Holocaust versus Nakba?
Zur Tiefenstruktur des sogenannten Israel / Palästina - Konflikts
"Es gibt Umstände in der Geschichte, die ethnische Säuberungen rechtfertigen." Und der Genozid an den Juden ist ein solcher Fall.
Benny Morris
Mit der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 ist die Vertreibung von etwa 750.000 Palästinensern untrennbar verbunden. Wie ist diese Vertreibung aus heutiger Sicht zu beurteilen?
Darüber macht sich bei uns, in Übereinstimmung mit der israelisch/zionistischen Strategie der Ablehnung der Nakba als solcher (d.h. als einer Katastrophe), kaum jemand Gedanken. Dieser Beitrag versucht es zumindest.1
1 Der Palästina-Konflikt
1.1 Worum geht es im Palästina-Konflikt, dem Nahost-Konflikt? Nicht einmal darüber gibt es Konsens. Außer vielleicht darüber, dass zwei Gruppen von Menschen Anspruch auf ein und dasselbe Land erheben: auf das ehemals britische Mandatsgebiet Palästina.
1.2 Unter beiden Gruppen gibt es solche, die das Land ausschließlich für die eigene Gruppe beanspruchen (Maximalisten); und solche (die Nicht-Maximalisten), die bereit sind, das Land mit der anderen Gruppe zu teilen, entweder durch Teilung des Landes (Zweistaaten- Lösung) oder in einem gemeinsamen Staat (Einstaaten-Lösung).
1.3 Die erhobenen Ansprüche auf das Land sind unterschiedlichster Art: religiös (das Land selbst als Geschenk Gottes), historisch, rechtlich, ökonomisch, politisch (global wie lokal) und auch moralisch. Miteinander verbunden sind diese verschiedenartigen Begründungen für den Anspruch auf das Land in Form von so genannten Narrativen (Kollektiv-Geschichten), mit deren Hilfe sich die Identitäten der Gruppen und Untergruppen bilden und festigen.
1.4 Ein gemeinsames, den bisherigen Konflikt transzendierendes (israelisch-jüdisches / palästinensisch-arabisches) Narrativ ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Ein wesentlicher Effekt der zunehmenden medialen Inszenierung des Konflikts scheint der zu sein, dass sich die einander widersprechenden Narrative weiter verhärten. Fast hat man den Eindruck: an einem diese Widersprüche auflösenden gemeinsamen Narrativ hat so gut wie niemand echtes Interesse.
1.5 Die Folge ist: Keine Seite ist derzeit imstande, die Welt aus der Sicht der anderen Seite zu sehen. Und so ist sie dazu in der Regel auch nicht willens. Solange dies so bleibt, ist der Konflikt nicht lösbar. Jedenfalls nicht einvernehmlich.
1.6 Bei der Begründung der Ansprüche auf Palästina spielen quer über die verschiedenen (religiösen, historischen etc.) Kategorien hinweg auf israelischer Seite vor allem die Erinnerung an die Shoa (den Holocaust) und auf palästinensischer Seite die an die Nakba (die ethnischen Säuberungen von 1948/49) eine wichtige Rolle. Diese Erinnerungen (als historische Reminiszenzen wie auch als Imperative) bilden das Herzstück der konkurrierenden Narrative.
1.7 Diese Erinnerungen begründen auch eine der wenigen Gemeinsamkeiten: Beide Seiten sehen sich primär als Opfer. Und beide Seiten sind das auch. Aber, und vielleicht liegt genau darin die zentrale Tragik des Konfliktes: Beide Seiten sehen - auch in ihrem gegenseitigen Verhältnis - fast ausschließlich nur sich selbst als Opfer.
2 Die Nakba
Vor diesem allgemeinen Hintergrund nun zur Nakba selbst.
2.1 In keinem Punkt divergieren die beiden Narrative stärker als in diesem. Verständlicherweise. Denn bei diesem Thema geht es für beide Seiten (bisher) um alles oder nichts.
2.2 Der einzige Konsens - ist dieser: Im Kontext des 48er Krieges kam es zu einem erheblichen Bevölkerungs-Transfer, von dem etwa eine ¾ Million Palästinenser betroffen waren. Punkt. Ende des Konsenses.
2.3 Die israelische Seite wollte diesen Transfer anfangs - und will das unter den letzten Rechts-Regierungen zunehmend wieder - am liebsten so verstanden wissen: Diese Flucht war großteils eine Reaktion auf entsprechende Aufforderungen von Seiten der Führung der angreifenden arabischen Armeen; diese sollten freies Schussfeld haben. Nach dieser Auffassung hätten die Palästinenser demnach ihre Dörfer freiwillig verlassen; ihre Flucht war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht die Folge einer Vertreibung.
2.4 Die Forschungen der sogenannten Neuen Historiker aus den 80er und 90er Jahren widersprechen dieser Darstellung.2 Die Vertreibungen waren von langer Hand - von speziellen Transfer-Kommittees - geplant, fanden zum Teil bereits vor dem Kriegsbeginn statt, waren ersichtlich gut koordiniert, etc.
2.5 Als die zwei bedeutendsten historischen Pionierarbeiten zur Nakba können gelten: Die 1987 erschienene Arbeit The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947 - 1949 des israelischen Historikers Benny Morris; und das von Walid Khalidi 1992 hrsg. Buch All That Remains: The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948, ein Almanach der zerstörten Dörfer, "unverzichtbar für jeden, der die ungeheuren Ausmaße der Katastrophe von 1948 begreifen möchte".3
2.6 Was man wissen könnte, deckt sich, sobald es um Macht geht, freilich selten mit dem, was man (auch öffentlich) wissen will. Im politischen Diskurs zur Nakba wird jedenfalls auch jetzt noch oft weiterhin so gesprochen, als hätte es den durch Khalidi und Morris definierten Erkenntnisstand zur zionistischen Planung und Durchführung der Nakba gar nie gegeben.
Angesichts dieser Lage empfehle ich Ihnen dringend: Machen Sie, ehe Sie sich auf eine Diskussion mit einem angeblichen Nakba-Experten einlassen, bei diesem unbedingt vorher den Khalidi/Morris-Test: Ignorieren Sie den betreffenden Experten, wenn dieser noch nicht auf deren Erkenntnisstand aus den 80er/90er Jahren ist. Sie werden sehen: Dieser Test erspart Ihnen sehr viele nutzlose Diskussionen.
2.7 Auch der Morris-Forschungsstand ist nicht mehr der neueste. Wer sich für dieses Thema überhaupt zu interessieren getraut, wird auch das neue, bereits 2010 bei Zweitausendeins auch auf Deutsch erschienene Buch von Ilan Pappe kennen bzw. sollte es kennen. Es hat den geradezu ungeheuer klaren Titel: Die ethnische Säuberung Palästinas.
Die Differenz zu Morris ist diese: Während sich die ethnischen Säuberungen für Morris primär durch die Notwendigkeiten des 48er Krieges erklären lassen, hebt Pappe in seinem Werk auf den weit über die damaligen Kriegsnotwendigkeiten hinausgehenden eigenständigen Charakter dieser Säuberungen ab.
Sie können sich vielleicht vorstellen, wie heftig über die Details dieser Differenz zwischen Morris’s Kriegsparadigma einerseits und dem Pappe’schen ethnische Säuberungen-Paradigma andererseits gestritten wird - derzeit und gewiss auch noch lange. Wobei daran zu erinnern ist, dass viele Dokumente auch heute noch nicht zugänglich sind.
2.8 Wäre es in dieser Lage nicht angezeigt, auch hier das zu tun, was wir in anderen vergleichbaren Kontexten - z.B. gegenüber Türken und Armeniern - doch sonst so gerne tun? Nämlich: zur Klärung der offenen Fragen die Einrichtung gemischter (in diesem Fall also: israelisch/palästinensischer) Forschungskommissionen zu empfehlen?
2.9 Und natürlich ist auch dieser Streit kein bloß akademischer. Schließlich geht es bei diesem Thema, wie oben schon gesagt, ums Ganze. Wie man die Nakba sieht bzw. wie man die Nakba zu sehen hat, das bleibt schließlich nicht folgenlos. Insbesondere nicht ohne Folgen dafür, wie man mit den direkten Folgen der Nakba umzugehen hat: mit den vertriebenen palästinensischen Flüchtlingen.
3 Die Nakba und das Rückkehrrecht
3.1 Aus der Sicht des Völkerrechts ist die Sache klar. Die Vollversammlung der UNO hat in der Resolution 194 vom 11.12.1948 den Palästinensischen Flüchtlingen grundsätzlich das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat und/oder auf Entschädigung zugesprochen, wobei sich diese Resolution auf die (einen Tag zuvor verabschiedete) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (insbes. Art 13.2 und 17.2) stützt. Diese Rückkehr-Resolution wird seit 1948 Jahr für Jahr bekräftigt.
Aber wer kümmert sich im Kontext des Palästina-Konflikts schon wirklich darum, was das Recht sagen würde? Die Umsetzung der Resolution 194 von 1948 wurde bis heute verhindert.
3.2 An dieses Rückkehr-Recht klammert sich bei den Palästinensern, nachdem sie alles andere verloren hatten, der Rest an Hoffnung. Dieses Recht gehört zum Kern ihrer Identität. Es ist für sie prinzipiell unverhandelbar.
3.3 Dasselbe gilt exakt für die Negation dieses Rechts durch das zionistische Israel. Eine Rückkehr der vertriebenen Palästinenser würde die Transformation Israels in einen binationalen Staat bedeuten - und damit das Ende des gerade dank der Nakba 1948 zum Erfolg geführten zionistischen Projekts.
3.4 Genau aus diesem Grund fordert Israel immer wieder die Anerkennung seiner Existenz als jüdischem Staat, womit primär einfach ein Staat gemeint ist, in dem eine (möglichst große) jüdische Mehrheit garantiert ist.
Wer das Existenzrecht Israels (in diesem Sinne) anerkennt, sollte also wissen, was er damit tut: Er bestreitet damit eo ipso genau das, was die UNO-Rückkehr-Resolution fordert. Woraus folgt: Zur deutschen Staatsraison gehört derzeit auch … genau: auch die Nicht-Umsetzung dieses Rückkehrrechts!4
3.5 Es ist schlicht die Angst vor dem Ende des zionistischen Projekts, woraus sich im Kontext der palästinensischen Flüchtlingsproblematik das ganze Spektrum der so genannten israelischen Ablehnungs- bzw. Verweigerungs-Politik (The Politics of Denial)5 erklärt. Wie das offizielle Israel anfänglich
- Das Vorkommen bzw. das Ausmaß bzw. die Intentionalität der Vertreibungen ja sogar (man erinnere sich an Golda Meir’s entsprechendes Diktum "Es gibt keine Palästinenser")
- Die Existenz von Palästinensern bestritten hat, so lehnt es über
- Das Recht auf Rückkehr bzw. Entschädigung der vertriebenen Palästinenser hinaus auch
- Jegliche (moralische) Verantwortung für die Nakba schlechterdings ab.
3.6 Die Argumente, auf die sich diese zionistische Position der eigenen Unverantwortlichkeit stützt, sind die üblichen. Sie sind ziemlich platt - und eigentlich gar keiner näheren Betrachtung würdig. Aber leider gilt ja nur allzu oft: Je schwächer (oder noch einfacher: je blöder) ein Argument ist, desto wirksamer ist es. Das "selber-schuld"-Argument etwa, das besagt: Es waren die Palästinenser, die, anders als die Yishuv, den UN-Teilungsplan abgelehnt und mit dem Krieg angefangen hatten - und darum seien sie für alles, was in diesem Krieg passiert sei, schließlich selber verantwortlich - einschließlich der Vertreibungen und der mit diesen verbundenen Massaker. Oder dass die jüdischen Massaker nur Vergeltungsreaktionen auf palästinensische Gewalttaten gewesen seien. Oder das sogenannte na und?- bzw. was soll’s?-Argument, nach dem die Vertreibung der Palästinenser im Vergleich zum Holocaust doch nur ein Klacks gewesen sei.
3.7 Der Politikwissenschaftler Saleh Abdel Jawad von der Birzeit Universität hat Recht, wenn er sagt, dass diese Argumentations- bzw. Ausweich-Strategien nichts anderes als "Versuche" seien, es "Israel zu ersparen, das an den Palästinensern begangene Unrecht [auch nur] zu thematisieren."6
3.8 Der Gipfel der zionistischen Verdrängungs-Politik manifestiert sich in dem schon 2011 beschlossenen Gesetz, wonach all jenen Gemeinden Finanzhilfen der Zentralregierung verwehrt werden, die die israelische Staatsgründung von 1948 öffentlich als Nakba (als Katastrophe) bezeichnen. Noch weitaus schärfere Gesetzesvorhaben sehen vor, dass sogar die öffentliche Benennung der israelischen Staatsgründungs-Vorgänge als Nakba generell unter Strafe gestellt wird.
4 Prolegomena zu einer Ethik der Nakba
Betrachten wir zum Schluss noch jene Position, die gerade keine Ausweichposition ist, vielmehr eines der härtesten Beispiele für eine aggressive Vorwärts-Strategie. Der Fall mag Sie schockieren; aber vielleicht dient gerade dies der nötigen Klarheit.
4.1 Die große Figur unter den israelischen Neuen Historikern habe ich oben schon herausgehoben: Benny Morris. Es dürfte niemanden geben, der die aus den bisher zugänglichen israelischen Quellen ermittelbaren Fakten zur Nakba besser kennt. Wenn es um die von den jüdischen Milizen verübten ethnischen Säuberungen um 1948 herum geht, so weiß Morris genau, worum es geht.
Und ausgerechnet dieser Mann wirft heute Ben Gurion, dem Hauptverantwortlichen für diese Säuberungen, vor, diese ethnischen Säuberungen nicht radikal genug durchgeführt, sie nicht konsequent genug zu Ende gebracht zu haben.
4.2 Ich zitiere aus dem Interview jetzt etwas ausführlicher.7 (Die fett-Hervorhebungen in diesem Interview stammen von mir. Es sind die zentralen Stellen, auf die ich gleich noch besonders eingehen werde.)
Ari Shavit: Sie sind ein Experte für die Greueltaten des Jahres 1948. Rechtfertigen Sie letztlich all das? Befürworten Sie den Transfer von 1948?
Benny Morris: […] unter bestimmten Bedingungen ist Vertreibung kein Kriegsverbrechen. Ich denke nicht, dass die Vertreibungen von 1948 Kriegsverbrechen waren. Du kannst kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen.
Ari Shavit: Wir sprechen über die Ermordung von tausenden Menschen, der Zerstörung einer gesamten Gesellschaft.
Benny Morris: Eine Gesellschaft, die droht, Dich zu zerstören, zwingt Dich, sie zu zerstören. Wenn die Wahl besteht zwischen Zerstören oder selbst zerstört zu werden, ist es besser zu zerstören. […]
Ari Shavit: Wenn also die Kommandeure der Operation Dani dastehen und den langen und schrecklichen Flüchtlingsstrom der 50.000 Menschen, die aus Lod vertrieben wurden, auf seinem Weg nach Osten beobachten, stehen sie dann dort gemeinsam mit ihnen? Rechtfertigen Sie sie?
Benny Morris: Ich kann sie zweifellos verstehen. Ich verstehe ihre Motive. Ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Gewissensbisse hatten und an ihrer Stelle hätte ich auch keine gehabt. Ohne diese Tat hätten sie den Krieg nicht gewonnen und kein Staat wäre entstanden. […] Es gibt Umstände in der Geschichte, die ethnische Säuberungen rechtfertigen. Ich weiß, dass dieser Begriff im Diskurs des 21. Jahrhunderts völlig negativ ist, aber wenn die Wahl zwischen ethnischer Säuberung und Genozid - der Vernichtung deines eigenen Volkes - besteht, dann ziehe ich ethnische Säuberung vor. […]
Ari Shavit: Sie haben eine interessante Wandlung durchgemacht. Sie zogen aus, Ben- Gurion und das zionistische Establishment kritisch zu erforschen, aber letztlich identifizieren sie sich sogar mit ihnen. Ihre Worte sind so hart wie deren Taten.
Benny Morris: Da mögen Sie Recht haben. Weil ich den Konflikt intensiv erforscht habe, war ich genötigt, mich mit den tiefgehenden Fragen auseinanderzusetzen, mit denen diese Leute fertig werden mußten. Ich verstand die problemat ische Situation, in der sie sich befanden und vielleicht habe ich einen Teil ihrer Weltsicht übernommen. Aber ich identifiziere mich nicht mit Ben-Gurion. Ich glaube, er hat 1948 einen schwerwiegenden historischen Fehler gemacht. Obwohl er das demographische Problem und die Notwendigkeit, einen jüdischen Staat ohne große arabische Minderheit zu errichten, verstand, bekam er im Verlauf des Krieges kalte Füße. Letztlich hat er gezögert.
Ari Shavit: Ich bin nicht sicher, ob ich richtig verstehe. Sagen Sie, Ben-Gurion hätte zu wenige Araber vertrieben?
Benny Morris: Wenn er schon die Vertreibung begonnen hat, hätte er sie vielleicht auch zu Ende bringen sollen. Ich weiß, dass das die Araber und die Liberalen und all die politisch Korrekten sprachlos macht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass dies hier ein ruhigerer Ort wäre und weniger Leid herrschen würde, wenn die Sache ein für alle Mal zu Ende gebracht worden wäre. Wenn Ben-Gurion eine große Vertreibung durchgeführt und das gesamte Land gesäubert hätte: das ganze Land Israel bis zum Jordan. Es mag sich noch zeigen, dass dies sein fataler Fehler war. Wenn er eine vollständige Vertreibung durchgeführt hätte - und keine teilweise - , hätte er den Staat Israel auf Generationen hinaus stabilisiert.
Und dann folgt der Absatz:
Ari Shavit: Ich kann kaum glauben, was ich höre.
Benny Morris: Wenn sich das Ende der Geschichte als düster für die Juden erweist, wird dies daran liegen, weil Ben-Gurion den Transfer 1948 nicht vollendet hat. Weil er eine große und unberechenbare demographische Reserve in der Westbank und Gaza und in Israel selbst beließ. […].
4.3 So schockierend dieses Interview für einige von uns auch immer sein mag, so kommt ihm doch das Verdienst zu, genau die Fragen aufzuwerfen, die man sich stellen muss, wenn man sich über die Nakba ein eigenes moralisches Urteil bilden will. Und selbst wenn man, wie ich, diese Position von Morris keineswegs teilt - seine Sichtweise zumindest zu kennen und zu verstehen, ist schon deshalb wichtig, weil er mit seinen Antworten in brutaler Offenheit nur das ausdrückt, was auch viele anderen denken.
4.4 Wir werden mit diesem Interview auf die härteste aller denkbaren Fragen gestoßen, die es in dem Bereich der so genannten Kriegsethik bzw., allgemeiner, in dem sehr weiten Berich der Ethik der Gewalt überhaupt gibt. Diese Frage, ich bezeichne sie im Folgenden kurz als die Omega-Frage, lautet: Kann es gewisse extreme Ausnahme-Situationen geben, in denen sogar die schlimmsten Kriegsverbrechen bzw. sogar die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlaubt, ja sogar geboten sind?
4.5 Churchill stand im 2. Weltkrieg genau vor dieser Frage. Seine Antwort kennen wir: Das Terrorbombing deutscher Städte. Seine Begründung war die gleiche wie die von Morris vorgebrachte: Das Terrorbombing war notwendig. Notwendig, um den worstcase zu verhindern: die Weltherrschaft Hitlers.
4.6 Michael Walzer, der Klassiker der modernen Theorie des gerechten Krieges, hat die Omega-Frage genau anhand dieses Churchill-Beispiels diskutiert - und mit einer differenzierten Antwort versehen. Solange der Omega-Fall, die drohende Weltherrschaft Hitlers, wirklich gegeben war, war auch jenes Terrorbombing vertretbar. (Und dies, obgleich diese Bombardierungen ohne diesen Omega-Kontext ein extremes Kriegsverbrechen darstellen.) Sobald diese Gefahr nicht mehr bestand, nicht mehr. Also nicht mehr nach der deutschen Niederlage von El Alamain, 1942, bzw. nach Stalingrad, 1943. Die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 war demnach, da nicht mehr durch die Omega-Regel gedeckt, ein klares Kriegsverbrechen.
4.7 Das große Problem dieser ganzen Debatte ist natürlich dieses: Wann genau ist eine Situation derart schlimm, dass sie als relevanter extremer Ausnahmefall - als Omega-Fall - gelten kann? Und wer entscheidet darüber? Und lässt sich ein Omega-Fall überhaupt objektiv definieren? Schließlich unterscheidet sich, was jeweils als "schlimm" gilt, von Person zu Person, von Gruppe zu Gruppe, ja von Kultur zu Kultur.
Das sind für den engen Rahmen dieses Beitrags freilich viel zu große Fragen. Hier reicht aber die Feststellung, dass ein Genozid, ein laufender oder auch nur mit hinlänglicher Sicherheit bevorstehender, das allgemein anerkannte Paradigma für einen Omega-Fall darstellt.
4.8 Und das ist genau der Fall, auf den auch Morris abhebt. Seine Kernthese besagt (wörtlich - siehe das oben schon Fettgedruckte): "Es gibt Umstände …, die ethnische Säuberungen rechtfertigen" Und ein Genozid ist (auch für ihn) so ein Fall. In unsere eigene obige Redeweise übersetzt - bzw. präzisiert - besagt diese Kernthese:
Wenn ein Genozid in Gang ist oder mit hinreichender Sicherheit bevorsteht, dann ist - als ultima ratio, versteht sich - gegen ihn sogar eine ethnische Säuberung erlaubt.
4.9 So weit, so vielleicht richtig - wie wir im Folgenden der weiteren Argumentation wegen einfach mal annehmen wollen.
Aber, und das ist ein großes ABER: Reicht diese Wenn-Dann-Basis bereits als Rechtfertigung für die von Morris verteidigten ethnischen Säuberungen im israelischen Teil Palästinas?
Mit Sicherheit nicht. Aus WENN-A, DANN-B alleine folgt nicht schon B. Es fehlt noch der Nachweis, dass A, das heißt der Nachweis dafür, dass im Kontext der Vertreibungen der Palästinenser tatsächlich ein Genozid vorlag oder bevorstand.
4.10 Von welchem Genozid ist in diesem Morris-Interview überhaupt die Rede? Von welchem Genozid, zu dessen Beendigung bzw. Verhinderung die Vertreibung der Palästinenser tatsächlich notwendig war?
4.11 Für Morris reicht freilich, wie das obige Interview zeigt, bereits das Postulat einer solchen genozidalen Omega-Situation, um die Haupt-Akteure der in dem Interview erwähnten Säuberungen, d.h. die Kommandeure der Operation Dani, zu verstehen. Was voraussetzt, dass Morris zumindest glaubt, dass diese Akteure ihrerseits glaubten, dass sie es mit einem Omega-Fall zu tun haben.
4.12 Frage an die Historiker: War dem wirklich so? Glaubten das die Dani-Kommandeure - und auch deren Befehlsempfänger - tatsächlich?
4.13 Und falls sie das tatsächlich geglaubt haben sollten - wäre das dann auch schon eine hinreichende Basis nicht nur für ein Verstehen, sondern auch für ein Rechtfertigen ihres Tuns? Wiederum: mit Sicherheit nicht.
Ihr entsprechender Glaube würde zwar in der Tat erklären, warum sie, was sie taten, "ohne jede Gewissensbisse" getan hatten. Aber wie gerade wir Deutschen aus unserer eigenen Vergangenheit, genauer: aus den Versuchen einer ‚Bewältigung’ unserer eigenen Vergangenheit her wissen: Fehlende Gewissensbisse sind mit den schrecklichsten Taten verträglich. Und spätestens seit dem Eichmann-Prozess könnte das doch wirklich jederman wissen.
4.14 Noch einmal: Von welchem Genozid spricht hier Morris eigentlich?
Ich vermute: Von keinem realen, insbesondere von keinem damals realen in Palästina. Morris "Genozid"-Bezug hebt vielmehr lediglich auf einen fiktiven Genozid ab, auf einen lediglich potentiellen.
Dafür spricht die weitere Fettdruck-Stelle des Interviews. Dort heißt es, dass sie, die damaligen Akteure, ohne diese Vertreibungen bzw. Säuberungen "den Krieg nicht gewonnen [hätten] und auch kein Staat … entstanden [wäre]."
4.15 Welche Relevanz hat das für das Morris’sche Genozid-Verhinderung-durch-ethnische Säuberungen-Argument? Die für den schlüssigen Zusammenhang notwendige Prämisse scheint für ihn so selbstverständlich zu sein, dass er sie gar nicht erst aussprechen zu müssen glaubt. Nämlich: Vor einem weiteren Genozid schützt uns nur ein eigener starker Staat.
4.16 Morris’s Position ist also, aus der 48er Perspektive formuliert, diese:
- Um vor einem weiteren Genozid sicher zu sein, brauchen wir Juden einen eigenen möglichst starken jüdischen Staat.
- Einen solchen Staat gibt es nur dann, wenn Israel (a) im Unabhängigkeitskrieg als Sieger hervorgeht und (b) auch weiterhin nicht von Palästinensern in seinem Inneren bedroht ist.
- Und beides - der Sieg im Krieg wie die innere Sicherheit - erfordert die möglichst vollständige Säuberung Israels von den Palästinensern. Konklusion: Um vor einem weiteren Genozid sicher zu sein, ist eine möglichst vollständige Vertreibung der Palästinenser aus Israel notwendig - und, so glaubt Morris, insofern auch gerechtfertigt.
4.17 Ich gehe auf diese Argumentation von Morris nicht nur deshalb so ausführlich ein, weil ich generell ein großer Fan von Offenheit bin - selbst dann, wenn diese Offenheit einigen weh tut; sondern vor allem deshalb, weil Morris mit dieser Argumentation radikal- zionistischen Klartext spricht. Mit seiner brutal expliziten Argumentation hat uns Morris so etwas wie einen ersten klaren Einblick in die andernorts meist nur implizit zum Einsatz kommende Software der radikal zionistischen Denkungsart verschafft.
4.18 Nun ist diese Software zwar, was den Notwendigkeitsaspekt der Vertreibungen angeht, auf der Basis der angeführten Prämissen in sich perfekt logisch schlüssig, hat dafür aber zwei erhebliche Defizite.
Zum einen sind alle drei Prämissen alles andere als evident, ja sogar höchst zweifelhaft. Und zum anderen hat diese Argumentation jetzt wirklich nichts mehr mit dem obigen Omega-Rechtfertigungsschema zu tun. Denn dieses bezieht sich bisher nur auf bereits vorliegende oder mit großer Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehende Omega-Situationen. Durch die von Morris vollzogene Erweiterung dieses Schemas auch auf aus heutiger Sicht bloss potentielle spätere Omega-Fälle verliert dieses Schema aber jegliche Überzeugungskraft.
4.19 Das tut der weiten Verwendung dieses erweiterten Schemas freilich keinerlei Abbruch. Im Gegenteil: Rechtfertigen lassen sich mit dieser Erweiterung, wenn man diese akzeptiert, schließlich alle möglichen Arten von sogenannten präemptiven Verteidigungen. Und so verwundert es überhaupt nicht, dass Morris unter Rekurs auf dieses erweiterte Omega-Schema auch für einen möglichst baldigen Präemptionsangriff auf den Iran plädiert.
4.20 Wie Sie sehen: Schon ein kurzer Blick auf Morris’s Versuch einer moralischen Rechtfertigung der jüdischen ethnischen Säuberungen in Palästina eröffnet ein sehr weites Feld. Ein für jetzt zu weites, klar.
Deshalb jetzt nur noch dies: Ich habe Ihnen eine Reihe von Unterscheidungen und Fragen vorgestellt, die wir beachten müssen, wenn wir uns über das Problem der Rechtfertigungen der Vertreibungen der Palästinenser selber ein klares Urteil bilden wollen. Wie Sie mit diesen Unterscheidungen umgehen, das ist und bleibt jetzt Ihre Sache.
Georg Meggle ist Analytischer Philosoph. Seit seiner Emeritierung (2009) lehrt er jeweils abwechselnd in Kairo (Winter) und Salzburg (Sommer). Im Verlag Heise ist von ihm als eBook erschienen: Über Medien, Krieg und Terror (2019).