Hat die hessische Landesregierung Steuergeld verwettet?
Durch Derivate droht ein Schaden in Milliardenhöhe - 375 Millionen Euro sollen bereits unwiederbringlich verloren sein
Wetten gilt im Allgemeinen nicht als angemessener Umgang mit fremdem Geld. Der Welt am Sonntag nach hat es die hessische Landesregierung trotzdem gemacht.
Dem Bericht der Zeitung zufolge wetteten Finanzminister Thomas Schäfer und Ministerpräsident Volker Bouffier bald nach ihrem Amtsantritt im August 2010 mit insgesamt 65 Derivaten darauf, dass die Zinsen steigen. Das machten sie nicht mit ihrem privaten Geld, sondern über die Schuldenverwaltung des hessischen Finanzministeriums. Die Europäische Zentralbank (EZB), von der man erwarten würde, dass Regierungspolitiker einen guten Zugang zu ihr haben, sorgte jedoch dafür, dass die Zinsen nicht stiegen, sondern noch weiter sanken.
Finanzminister Schäfer: "Nicht spekuliert, sondern für Planungssicherheit gesorgt"
Damit konfrontiert, meinte Schäfer, er und Bouffier hätten "nicht spekuliert, sondern für Planungssicherheit gesorgt". Außerdem müsse zur Beurteilung der Geschäfte das Ende der Laufzeit der Derivate abgewartet werden. Der Welt am Sonntag zufolge hat der hessische Landesrechnungshof aber bereits unwiederbringliche Mehrausgaben in Höhe von 375 Millionen Euro errechnet, die leicht auf mehrere Milliarden ansteigen können. Die Buchverluste liegen demnach aktuell bei 3,2 Milliarden Euro. Den Informationen der Zeitung nach streitet die Landesregierung mit dem Landesrechnungshof seit 2017 über einen Bericht zu diesen Erkenntnissen, der bislang noch nicht veröffentlicht wurde.
Diese Verzögerung könnte im Zusammenhang mit der Landtagswahl stehen, die in Hessen am 28. Oktober stattfindet. Von CDU-Seite wird so ein Zusammenhang jedoch bestritten. Bei den Grünen verweist man lediglich darauf, dass die Derivatwetten bereits vor dem Regierungseintritt 2014 begannen. Die hessische FDP, mit der Bouffier vorher regierte, hält sich entsprechend wenig überraschend bedeckt, während die hessische Linke prüfen lassen will, "ob und wie das Land Hessen aus den bereits bestehenden Geschäften aussteigen kann". Ohne massive Verluste dürfte das kaum gehen.
Zinswetten in zwölf der 16 Bundesländer
SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel fordert dagegen lediglich eine "vollumfängliche Aufklärung" und "volle Transparenz zu den Berechnungen". Dass er nicht mehr verlangt, könnte damit zusammenhängen, dass sich auch seine SPD in mehreren Bundesländern an Zinsderivatgeschäften beteiligt hat. Tatsächlich haben sich Regierungspolitiker in zwölf Bundesländern darauf eingelassen: Außer in Hessen noch in Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Brandenburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und Berlin.
In mindestens sieben Bundesländern sind dabei Buchverluste angefallen. Am höchsten sind sie mit 4,1 Milliarden Euro in Baden-Württemberg, wo der FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke einen "Ausstieg" fordert. Dort hatten die Liberalen bereits in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf eingebracht, der Zinswetten mit Steuergeld verboten hätte.
Berlin und Saarland verweigern Angaben
Zwei Bundesländer verweigern Angaben dazu, wie sich ihre Zinswetten entwickelt haben: Die Berliner Landesregierung gab nach Verweis auf die Auskunftspflicht im Pressegesetz zwar widerwillig den Besitz von 137 Derivaten zu, nennt aber nur deren Nominalvolumen (7,8 Milliarden Euro) und nicht den aktuellen Barwert, zu dem es heißt, er habe "aus Sicht des Landes Berlin […] keine Aussagekraft und [sei] als Vergleichsgröße ungeeignet".
In der FDP-Fraktion prüft man deshalb, ob SPD, Grüne und Linke mit einer parlamentarischen Anfrage zur Herausgabe dieser Information gezwungen werden können. Aus der AfD-Fraktion heißt es dagegen im Gespräch mit Telepolis, Parlamentarier erhielten bereits jetzt Auskunft über die Derivate, dürften aber der Öffentlichkeit nichts darüber sagen. Bei der letzten Überprüfung 2017 sei der Finanz- und Haushaltssprecherin Dr. Kristin Brinker nichts "Kritisches" aufgefallen, man halte es aber für fragwürdig, dass der Senat die Öffentlichkeit nicht besser informiert.
Im schwarz-rot-regierten Saarland ist die Begründung für die Auskunftsverweigerung ähnlich wie im rot-rot-grün-regierten Berlin: "Barwerte der Derivate", heißt es im kleinsten Flächenland, seien "nicht relevant und größtenteils auch nicht bekannt". Dort hat nicht die FDP, sondern die vom ehemaligen Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine angeführte Linksfraktion einen parlamentarischen Vorstoß angekündigt, um Transparenz herzustellen.
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