Hausbesuche für einen guten Start ins Leben

Ein Projekt unterstützt werdende Mütter in schwierigen Lebenssituationen, um den Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen und Missbrauch und Vernachlässigung der Kinder vorzubeugen

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Aufsehen erregende Fälle von gequälten und vernachlässigten Kindern erscheinen mit trauriger Regelmäßigkeit in den Medien. Die Geschichten, die dahinter zu Tage kommen, erzählen von Armut und Verwahrlosung, die manche Eltern in einem endlosen Kreislauf an ihre Kinder weitergeben. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen und Mütter in schwierigen Lebenslagen in der Schwangerschaft und den ersten beiden Lebensjahren des Kindes zu unterstützen, ist eines der Ziele des Modellprojekts "Pro Kind - Wir begleiten junge Familien", das vergangenen November in Hannover in die aktive Phase getreten ist. Es basiert auf dem von David Olds entwickelten Programm "Nurse-Family Partnership".

Das Hausbesuchsprogramm „Nurse-Family Partnership" (NFP) ist nicht neu. Es wird schon seit etwa 30 Jahren in den USA angewendet, 1996 hat es das Center for the Study and Prevention of Violence der Universität Colorado in Boulder auf die Liste der herausragenden amerikanischen Präventionsprojekte, so genannte Blueprint-Modelle, gesetzt.

Frühes Handeln hilft

In 22 US-Staaten betreuen „Nurses“ zurzeit mehr als 24.000 Frauen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die mit dem ersten Kind schwanger sind, im Rahmen von Hausbesuchen. Die werdenden Mütter sollen gesundheitsbezogenes Verhalten lernen und elterliche Erziehungskompetenzen entwickeln. Zahlreiche Studien attestieren dem Programm Erfolg: die mütterliche und kindliche Gesundheit während der Schwangerschaft verbesserte sich. Die Mütter hatten weniger weitere Schwangerschaften und längere Abstände dazwischen.

Bis zum 6 Lebensjahr ließ sich bei den Kindern eine signifikante Verbesserung der kindlichen Entwicklung feststellen: ein höherer IQ, bessere Sprachentwicklung, weniger geistige/psychische Probleme. Misshandlung und Vernachlässigung sanken um 48 Prozent, die Rate späterer Verhaftungen im Jugendalter um 59 Prozent (vgl. hier).

Start in fünf Kommunen

Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e. V. (KFN) in Hannover hat das Projekt 2005 zusammen mit Ursula von der Leyen, damals noch Sozialministerin in Niedersachsen, in Deutschland initiiert. Nach einer halbjährigen Pilotphase, in der die Materialien des US-Projekts ins Deutsche übertragen und für deutsche Verhältnisse adaptiert wurden, ist das Projekt vergangenen November in Hannover in seine Hauptphase gestartet.

Ein Praxisteam bestehend aus einer Projektleitung, einer Sozialpädagogin, einer Hebamme und Pädagogin sowie einer Bürokraft betreuen fünf Kommunen (Braunschweig, Wolfsburg, Celle, Hannover, Göttingen), in denen Familienbegleiterinnen – ausgebildete Hebammen und Sozialpädagoginnen – Familien in sozial schwierigen Situationen besuchen.

Welche Zielgruppe hat das Projekt?

„Die Teilnehmerinnen müssen Erstgebärende zwischen der 12. und 28. Schwangerschaftswoche sein, sich in einer finanziell schwierigen Lage befinden, z. B. durch Hartz IV, Überschuldung oder ein geringes Einkommen, und es muss noch ein persönlicher Belastungsfaktor, also etwa Minderjährigkeit, Arbeitslosigkeit, Gewalterfahrung, Krankheit oder psychische Probleme, dazukommen. Finanzielle und persönliche Belastung gehen ja oft Hand in Hand“, erklärt Anna Maier-Pfeiffer, die Leiterin des Projektbüros. „Schwer Drogenabhängige allerdings nehmen wir nicht auf, für sie würde unser Betreuungsangebot nicht ausreichen.“

Frühkindliche Probleme wachsen sich nicht aus

Die nachhaltige Wirkung des Projekts liegt im frühen Zeitpunkt der Unterstützung begründet. Es ist bekannt, dass chronische Armut und soziale Benachteiligung die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen und Verhaltensprobleme im Erwachsenenalter ihren Ursprung häufig in der frühen Kindheit haben. Doch in Deutschland gibt es bislang keine gezielten staatlichen Maßnahmen, um Kindern aus Problemfamilien noch vor der Geburt zu helfen, sie setzen erst danach ein – dann, wenn Probleme bereits manifest geworden sind.

Soziale Benachteiligung wirkt sich schon vor der Geburt auf die Gesundheit des Kindes aus. Inadäquate Ernährung, häufigerer Drogenkonsum, Stress können zu einem niedrigeren Geburtsgewicht, mehr Frühgeburten oder mehr Geburtskomplikationen führen. Wir nehmen daher Frauen zwischen der 12. bis 28. Schwangerschaftswoche auf. In der Zeit nach der 28. Schwangerschaftswoche liegt die sensible Phase für die schädigende Wirkung von Teratogenen wie Alkohol oder Drogen auf die Gehirnentwicklung. Bis spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte die Familienbegleitung gestartet sein“, so Tanja Jungmann, die die wissenschaftliche Begleitung des Projekts für das KFN übernommen hat:

Darüber hinaus soll durch die Hausbesuche in der Zeit bis zur Geburt eine Vertrauensbeziehung zwischen der schwangeren Frau und der Familienbegleiterin wachsen. Ohne diese durch Wertschätzung, Wärme, Echtheit und Akzeptanz geprägte therapeutische Allianz funktioniert das Projekt nicht.

Hausbesuch bedeutet, dass Teilnehmerinnen beginnend in der Schwangerschaft bis zum 2. Geburtstag des Kindes regelmäßig Besuch von einer Familienbegleiterin bekommen. Erst wöchentlich, dann 14-tägig. Die Gespräche dauern etwa anderthalb Stunden; als Leitfaden dient ein Handbuch, das sich mit Themen wie Gesundheit, Ernährung, Bindung, Erziehung, Familie und Freundeskreis beschäftigt. Dazu erfolgt Beratung in allen anderen Problemlagen und auch die Möglichkeiten einer Ausbildung werden erörtert.

Die Herstellung einer positiven Beziehung klappt überwiegend, aber es gibt auch einige Wenige, die sich entziehen, weil sie niemanden zu Hause haben wollen. Doch die ganz überwiegende Resonanz ist positiv. Die meisten Frauen haben erstmals das Gefühl, ernst genommen zu werden und Wertschätzung zu erfahren. Das gehört auch zur Philosophie des Programms. Wir versuchen, bei ihren Stärken anzusetzen und die jungen Mütter zu stabilisieren, ohne sie zu bevormunden. Sie sollen nicht einfach Anweisungen ausführen, sondern aktiv mitmachen. Nur so kann der Effekt auch nach Ende des Projekts wirken.

Anna Maier-Pfeiffer

Erst einmal die Wohnung aufräumen

Beratung und erforderliche Hilfeleistungen sind höchst individuell. Manchmal handelt es sich um ganz grundlegende Dinge, wenn eine Teilnehmerin noch nie gekocht hat, nicht weiß, wie man einkaufen geht, oder wenn zuerst einmal die Wohnung aufgeräumt werden muss. Schwieriger sind da Probleme wie Überschuldung und Wohnungsnot. Um hier möglichst umfassend unterstützen zu können, arbeitet das Projekt am Aufbau eines breiten Netzwerks.

Laufzeit bis 2011

Das Projekt wird bis zirka 2011 dauern. Bis dahin sollen 340 Frauen und ihre Kinder am Projekt teilnehmen. Die wissenschaftliche Begleitforschung am KFN in Kooperation mit der Leibniz Universität Hannover prüft parallel, ob das Modell gut und wirksam aus dem Amerikanischen übertragen wurde.

Eine biopsychosoziale Evaluation ermittelt, wie die Kinder und die Bindung zwischen Mutter und Kind sich entwickelt und wie es mit den Müttern bei ihrer Lebensplanung weitergeht. Aber es gibt auch eine Kosten-Nutzen-Analyse, die prüft, ob das Projekt unter finanziellen Gesichtspunkten interessant ist, denn nur dann wird das Projekt – Erfolg hin oder her – eine Chance haben, auch in anderen Bundesländern zum Einsatz zu kommen.