Hat Essen die Popmusik als Identitätsmarker ersetzt?

Seite 2: Veganismus und Superfood

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Allerdings macht nicht jede Essensmode gleich satt - und bei manchen Mahlzeiten ist man versucht, an die Asterix-Weisheit zu denken, dass eine Armee um so besser ist, je schlechter das Essen schmeckt, mit dem man sie verköstigt. Vor allem die Veganismusmode, die aktuell schon wieder etwas abflaut (vgl. Vegansupermarktkette muss Filialen schließen), ist sehr von Verzicht und einem Genuss zweiter Ordnung geprägt - durch Distinktion und "Virtue Signaling", wie bei Magersüchtigen, denen nicht das Essen, sondern das Nichtessen ein gutes Gefühl gibt (vgl. Masochismus und Verzichtsideologie).

Aus diesem Grund birgt der Veganismus auch ein Paradoxon in sich: Seine Missionare fordern den Verzicht zwar meist als Wir-Imperativ für die gesamte Menschheit ("Wir müssen"), distinguieren sich aber gleichzeitig mit ihm - weshalb sie immer neue Tabus erfinden müssen, wenn die alten "Mainstream" geworden sind, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede darlegt (vgl. Kostüme und "kulturelle Aneignung"). Zudem ist eine rein vegane Ernährung beim Menschen nicht problemlos: "Frutarier", die auf Nahrungsergänzungszusätze wie B12 verzichten, setzten sich dem Risiko aus, nicht nur einen Mangel an diesem Vitamin entwickeln, das in Pflanzen nicht vorkommt, sondern auch einen an Vitamin D, Zink, Eisen, Selen, Jod, Kalzium, Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren und weiteren Stoffen. Solche Mangelerscheinungen können unter anderem zu Nervenschäden führen - vor allem bei Kindern (vgl. Extremer Veganismus schädigt das Hirn).

Kreislauf der Distinktion

Weniger gehährlich sind die "Superfood"-Moden: Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, dass ein Nahrungsmittel Inhaltsstoffe wie Mineralstoffe und Vitamine erhält, die nicht in jedem Produkt reichlich vorkommen. Als Superfood wurde zum Beispiel der vorher in den USA und Europa kaum bekannte südamerikanische Getreideersatz Quinoa und die vorher nur in Mexiko verwendeten Chia-Körner verkauft. Quinoa enthält unter anderem Proteine, ungesättigten Fettsäuren,Vitamin B2, Magnesium, Kalium, Zink und Eisen, Magnesium und Mangan; Chia Vitamin A, Niacin, Thiamin, Riboflavin, Folsäure, Kalzium, Phosphor, Kalium, Zink und Kupfer. All diese Inhaltsstoffe kann man sich zwar auch über andere - kostengünstigere - Lebensmittel zuführen, aber diese bringen erst dann einen Distinktionsgewinn, wenn sie zur Mode werden.

Nachdem es Chia- und Quinoa-Produkte mittlerweile sogar in Supermärkten gibt, wird es für die Distionktionsavantgarde höchste Zeit, etwas neues zu finden, um sich wieder wirksam abzugrenzen. Mit der Dauer einer Mode schwindet nämlich tendenziell ihr Distinktionsgewinn: Sie sickert dann von den oberen in die unteren Klassen, die sie imitieren - und eignet sich für oberen nicht mehr dazu, sich von den unteren abzugrenzen und demonstrativ zu unterscheiden. Diese Dynamik der Distinktion erlaubt auch, dass alte bäuerlich-proletarische Lebensmittel zur Mode erhoben werden, wenn eine Avantgarde der oberen Klassen von unteren Klassen abgelegte und vorher explizit unmodische Inhalte aufnimmt (vgl. Superfood Blunzn).

Die ganz subjektiven Top 10 unter den neuen Identitätsmarkern (10 Bilder)

Steckerlfisch. Foto: Rainer Zenz. Lizenz: CC BY-SA 3.0