Heißer Herbst im Kosovo
Die Verhandlungen über einen Kompromiss für den völkerrechtlichen Status des Kosovo stehen vor dem Scheitern
Das diplomatische Tauziehen währt schon Monate. Bereits seit Februar treffen sich in Wien unter Vermittlung des von UN-Generalsekretär Kofi Annan bestellten finnischen Unterhändlers, Martti Ahtisaari, Delegationen der serbischen und albanischen Seite um über die Zukunft des Kosovo zu verhandeln. Zur Debatte steht der völkerrechtliche Status der umstrittenen Provinz. Während die albanische Bevölkerungsmehrheit mit Nachdruck die vollständige Unabhängigkeit der Provinz fordert, will die serbische Regierung Kosovo lediglich eine weit reichende Autonomie einräumen. Nun zeichnet sich ein Scheitern der Diplomatie ab. Gewaltdrohungen von beiden Seiten sorgen für Angst vor einem heißen Herbst.
Es war ein Überraschungscoup: In ungekannter Einigkeit hat am vergangenen Wochenende das serbische Parlament im Eilverfahren einstimmig den Entwurf für eine neue Verfassung beschlossen. Brisant ist dabei vor allem die Präambel des Textes. Die seit der NATO-Intervention im Frühjahr 1999 von der UN-Übergangsadministration UNMIK verwaltete Krisenprovinz Kosovo wird darin unzweideutig als „konstitutiver Bestandteil“ des serbischen Staatsterritoriums definiert:
Alle Staatsorgane werden von der Verfassung darauf verpflichtet, die Interessen des serbischen Staates in Kosovo und Metohija in allen innen- und außenpolitischen Beziehungen zu repräsentieren und zu verteidigen.
Damit lässt die Regierungskoalition unter Führung des nationalkonservativen Premierministers Vojislav Kostunica – aber auch die liberale und rechtsgerichtete parlamentarische Opposition – keinen Zweifel mehr, dass sie unter keinen Umständen einer Unabhängigkeit des Kosovo zustimmen werden. Diese Position soll am 28./29. Oktober zusätzlich durch ein Referendum bekräftigt werden. Dann sollen die etwa 6,5 Millionen Wahlberechtigten in Serbien ihr Votum für die neue Verfassung abgeben. Unter den gegebenen Umständen wird es eine Volksabstimmung für den Verbleib von Kosovo in Serbien werden.
Gewaltdrohungen von beiden Seiten
Mit der für die meisten internationalen Beobachter und Diplomaten überraschenden Ausschreibung des Verfassungsreferendums hat die serbische Regierung den Startschuss für die heiße Phase im Wettlauf um die Zukunft Kosovos abgegeben. Ihr gegenüber steht die Position der albanischen Seite. Von ihr wird ein wie auch immer gearteter Verleib Kosovos in Serbien kategorisch ausgeschlossen. Die albanischen Regierungsfunktionäre unter Führung des Kosovo-Ministerpräsidenten und ehemaligen Generalstabschefs der Kosovo-Befreiungsarmee UCK, Agim Ceku, haben schon zu Beginn der Verhandlungen klar gemacht, dass für sie nur die Unabhängigkeit akzeptabel sei. Auf diese Position wurde das Verhandlungsteam in Wien durch eine Resolution des Kosovo-Parlamentes verpflichtet. In zahlreichen Stellungnahmen hochrangiger albanischer Politiker wurde sie seither immer wieder bekräftigt. Besonders offensiv unterstützt werden die Kosovo-Albaner dabei vom albanischen Premierminister Sali Berisha.
Brisant wird die Zuspitzung vor allem durch Gewaltdrohungen, die von beiden Seiten ausgesprochen werden. Führende albanische Intellektuelle und Politiker haben in den vergangenen Monaten immer wieder davor gewarnt, dass eine weitere Verzögerung der Unabhängigkeitserklärung einen neuen gewaltsamen Aufstand provozieren könnte. Bereits im Herbst vergangenen Jahres warnte der Präsident des Schriftstellerverbandes und ehemalige UCK-Sprecher, Adem Demaci, vor einem „neuen Krieg“. Auf eine andere Weise formulierte es vor zwei Wochen Kol Berisha, der amtierende Präsident des Kosovo-Parlamentes. Er erklärte, die internationale Gemeinschaft müsse Kosovo als unabhängigen Staat anerkennen, weil es sonst zu einer „Revolte der Bevölkerung“ kommen könne.
Genau das Gegenteil wird in Belgrad verlautbart. Von serbischer Seite wird mit Gewalt gedroht, falls es zu einer Unabhängigkeit kommen sollte. Der Chef der einflussreichen Serbischen Radikalen Partei (SRS), Tomislav Nikolic, erklärte Ende Juli, die „bewaffnete Verteidigung“ sei die letzte Möglichkeit zum Erhalt Kosovos in Serbien. Die SRS stellt die größte Fraktion im serbischen Parlament, ist allerdings nicht an der Regierung beteiligt. Aber auch hochrangige Regierungsfunktionäre kokettieren mit dem Einsatz der Armee. Bei einer Militärparade in Belgrad sagte Mitte September Premierminister Kostunica vor Absolventen der Offiziersschule: „Ich weiß, dass Kosovo tief in Eurem Herzen und Euren Gedanken eingeschlossen ist, weil Kosovo das Herz Serbiens und die Seele unseres Volkes ist.“ Und natürlich fehlte auch Kostunicas Standartspruch nicht, den er seit Monaten in fast jeder Rede wiederholt: „Kosovo war immer und wird immer Serbien sein.“
Verhandlungsprozess ohne Erfolge
Mit dem kategorischen Beharren beider Seiten auf ihren Ausgangspositionen kann nun der Verhandlungsprozess als weitgehend gescheitert betrachtet werden. Die von Ahtisaari geführte UNOSEK (United Nations Office of the spezial envoy for Kosovo) hat keinen einzigen substantiellen Erfolg zu melden. Denn nicht nur im Hauptstreitpunkt der Statusfrage wurde keine Einigung oder auch nur eine Annäherung erreicht. Auch in anderen umstrittenen Themen ist bei den zahlreichen Treffen der Delegationen im vergangenen halben Jahr in Wien bisher kein einziges Abkommen zwischen den Konfliktparteien zustande gekommen. Dazu zählen Fragen wie der Schutz der ethnischen Minderheiten, der Schutz historischer Kulturgüter und vor allem die wichtige Frage der Dezentralisierung und Gemeindereform. Diese wurde von den internationalen Vermittlern als das Schlüsselelement betrachtet, den ethnischen Minderheiten im Kosovo – vor allem Serben und Roma – begrenzte Selbstbestimmungsrechte und Sicherheitsgarantien einzuräumen.
Wie Ahtisaari vom Beginn des Verhandlungsprozess an immer wieder betonte, sollte bis Ende dieses Jahres eine Lösung gefunden werden. Angesichts der festgefahrenen Situation will Ahtisaari nun ein Dokument ausarbeiten, in dem er einen eigenen Vorschlag unterbreitet. Wie Medien unter Berufung auf Quellen in der Balkan-Kontaktgruppe berichten, soll dieser in diplomatischen Kreisen seit langem diskutierte Vorschlag eine „bedingte Unabhängigkeit“ Kosovos mit Sicherheitsgarantien für die serbische Minderheit vorsehen. Die bisherige UNMIK-Verwaltung würde durch eine Mission der Europäischen Union abgelöst. Die KFOR Truppe würde im Kosovo stationiert bleiben. Wie Ahtisaari am vergangenen Dienstag sagte, erwägt er mit der Unterbreitung seines Kompromissvorschlages allerdings, die Neuwahlen in Serbien abwarten, die nach dem Verfassungsreferendum wahrscheinlich im Dezember anstehen.
Ein solcher Kompromissvorschlag müsste zuerst vom UN-Sicherheitsrat angenommen werden und dann unilateral von der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt werden, falls – wie zu erwarten – vor allem die serbische Seite nicht zustimmen würde. Die Vorraussetzung für dieses Notfallszenario ist allerdings, dass der UN-Sicherheitsrat dazu überhaupt bereit ist. Dass es dazu ohne weiteres kommt, ist indes ungewiss. Denn die Veto-Mächte Russland und China haben sich bisher immer wieder gegen eine Lösung in der Kosovo-Frage ausgesprochen, die keine Zustimmung Serbiens findet. Serbiens Präsident Boris Tadic hat außerdem nachdrücklich davor gewarnt, eine „aufgezwungene Lösung“ könne zu „ethnischen Auseinandersetzungen mit schwer voraussehbaren Konsequenzen“ führen. Somit könnte für die internationale Gemeinschaft in der Kosovo-Frage in den nächsten Monaten eine gefährliche Sackgasse entstehen.
Wie ernst die Lage eingeschätzt wird, zeigen die Notfallplanungen des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das sich in Südserbien bereits seit geraumer Zeit auf die Aufnahme von bis zu 60.000 serbischen Flüchtlingen vorbereitet. Der Öffentlichkeit gegenüber wird allerdings Zweckoptimismus versprüht. Der derzeitige Chef der UN-Verwaltung und ehemaligen Bürgermeister von Sindelfingen, Joachim Rücker, will trotz der unübersehbaren Gewitterwolken, die über dem Kosovo aufziehen, keine Gefahren sehen.
Worin liegt der Grund für das für viele internationale Beobachter überraschende kategorische Beharren Belgrads auf dem Kosovo? Die Antwort auf diese Frage kann keineswegs ausschließlich mit einem Verweis auf den „serbischen Nationalismus“ geklärt werden, der die Milosevic-Ära überlebt habe, wie westliche Politiker und Medien oft betonen. Zwar ist es richtig, dass der viel beschworene „Kosovo-Mythos“ vom Amselfeld als der „Wiege der serbischen Nation“ und dem „serbischen Jerusalem“ vor allem von der serbischen orthodoxen Kirche weiter propagiert wird. Sie hat in den zahlreichen mittelalterlichen Klöstern des Kosovo ihr spirituelles Zentrum. Andererseits gibt es jenseits der nationalreligiösen Verklärungen aber auch eine Reihe von anderen gewichtigen Argumenten und handfesten Gründe für das serbische Festhalten am Kosovo.
Angespannte Sicherheitslage für Minderheiten
An erster Stelle ist hier die angespannte Sicherheitslage für die im Kosovo verbliebene über 100.000 Köpfe zählende serbische Minderheit zu nennen. Trotz gebetsmühlenhafter Beteuerungen der UN-Verwaltung, die Sicherheitslage für die ethnischen Minderheiten habe sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert, sieht die Realität völlig anders aus.
Von den internationalen Medien kaum beachtet, kommt es im Kosovo regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen albanischer Extremisten auf die serbische Minderheit und andere ethnische Minderheitengruppen wie die Roma und Goraner. In den vergangenen Monaten kam es fast wöchentlich und manchmal auch öfter zu Bombenanschlägen wie vergangenen Montag in Dragaš. In einem Brief des Kosovo-Koordinationszentrums der serbischen Regierung an die UNMIK wird allein für den Zeitraum des halben Jahres zwischen Oktober 2005 und Juni 2006 von 188 ethnisch motivierten Angriffen albanischer Extremisten auf die Kosovo-Serben berichtet. Nach serbischen Regierungsangaben - die im wesentlichen von internationalen Organisationen bestätigt werden - sind seit dem Einmarsch der NATO im Juni 1999 weit über 200.000 Kosovo Serben und Angehöriger anderer nicht-albanischer Minderheiten aus Kosovo geflohen und mehrere hundert ermordet worden.
Aber es sind nicht nur serbische Stellen, die ein düsteres Bild der Lage zeichnen. Auch internationale Menschenrechtsorganisationen weisen nachdrücklich auf die äußerst angespannte Lage hin. Die angesehene Minority Rights Group aus London erklärt in einem Bericht vom August:
Nirgendwo in Europa gibt es ein solches Niveau der Angst für so viele Minderheiten, verfolgt oder attackiert zu werden.
Die Situation der nicht-albanischen Minderheiten sei „wenig von einem Desaster entfernt“. Es bestehe ein „hohes Risiko erneuter ethnischer Säuberungen“. Die Minderheiten-Experten drücken dabei vor allem auch Kritik an der UN-Verwaltung und ihrem ignoranten Verhalten aus: „Es ist fast unvorstellbar, dass all diese Fehler von einer internationalen Verwaltung gemacht wurden.“
Tatsächlich wiegt die jahrelange Vernachlässigung der Sicherheitsbedürfnisse der serbischen und anderen nicht-albanischen Minderheiten im Kosovo durch die UN-Verwaltung und KFOR heute schwer. Sie ist Wasser auf den Mühlen der serbischen Regierung, die behauptet, im Fall der Unabhängigkeit würden die Minderheiten komplett ohne Schutz vor den Übergriffen bleiben. Es sind dabei vor allem zwei Versäumnisse, die weit reichende Folgen haben. Wie die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in mehreren Berichten nachdrücklich deutlich macht, haben UNMIK und KFOR-Truppe weder im Sommer und Herbst 1999 noch im März 2004 die großflächigen ethnischen Säuberungen, welche von albanischen Extremisten ausgingen, effektiv gestoppt. Gleichzeit hat es von Seiten der UNMIK-Justiz praktisch keine strafrechtliche Verfolgung der Täter gegeben. Die Vertreibung der nicht-albanischen Minderheiten blieb weitgehend straflos. Holly Cartner von HRW erklärt: „Die Lösung des Kosovo-Status ohne das Justizsystem auf die Beine zu stellen wird Kosovos Zukunft vergiften“.
Sezession als Präzedenzfall
Neben der Sicherheitslage kann die serbische Seite ein zweites Argument gegen die Unabhängigkeit vorbringen, das nicht einfach zu entkräften ist. Wie der serbische Außenminister Vuk Draskovic erklärt, wäre eine Unabhängigkeitserklärung ein „Präzedenzfall“, der auf dem ganzen Balkan weitere Grenzkonflikte provozieren und die labile Stabilität in Region gefährden könnte.
Tatsächlich würde eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovos – ob „bedingt“ oder nicht – ein zentrales Prinzip der internationalen Gemeinschaft brechen, das bisher beim Zerfall Jugoslawiens stets aufrechterhalten wurde. Nach den Richtlinien der Badinter Kommission von 1991 wurden bisher immer nur die Sezessionen der Republiken der ehemaligen Föderation anerkannt. Diese sollten dabei ihre Grenzen beibehalten. Mit diesem Argument wurde 1991 der Abspaltungsversuch der serbischen Bevölkerungsgruppe in Kroatien verhindert. Und auch die ethnische Zerteilung Bosniens wurde auf der Grundlage dieses Prinzips letztlich verhindert.
Kosovo genoss im früheren Jugoslawien aber niemals den Status einer Republik, sondern war lediglich eine autonome Provinz Serbiens. Eine Unabhängigkeitserklärung Kosovos wurde daher 1992 von der internationalen Gemeinschaft auch ausgeschlossen. Sollte sie jetzt dennoch erfolgen, würde das Prinzip der Badinter Kommission gebrochen und ein doppelter Standard angelegt werden. Damit würde eine Reihe von schwelenden Grenzkonflikten im ehemaligen Jugoslawien wieder aufbrechen. Vor allem in Bosnien könnte dies zu schweren Auseinandersetzungen führen.
Der bei Wahlen am vergangenen Sonntag bestätigte Regierungschef der serbischen Entität in Bosnien, Milorad Dodik, hat in den vergangenen Monaten mehrmals angekündigt, eine Unabhängigkeit Kosovos würde der Anlass für ein Sezessionsreferendum der bosnischen Serben sein. Wie die New York Times schreibt, befürchten westliche Diplomaten nun das Aufbrechen neuer Gewalt in Bosnien, falls diese Entwicklung eintritt. Der äußerst hart geführte Wahlkampf hat in Bosnien die ethnische Spaltung weiter vertieft.
Die „Büchse der Pandora“
Auch über den Balkan hinaus könnte das Beispiel einer unilateral durchgesetzten Unabhängigkeit Kosovos latente Konflikte weiter anheizen. Die Moldawien-Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Anneli Ute Gabanyi, warnt beispielsweise vor der Zuspitzung des vergessenen Konfliktes um die Provinz Transnistrien, die sich vor einigen Wochen mit einem Referendum von Moldawien unabhängig erklärt hat und eine Vereinigung mit Russland anstrebt. Die Mitarbeiterin des der Bundesregierung zuarbeitenden renommierten Think Tanks mahnte Ende September gegenüber der Deutschen Welle:
Ich war unter den Ersten, die in der Lösung des Kosovo-Konflikts einen Wendepunkt in der ganzen internationalen Politik festgestellt hat. Europa und die USA sind jetzt schlicht auf dem Weg zur Öffnung der Büchse der Pandora. Es kann sein, dass Europa und der Westen allgemein unangenehme Überraschungen – nicht nur im Kosovo - erleben werden. Meiner Meinung nach haben wir es zum ersten Mal mit einer Abtrennung einer nicht staatlichen Einheit zu tun. Kosovo wäre der erste Fall einer Spaltung eines einheitlichen Staates. Ich sehe hier eine große Gefahr und betone erneut, dass ich davon fest überzeugt bin, dass wir große Probleme haben werden, wenn diese Politik im Kosovo fortgesetzt wird.
Neben dem Transnistrien-Konflikt, der 1992 bereits einmal militärisch eskalierte, könnten ähnlich gelagerte Konflikte im Kaukasusgebiet eine gefährliche Dynamik gewinnen. In diesem Zusammenhang sind Äußerungen des russischen Premierministers Vladimir Putin bedeutsam, die er in den vergangenen Monaten mehrmals wiederholte. Putin pocht auf die Einhaltung „universeller Prinzipien“ bei der Lösung der Kosovo-Frage. Falls es tatsächlich zu einer Unabhängigkeit kommen sollte, deutete Putin an, dass Russland neben Transnistrien auch die Sezessionsprovinzen Abchasien und Süd-Ossetien mit ihren Unabhängigkeitsforderungen unterstützen könnte. Diese Ankündigungen treffen auf harsche Kommentare der Regierung Georgiens, auf dessen Staatsgebiet die beiden Provinzen liegen. Der Kosovo-Konflikt wird dabei von beiden Seiten aufmerksam verfolgt und als Argument gebraucht.
Unerträglicher Status Quo
Neben allen Warnsignalen, die gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo sprechen, wäre aber auch die Aufrechterhaltung des Status Quo mit vielen Gefahren behaftet. Das Hauptproblem liegt dabei in der unerträglichen Situation der albanischen Bevölkerungsmehrheit, die etwa 90 Prozent der zwei Millionen Kosovo-Bewohner ausmacht. Ihre Forderung nach Unabhängigkeit ist keineswegs lediglich als ethnonationale Ideologie abzuqualifizieren. Denn tatsächlich ist schwer zu erwarten, dass sich die albanische Bevölkerungsgruppe wieder in einen Staat integrieren möchte, der in seinem Verfassungsentwurf neben dem Anspruch auf Kosovo gerade Abschied vom staatsbürgerlichen Prinzip genommen hat und sich als Nationalstaat des serbischen Volkes definiert.
Auch sechs Jahre nach dem Sturz Slobodan Milosevics hat es in Serbien noch keine ernsthafte Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im Kosovo gegeben. Hochrangige Militärs wie der ehemalige Generalstabchef der Armee, Nebojsa Pavkovic, und der Chef der Spezialpolizei, Sreten Lukic, die 1998/99 unzweifelhaft für Kriegsverbrechen verantwortlich waren, wurden noch im vergangenen Jahr von der amtierenden Regierung Kostunica mit Sympathiebekundungen auf den Weg zum Kriegsverbrechertribunal in Den Haag geschickt.
Gleichzeitig ist die ökonomische Lage im Kosovo desolat. Über 50 Prozent der Bevölkerung ist arbeitslos. Die Ökonomie lebt in erster Linie von Hilfsprogrammen und den Überweisung der Migranten in Westeuropa und den USA. In dieser Situation hofft die Bevölkerungsmehrheit durch die Unabhängigkeit auf eine Verbesserung. Zwar scheint dies angesichts der engen Verknüpfung der aus der UCK hervorgegangenen politischen Elite mit der grassierenden Organisierten Kriminalität, wie sie beispielsweise vom Bundesnachrichtendienst festgestellt wurde, mehr als zweifelhaft. Korruption und Rechtsunsicherheit schrecken die ohnehin wenigen potentiellen Investoren ab. Dennoch wird die Illusion, die Lösung der Statusfrage könne schnell zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation führen, nicht nur von Politikern aller albanischer Parteien, sondern auch von UN-Funktionären wie Joachim Rücker ständig betont. Es ist daher kein Wunder, dass von der albanischen Mehrheitsbevölkerung die Unabhängigkeit als ein Allheilmittel betrachtet wird.
Gleichzeitig ist in den vergangenen Jahren der Unmut über die Bevormundung durch die UN-Verwaltung gewachsen. In den Augen vieler Kosovo-Albaner besteht die UNMIK vor allem aus hochbezahlten Bürokraten, die bisher wenig für die Zukunft Kosovos geleistet haben, sich dafür aber umso arroganter verhalten. Nicht zuletzt deshalb hat die radikale Jugendbewegung Vetevendosje (Selbstbestimmung) Zulauf. Unter Führung des charismatischen ehemaligen Studentenführers Albin Kurti trommelt die Bewegung für den Abbruch aller Verhandlungsgespräche, die sofortige Unabhängigkeitserklärung und den Abzug der internationalen Verwaltung. Auf ihren zahlreichen Protestaktionen im ganzen Kosovo wird die UNMIK als „Kolonialmacht“ bezeichnet. Zahlreiche Aktivisten der Bewegung wurden bei Demonstrationen in den vergangenen Monaten verhaftet.