Holt Envisat runter!
Die Raumfahrtminister der ESA-Staaten dürfen bei ihrer Tagung Anfang Dezember das Aufräumen nicht vergessen
Bei der Ministerratstagung Space 4.0, mit der das Programm der europäischen Weltraumorganisation ESA für die nächsten Jahre festgelegt wird, hat eine Frage noch nicht die Aufmerksamkeit verdient, die ihr gebührt: Wann bringt ihr endlich den Müll runter?
Die ESA hat ihr Talent, Bruchlandungen als bahnbrechende Erfolge zu verkaufen, schon mehrfach unter Beweis gestellt. Doch bei diesem Thema scheint selbst die Pressestelle ratlos zu sein und schweigt lieber. Dabei handelt es sich wirklich und wahrhaftig um einen Superlativ. Wir stehen unangefochten auf Platz 1 und niemand soll es wissen: Europa ist verantwortlich für das größte und gefährlichste Stück Weltraumschrott im Erdorbit.
Seit am 8. April 2012 der Kontakt zu dem gefeierten "Umweltsatelliten" Envisat verlorenging, wurde aus dem Flaggschiff der europäischen Erdbeobachtungsflotte schlagartig selbst ein Umweltproblem. Derzeit umkreist die manövrierunfähige Envisat-Ruine die Erde in 766 Kilometern Höhe und bewegt sich damit ausgerechnet in der Region, in der sich der Müll in Gestalt von Raketenoberstufen, ausgedienten Satelliten und Trümmerteilen ohnehin schon am stärksten konzentriert. Früher oder später wird der 25 Meter lange Koloss, der größte jemals geflogene Erdbeobachtungssatellit, mit einem anderen Schrottteil zusammenstoßen und eine weitere Wolke von Trümmern in der Region verteilen. So wie am 10. Februar 2009, als die Kommunikationssatelliten Iridium-33 und Cosmos-2251 hier oben zusammenprallten und fast 2.000 Trümmerteile erzeugten, die größer als zehn Zentimeter sind. Bei der gezielten Zerstörung des chinesischen Wettersatelliten Fengyun-1C durch eine chinesische Mittelstreckenrakete zwei Jahre zuvor entstanden sogar mehr als 3.000 solcher Bruchstücke. Beide Kollisionen zusammen sind allein für 36 Prozent des katalogisierten Weltraummülls verantwortlich.
Raumfahrtingenieure sprechen vom "Kessler-Syndrom", benannt nach dem Nasa-Wissenschaftler Donald J. Kessler. Der hatte bereits 1978 erstmals formuliert, dass die Zahl der Teile im erdnahen Weltraum durch solche Kollisionen unweigerlich zunehmen muss, selbst wenn keine neuen Satelliten mehr in den Orbit befördert würden. Doch diese Überlegungen spielten keine Rolle, als zehn Jahre später das Design für Envisat entwickelt wurde. Niemand kümmerte sich darum, was mit dem Satelliten am Ende seiner Lebensdauer geschehen sollte: Selbst wenn der Kontakt zu ihm nicht verlorengegangen wäre, hätte der Treibstoff an Bord nicht gereicht, um ihn am Ende seiner Betriebszeit in einen Orbit zu bringen, der das Verglühen in der Erdatmosphäre innerhalb von 25 Jahren sichergestellt hätte – wie es die 2007 von der UNO formulierten und 2008 von Europa angenommenen Richtlinien mittlerweile fordern.
Nun muss Envisat also auf andere Weise heruntergeholt werden, ansonsten wird er mindestens 150 Jahre in seinem jetzigen Orbit bleiben – wenn er nicht vorher durch eine Kollision zertrümmert wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür wurde nach einem Bericht der Branchenzeitung "Space News" bereits 2010 von Experten mit 15 bis 30 Prozent beziffert – allerdings unter der völlig unrealistischen Annahme, dass die Mülldichte so lange ansonsten konstant bleibt. Das tatsächliche Risiko dürfte deutlich höher liegen und ist in jedem Fall untragbar.
Dennoch scheint es die ESA mit der Müllentsorgung nicht allzu eilig zu haben: Als vor einem Jahr zunächst einmal das originalgetreue Envisat-Modell vor dem Raumfahrtforschungszentrum ESTEC in Nordwijk entfernt wurde, war noch von 2021 als Startdatum für die Mission e.Deorbit zur Entfernung des realen Satelliten die Rede. Nur wenige Monate später war daraus auf einmal 2023 geworden. Einen Grund für die Terminverschiebung nannte die ESA auf Nachfrage nicht. In Raumfahrtkreisen wird vermutet, dass ursprünglich eine Kooperation mit der NASA geplant gewesen sei, die aber nach Intervention durch das US-Militär aufgegeben werden musste. Dort wird offenbar befürchtet, dass die Technologie zum Einfangen von Satelliten auch militärisch genutzt werden könnte.
Tatsächlich ist die kontrollierte Entfernung eines funktionslosen Satelliten aus dem Orbit technologisches Neuland. Während kleinere Trümmerteile durch gezielten Laserbeschuss von der Erde aus zum Absturz gebracht werden könnten, kommt der Einsatz dieser Technologie bei Envisat für die ESA nicht in Frage. "Laser können nicht genutzt werden, um große Objekte zu entfernen", sagt Luisa Innocenti, Leiterin des Clean Space Office bei der Pariser ESA-Zentrale. "Große Objekte erfordern einen kontrollierten Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, um das Risiko für Schäden am Boden auf 1 zu 10.000 begrenzen zu können." Es sei daher das physische Einfangen von Envisat erforderlich. Dabei steht der Einsatz eines Roboterarms an erster Stelle. "Wir werden daneben weiterhin Netze untersuchen", so Innocenti, "da sie für die Entfernung mehrerer Müllobjekte genutzt werden können und eine Ausweichlösung darstellen."
Aber ob nun mit Netz, Roboterarm oder Lasso: Die ESA sollte sich sputen. Sonst könnten selbst Bruchlandungen bald schwierig werden, weil die Raumschiffe bereits am terrestrischen Müllgürtel scheitern.
Eigentlich müsste es Aufgabe der Raumfahrtminister sein, auf die rasche Durchführung von e.Deorbit zu drängen. Von deutscher Seite ist in dieser Richtung allerdings wohl eher wenig zu erwarten: Die Raumfahrt liegt in der Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums. Und der Wirtschaftsminister hat erst kürzlich bei den Beratungen zum Klimaabkommen gezeigt, dass er den Abfall, der bei der Verbrennung von Kohle und Öl anfällt, nicht für sonderlich wichtig hält. Was kümmert den der Schrott im Orbit?