Home alone with Boris
Seit dem 1.Februar 2020 ist Großbritannien außerhalb der EU und Boris Johnson ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Das Problem: Alles, was jetzt passiert, ist in den Augen der Wähler seine Schuld
Zum Glockenschlag elf Uhr am 31.1. schlug Boris Johnson den Gong in 10 Downing Street, um auf den Moment anzudonnern, an dem das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlässt (in Brüssel war es zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Uhr und der neue Tag begann). Es sei ein wahrhaft historischer Tag, den Johnson mit dem etwas bizarren Satz feierte: "Dies sei nicht das Ende, auch nicht der Anfang vom Ende, sondern der Anfang vom Anfang." Damit könnte er natürlich Recht haben, denn bei der Loslösung von der EU ist man erst am Anfang und die Sache könnte noch ganz schön kompliziert werden.
In London herrschte an manchen Orten Verzagtheit, an anderen eine moderate Feierstimmung. Johnson ließ sich - hier muss ihm eine gewisse Schläue attestiert werden - nirgendwo blicken. Auf dem Parliament Square waren bei der Independence Day Party Alkohol, Live-Musik und Feuerwerk verboten. Die insbesondere in den Vororten gelebte Londoner Tradition, dass bei einer gelungenen Party Besoffene etwas in die Luft sprengen (siehe Bonfire-Night), konnte somit nicht ausgelebt werden. Und diesmal, so scheint es, war nicht Brüssel an der Regulierung schuld. Hier könnte es bald ein böses Erwachen geben, weil der bequeme Verantwortungstransfer aufs Festland nun nicht mehr funktioniert. Der Unmut wird bald die eigene Regierung treffen.
It’s the parliamentarism, stupid
Es gibt diesen, häufig von konservativen Kommentatoren benutzten, schiefen Satz, dass jede Bevölkerung die Regierung bekomme, die sie sich verdient habe. Das ist falsch. Den Bürgern bleibt nichts anderes übrig, als diejenigen zu wählen, von denen angenommen werden darf, sie würden eine bestimmte Politik durchsetzen. Für die einzelnen politischen Entscheidungen tragen die Wählerinnen und Wähler keine Verantwortung. Denn die konnten sie nie wählen. Auch den Brexit hat niemand gewählt, weil allen Beteiligten unklar war, was dieser eigentlich bedeuten würde. Es ist ja heute nicht einmal klar, was kommen wird.
An das simple Faktum, dass Wähler nicht eigentlich entscheiden können, werden Politiker nicht gerne erinnert. Lieber ergehen sie sich in blumigen Formulierungen, wie etwa die neue österreichische Bundesregierung, die ihren Koalitionspakt "Verantwortung für Österreich" nennt. Eine solche gibt es gar nicht, das ist eine viel zu abstrakte Vorstellung. Vielmehr sind die Politiker für sich selbst und ihre Entscheidungen verantwortlich. Und genau dies wird bei Wahlen in einer repräsentativen Demokratie auch gewürdigt.
Parlamentarismus ist im Guten wie im Schlechten eine unblutige Rache. Was einmal entschieden wurde, hat Konsequenzen - und die Konsequenzen holen diejenigen ein, die entschieden haben. Wie grausam diese Regel befolgt wird, zeigt sich insbesondere bei den seltenen, wichtigen Entscheidungen. Tony Blairs Entscheidung für den Eintritt in den Golfkrieg war eine solche. Das Parlament konnte sie nicht aufhalten, obwohl es eine deutliche Mehrheit gegen den Krieg gab.
Diese Mehrheit blieb virtuell, weil sie sich zu keinem gemeinsamen parlamentarischen Handeln verbinden konnte. Die Parallelen zum Brexit sind hier frappierend und reichen von der virtuellen Mehrheit (auch 2019 hatten die verschiedenen Remain-Parteien trotz Mandatsniederlage eine Stimmenmehrheit) bis hin zu den Massendemonstrationen, die Millionen Menschen gegen die Entscheidung auf die Straße brachte.
Trotz Protesten und Bedenken wurde beim Golfkrieg letztlich gegen die Mehrheit entschieden. Die Bevölkerung in Großbritannien hat Tony Blair und auch seiner Labour-Partei diese Entscheidung nie verziehen. Der arme, von Schuld gebeutelte Blair konvertierte 2017 deswegen sogar zum Katholizismus. Die Rache an Labour wirkt an der Wahlurne bis zum heutigen Tag nach. Ob sich ähnliche Phänomene auch im deutschen Parlamentarismus belegen lassen, könnte einmal mit SPD-Mandataren anhand der Agenda 2010 erörtert werden.
Wie den Brexit loswerden?
Boris Johnson wird es zumindest spüren und sein Berater Dominic Cummings wird es sogar wissen: Die Wähler in Großbritannien werden sich für die unausweichlichen negativen Folgen des Brexit an der Wahlurne rächen. Die Frage ist nun, wie können die beiden es anstellen, dass diese Rache jemand anderes trifft?
Das ganze Brexit-Unternehmen war ursprünglich ein Versuch von David Cameron, die Spaltung der Konservativen zu überwinden. Bislang konnte dieses Faktum erfolgreich unter den Teppich gekehrt werden, aber die Gefahr besteht, dass es nun umso mächtiger zurückkehrt und die Partei zerschlägt.
Im Grunde wäre jetzt, zur Milderung der Brexitfolgen, die Gelegenheit für "BINO" gekommen, den "Brexit in name only". Johnson könnte den Austritt äußerlich vollziehen und gleichzeitig äußerlich fast alle Vereinbarungen aufrechterhalten. Allerdings wäre gerade in diesem Modell der Austritt ein einziger Schaden. Die Mitbestimmung in der EU geht verloren, aber international lassen sich auch keine neuen Bündnisse schmieden. Warum dann überhaupt austreten? Es bräuchte großes Geschick, den Brexit derart abzuservieren.
Boris Johnson bemerkte in den Wochen nach seiner gewonnenen Wahl, dass er dem Publikum einen Gefallen tut, wenn er den Brexit so wenig als möglich erwähnt. Schließlich hatte man ihn gewählt, damit der Brexit endlich vorbei sei. Und genau diese Erwartung hatte Johnson mit dem Slogan "Get Brexit done" befeuert. Jetzt muss dieser aber tatsächlich durchgeführt werden und darf nicht die immer noch vorhandene gesellschaftliche Spaltung aufleben lassen.
Man versuchte es mit eigenwilliger Symbolpolitik, wie beispielsweise der Prägung von 50p-Brexit-Gedenkmünzen, deren Aufschrift Einigkeit und Völkerverständigung beschwor. Nicht zuletzt aufgrund der unklug gewählten Farbe der Münzen, erschienen diese "Silberlinge" wie eine biblische Illustration von Verrat. Der Gegenwind war beträchtlich und die vergiftete Stimmung heizte sich sogleich wieder auf. Wer seinen politischen Erfolg der Spaltung des Landes verdankt, wirkt eben betrügerisch, wenn er plötzlich Harmonie und Einigkeit beschwört.
Was geschieht nun?
Die Stärke und Schwäche konservativer Parteien liegt darin, keine ideologische Ausrichtung zu haben. Dies macht sie strategisch flexibel und zugleich offen für äußere Ideologien. Warum nicht mal den Rassismus ausprobieren? Die Tories wandelten sich in den letzten Jahren von eher geld- als weltbürgerlichen Europaliebhabern zu xenophoben Europahassern. Dabei wurden sie durchaus unterstützt von einer kurzsichtigen EU-Politik. Der Erfolg dieser Strategie schien den Tories allerdings Recht zu geben.
Aus dieser Haltung erwachsen zwar griffige Sprüche aber keine konkrete Politik. Johnson musste in den Wochen nach der Wahl Entscheidungen finden, die das breite Bündnis befriedigt, das ihn gewählt hat. Sollen die Stimmen im Labour geprägten Norden, dem sogenannten "Red Wall", nicht gleich wieder verloren gehen, dann muss er den Wählern dort etwas bieten.
Deswegen gab es zahlreiche Überraschungen. Beispielsweise verstaatlicht Johnson Bahngesellschaften (genau das wollte auch Corbyn tun), weil er weiß, dass das gut ankommt. Außerdem funktionieren die Bahnen dann besser, wie das Beispiel London gezeigt hat. Die privatisierten Londoner Nahverkehrszüge waren schlicht lebensgefährlich, da man sich nicht an die "Weisheit" der ebenso privatisierten Berliner S-Bahn hielt, die marodierten Züge besser gar nicht erst fahren zu lassen.
Entgegen allem Inselgetue werden die Visa für Wissenschaftler jetzt unmittelbar von "UK Research and Innovation" ausgestellt, einer staatlichen Agentur, die sich nicht zuletzt um die wirtschaftlichen Vorteile wissenschaftlicher Forschung kümmert. Johnson weiß genau, wo die propagierte Ideologie der geschlossenen Grenzen schlicht schädlich wäre und liberalisiert jetzt sogar den Zugang ins Königreich - zumindest für gut ausgebildete Eliten.
Schwieriger ökonomischer Alleingang
Johnsons Achillesferse wird aber wohl der Hard Brexit bleiben. Nigel Farage drohte bereits "Don’t drop the ball". Sollte sich der Austritt aus der Union zu sanft anfühlen, hätte Johnson schnell den nationalistischen Zorn gegen sich, den er zuvor selbst so gerne schürte. Die ökonomische Misere die daraus entsteht, ist relativ leicht vorherzusehen. Großbritannien hat heute bereits einen beträchtlichen Einfuhrüberschuss. Den weiten Rest der Welt mit günstigeren Einfuhrzöllen als die EU zu locken, würde nur die bereits geringe heimische Produktion schwächen. Mit höheren Einfuhrzöllen als die EU würde man sich von der Landkarte nehmen und den Bürgern den Warenzugang erschweren. Hier gibt es also de facto keine "fantastischen neuen Möglichkeiten".
Bleibt der äußerst kompetitive britische Dienstleistungssektor, auf den man voller Stolz und zukunftsträchtig bereits vor Jahrzehnten umgesattelt hatte. Nur Dienstleistungen brauchen den freien Zugang zu den europäischen Märkten und eben dieser ist jetzt bald futsch. Es zeigt sich an allen Ecken das gleiche Problem: Globalisierung hat stattgefunden. Man mag sie (aus guten Gründen) für falsch und schädlich halten und sich deswegen vielleicht ein Inseldenken zurechtlegen, mit diesem Kurzschluss geht die Globalisierung aber nicht weg.
Im Jahr 2020 ist keine Lösung für erfolgreiches und beliebtes nicht-globales Wirtschaften in Sicht. Nationales Heiapopeia scheitert somit an diesen wirtschaftlichen Voraussetzungen, die insgeheim sogar Donald Trump und die ungleich mächtigeren USA akzeptieren müssen. Johnson muss jetzt Dinge entscheiden und damit notwendig gewisse Gruppen enttäuschen. An einen erfolgreichen Brexit glaubt in seinem Umfeld aufrichtig niemand mehr.
Die Freundschaft zu Trump muss mit regelmäßigen Geschenken erkauft werden, wie dem Bejubeln des, gelinde gesagt, eher unausgegoren Friedensplans im Mittleren Osten. Weder die EU noch die USA werden wiederum Johnson Geschenke für seinen nationalen Alleingang machen. Beide sticheln bereits: Donald Tusk kann sich einen baldigen EU-Beitritt Schottlands vorstellen und die Trump-Administration hält anscheinend die Preise von US-Medikamenten in Großbritannien für zu niedrig. Dies hatte der unglückliche Corbyn präzise vorhergesagt.
Wenn Boris Johnson nicht liefert und ökonomischer Erfolg auf der Insel ausbleibt, dann wird ihn und seine Partei die Strafe für die schwerwiegende Entscheidung des Brexit ereilen. Die Bevölkerung weiß, dass sie nun mit Boris allein auf der Insel ist, denn Brüssel wurde aus dem Spiel genommen.
Wenn es besonders schlecht läuft, dann könnten am Ende die Tories sogar verschwinden und von einer - so wie es im Moment aussieht - noch nationalistischeren Bewegung ersetzt werden, die weiterhin der EU und den Ausländern die Schuld an allem geben wird. Egal, wie sinnwidrig diese Vorwürfe auch sein mögen. Keine guten Aussichten für die Insel und den Kontinent.
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