Großmacht" verfestigte sich - mit der Folge, dass aufziehende Probleme und Spannungen eher ignoriert und verdrängt wurden.
So menschlich und großzügig die Aufnahme von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Immigranten war - so ungenügend war die Begleitung und Unterstützung, wenn die Menschen denn in Schweden angekommen waren. Viele der Jugendkrawalle der vergangenen Jahre künden von der Problematik. Das Selbstbild blieb gleichwohl bestehen; weil gewandelte Realitäten nicht anerkannt wurden, kamen Züge von Selbstgerechtigkeit auf.
Und dies wurde der Nährboden für den Aufstieg der fremdenfeindlichen Schwedendemokraten. Dass jeder achte Schwede bei den Wahlen im September 2014 für diese Partei gestimmt hat, erschüttert die Mehrheitsgesellschaft - sie erstarrt gleichsam in ungläubigem Staunen, das in bloßer Empörung und anhaltender Untätigkeit mündet. Die aktuelle politische Krise verschärft die Situation dramatisch. Auch wenn sie sich weiterhin an die imaginierte Realität klammert und es nicht wahrhaben will, schlägt die schwedische Gesellschaft hart in der tatsächlichen Realität auf.
Auf dieser Grundlage gelang es den Fremdenfeinden und Rassisten, wie die Kommentatorin Malin Ullgren es ausdrückte, nicht nur die Politik, sondern die Gesellschaft zur Geisel zu nehmen. Erst wenn die Mehrheitsgesellschaft dies nicht bloß zur Kenntnis nimmt, sondern anerkennt und ernsthafte Folgerungen zieht - erst dann wird Schweden wieder in der Lage sein, seine vormalige beispielhafte Rolle auszufüllen.