Heute Arbil und morgen Amirli

US-Black Hawk-Hubschrauber auf Mission über der Wüste im Nordirak; Aufnahme von 2010; Bild: U.S. Navy photo

Irak: Die nächste humanitäre Katastrophe deutet sich an und mit ihr die Schwächen des westlichen Ansatzes. Wann soll der Westen unterstützend eingreifen? Hilfe nur für die Kurden?

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Die Rückeroberung des Mosul Staudammes führte in den letzten Tagen zu einer kleinen Welle von Erfolgsgeschichten, die manche im US-Kommando und ihrer Anhängerschaft in den Medien darüber jubeln ließ, wie effektiv die US-Luftwaffe eingesetzt wird, wie sehr sie zur Wende beigetragen hat. Es schien beinahe so, als mit dem wiedererbelebten Glauben an die Air Force sich das alte Traumbild Rumsfelds noch einmal aus der Asche erhebt - eine mehrfach widerlegte Vision, wonach es möglich wäre, mit schnellen, strategisch genau gesetzten militärischen Schlägen die Dinge in einem fremden Land, hier im Irak, in eine bessere Richtung zu lenken. Dann, so der Feldherrenplan, kann die Militärpower wieder abziehen, der Rest ordnet sich dann irgendwie selbst.

Auf dem Staudammgelände gewannen die Peshmerga-Kämpfer dank der US-Militärunterstützung nach Kämpfen, die sich dann doch länger hinzogen, die Oberhand. In Tikrit und Amerli, die teilweise unter Kontrolle der Dschihadisten stehen, sieht die Sache anders aus.

Für die Rückeroberung dieser Orte gilt die Ansage Obamas an Bagdad: Die US-Luftwaffe verstehe sich "nicht als irakische Luftwaffe". Und auch nicht als "Luftwaffe der Schiiten oder anderer Fraktionen", wie der US-Präsident in einem Interview kürzlich noch einmal deutlich erklärte. Heißt: die irakische Armee soll ihre Aufgaben alleine erledigen.

In Tikrit schafft sie das bislang nicht

In Tikrit schafft sie das bislang nicht. Am Dienstag versuchten irakische Verbände einen Vorstoß in die Stadt, die mittlerweile jedem am Irak Interessierten als Geburtsstadt von Saddam Hussein bekannt sein dürfte, weswegen der Rückeroberung der "sunnitischen Hochburg" der gleiche symbolische Triumpf zufallen würde, wie den IS-Truppen im Juli, als sie die Stadt eroberten.

Die irakische Armee hinterließ dagegen bei den Kämpfen in Tikrit Mitte Juli einen sehr schlechten Eindruck, übrigens trotz Luftunterstützung, allerdings von der irakischen Luftwaffe.

Auch am vergangenen Dienstag zeigten sich die IS-Milizen als gewiefter im Umgang mit ihren militärischen Mitteln, die irakische Armee musste sich wieder zurückziehen, weil die Soldaten in Minenfelder liefen, in Sprengfallen, die in Gebäuden aufgestellt waren, in Sniper- und Artilleriefeuer: "Die IS-Kämpfer haben offensichtlich die zwei Monate ihrer Dominanz in der Stadt dazu benutzt, um umfangreiche Verteidigungsarbeiten zu verrichten und dies auf professionelle Weise", berichtet dazu der US-Blogger Juan Cole, der den Krieg im Irak seit 2003 kritisch kommentiert.

Auch diesmal war die irakische Luftwaffe zur Unterstützung dabei - und freiwillige schiitische Milizen, wie dies von Cole und vom Institute for the Study of War hervorgehoben wird. Die Frage, die sich aufdrängt, aber leider unbeantwortet bleibt, wäre: Auf wie viele Sunniten kann die irakische Armee nach den Jahren der Herrschaft von Maliki überhaupt noch zählen. Zuletzt hieß es in einer US-Publikation, dass die irakische Armee, was ihren schlagkräftigen Kern betrifft, eigentlich nur auf schiitische Milizen zählen kann.

Die nächsten Todeskandidaten in Amirli: Die Belagerung der ISI von zehntausenden schiitischen Turkmenen

Tikrit ist nicht der einzige militärische Misserfolg der letzten Tage. Die Situation in Amirli, bzw Amerli, einer Stadt im Nordirak, in der Nähe von Kirkuk, 175 km nördlich von Bagdad, ist schlimm. Seit acht Wochen sind die Einwohner Angriffen der sie belagernden IS-Kampfeinheiten ausgesetzt. Die IS-Einheiten haben die Zugänge zur Stadt abgeriegelt, die Bewohner werden aushungert und haben kaum Wasser zur Verfügung.

Die Mehrzahl der Einwohner, die auf zwischen 15.000 und 20.000 geschätzt werden, sind schiitische Turkmenen, also emit großer Wahrscheinlichkeit "Todeskandidaten" oder künftige Sklaven, in jedem Fall Ausgelieferte der IS-Fanatiker. Wie das leider so ist, wird eindringlich und mit Anteilnahme darüber nur von den Wenigen berichtet, die schon einmal in Berührung mit den Einwohnern gekommen sind. Amerli war bereits 2007 Ziel eines al-Qaida-Angriffs. Die große Öffentlichkeit hat das längst vergessen, die Hilferufe bleiben gewissermaßen in der Region.

Die irakische Armee rüstet nun zu einem Angriff. Angesichts der Erfahrungen in Tikrit sind die Erfolgsaussichten nicht allzu hoch anzusetzen. Die würden sich erhöhen, wenn es militärische Unterstützung durch die USA gäbe, auch wenn es hier um ein anderes Terrain geht, wo Luftschläge nicht das Zaubermittel sind, als das sie bei der Befreiung der Jesiden und des Staudammes gefeiert wurden.

Ist der öffentliche Druck ausschlaggebend?

Die Frage stellt sich, ob es vor allem auf den öffentlichen Druck ankommt, um die US-Führung dazu zu bringen, einzugreifen. Kommt es auf die Bilder an? Die Fotos vom Exodus der Jesiden und der Christen spielten eine Rolle für das Eingreifen der US-Luftwaffe.

Zu den Fotos, von denen einigen schon jetzt kursieren und die auf das emotionale Potential hinweisen, weil sie Kinder zeigen, mit Waffen oder in einem ärmlichen, hilfsbedürftigen Zustand könnten Forderungen kommen, die moralischen Druck ausüben: Warum Hilfe für die Kurden, aber nicht für die Turkmenen?

Zwar hat Obama angedeutet - siehe oben -, dass er das amerikanische Militär nicht zur Unterstützung von "irakischen Fraktionen" einsetzen will und er hat sorgfältig auf die Begründung des bisherigen Einsatzes geachtet: Er war eingebettet in eine humanitäre Mission, eben zur Rettung der Jesiden, und zuletzt abgesichert durch den Verweis darauf, dass die Sicherheit von US-Personal in Arbil gefährdet sei.

Angriffspunkte in der Argumentation Obamas

Die Argumentation wurde schon etwas dünnbödig, als es um die Eroberung des Staudammes ging. Unbestritten war, dass der Damm strategisch von großer Bedeutung ist. Aber dass US-Personal gefährdet war, was Obama auch hier als Letztargument brachte, war schon etwas hergeholt, weil es mit der apokalyptischen Vorstellung arbeitete, dass der Islamische Staat den Damm zerstören und dadurch die Region und Städte fluten würde (Man relativiert den ausgeprägten Willen zu grausamen Akten der IS-Abergläubigen nicht, wenn man den Versicherungen glaubt, dass der IS dies gar nicht vorhatte, wie dies in einigen Äußerungen zu lesen war. So ganz dämlich und märchenhaft böse handeln die Glaubensfiebrigen dann doch nicht).

Ein humanitäre Katastrophe ist aber auch bei den Turkmenen in Amerli gegeben. Obama könnte hier in eine Situation gedrängt werden, die die Schwäche seiner auf punktuelle Einsätze aufgebauten "Strategie" ans Licht bringt.

Ein neues Kurdistan ist geboren

Zum Beispiel durch die Kurden, von denen sich jetzt einige, wie der Verteidigungsminister der autonomen irakischen Region Kurdistan, und Chef der Pesmerga, Mustafa Said Qadir in internationalen Zeitungen, wie Le Monde, damit brüsten, dass die Stärkung der Peshmerga, zu der die Hilfe der USA, "militärisch etwas, moralisch sehr", beigetragen habe, die Kurden einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem "neuen Kurdistan" gebracht haben.

Eine nationale Armee, gut ausgestattet und ausgebildet, das ist die notwendige Passage, um eine verlässliche und souveräne kurdische Regierung aufzubauen, eine Weise, um ein neues Kurdistan vorzubereiten.

Mustafa Said Qadir

Damit haben die USA eben doch die Luftwaffe einer irakischen Fraktion gestellt. Und damit wird auch die Waffenhilfe der westlichen Verbündeten von einem Licht angestrahlt, das politisch nicht mehr so unverfänglich ist wie die humanitäre Mission bzw. das Zur-Seite-Stehen im Kampf gegen das Böse, sondern realpolitisch nüchtern zeigt sich, dass man Partei ergriffen hat in einem machtpolitischen Kampf.

Und damit hat man einen Fuß im Dilemma, das sich mit dem Schicksal der Turkmenen auftut. Nichteingreifen heißt, sie allein zu lassen und zu demonstrieren, dass kurdische Jesiden und Christen, amerikanisches Personal und die westliche Konzerninteressen in Arbil wichtiger sind. Eingreifen aber hieße, dass man den nächsten Schritt in das Schlamassel tut, das bald den nächsten Höllenkreis an einem Ort im Irak oder Syrien aufmacht, an humanitären Katastrophen fehlt es nicht. Die Feldherren und Militärsolutionisten vom Schlage Rumsfeld haben sowas nie auf dem Plan.