Homo musicus
Musik macht nicht nur glücklich und schlau. Einige Wissenschaftler sehen in ihr auch die Geburtshelferin des modernen Menschen
Das "Deutsche Requiem", mitgesungen im Universitätschor (Bass). "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras." Gänsehaut. - Nits, "Bad Government and its effects . . .", bei der Autofahrt. Der hypnotische Beat. Obsessives Mitklopfen auf dem Lenkrad. - Schlaflieder für die jüngere Tochter, mitten in der Nacht (jede Nacht). Das komplette Repertoire. Auf dem mickrigen Balkon des billigen Hotels auf Kreta, damit der Rest der Familie nicht aufwacht.
Musik ist ein Bestandteil des Glücks. Musik wühlt auf und besänftigt, Musik verbindet. "Ein Leben ohne Musik ist einfach ein Irrtum, ein Verhängnis, ein Exil", wusste Nietzsche, der beinahe Komponist geworden wäre. So ist es. Aber warum?
Aus naturwissenschaftlicher Sicht (die andere Sichtweisen nicht ausschließt) gibt es dafür zwei Antworten. Eine neuropsychologische, und eine evolutionäre. Die natürlich zusammenhängen.
Die Freude an der Ordnung der Töne
Wie alles, was gefällt, aktiviert auch Musik das Verstärkungssystem des Gehirns. Das ist nicht wirklich überraschend, aber erst vor wenigen Jahren haben Gehirnforscher das handfest gezeigt. In einem Experiment spielten sie Probanden Ausschnitte von Songs vor, die diese nicht kannten; anschließend konnten die Versuchspersonen festlegen, wie viel Geld ihnen das Lied wert war. So bekamen die Forscher ein objektives, quantifiziertes Maß des Gefallens.
Während die Probanden die Lieder hörten, maß ein Magnetresonanztomograph die Aktivitätsänderungen im Gehirn. Die Hörrinde war - wenig überraschend - stets aktiv, wenn Musik lief. Hier werden nicht nur Töne erkannt, sondern auch melodische Strukturen rekonstruiert. Ob ein Stück einem Hörer gefallen hatte, zeigte sich hingegen in der Aktivität, die im Nucleus accumbens gemessen wurde. Dieses Kerngebiet tief im unteren Innenrand der Großhirnhemisphären ist Teil des sogenannten Belohnungs- oder Verstärkungssystems. Angeregt durch den Botenstoff Dopamin, wird es umso aktiver, je mehr ein Reiz die Erwartungen übertrifft. Bei Ratten bestehen solche Reize in Futter, Sex oder Drogen. Was aber hat dem menschlichen Nucleus accumbens die Musik zu bieten?
Aktivität fand sich in den beschriebenen Experimenten auch in Teilen des Stirnhirns. Dort, wo Regeln und Muster erkannt, Signale ausgewertet und Entscheidungen getroffen werden. Die unteren Anteile des Stirnhirns waren beim Musikhören mutmaßlich damit befasst, die Belohnungswürdigkeit der Songs abzuschätzen und dem Nucleus accumbens weiterzugeben. Die Schlüsselrolle aber übernahmen seitlich darüber liegende Bereiche des Stirnhirns: Einerseits haben sie enge Verbindungen zur Hörrinde, andererseits liefern sie das Arbeitsgedächtnis, das nötig ist, um überhaupt Strukturen und Melodien zu erkennen. Und zwar fand sich Aktivität in der "ganzheitlichen" rechten Hirnhälfte, denn die erkennt eher die subtilen, hintergründigen Muster.
Die Hirnforschung bestätigt damit das, was jeder Musikliebhaber weiß: Musikgenuss ist ein emotionales Vergnügen, aber auch ein kognitives. Das Verstehen und Entdecken von Mustern macht Freude - denn dafür ist das Gehirn ja da (Warum wollen Sie diesen Artikel lesen?).
Auch der kognitive Aspekt von Musik ist viel diskutiert worden. Mozart zu hören, soll Schulkinder schlau und Milchkühe produktiv machen - der sogenannte "Mozart-Effekt". In dieser Schlichtheit hat er sich nie reproduzieren lassen. Zum Glück, denn Mozart komponierte sicherlich nicht mit dem Ziel, das Human- (bzw. Bovin-) Kapital zu optimieren.
Trotzdem greifen Forscher weiterhin gerne auf Mozart zurück, wenn sie die kognitiven Wirkungen von Musik untersuchen. Auch wenn die "Kleine Nachtmusik" nicht schlauer macht im Sinne nutzbarer IQ-Punkte, helfen ihre Köchel-Geschwister, und überhaupt harmonische Musik, dabei, die verwirrende Welt geistig zu verarbeiten.
Denn neues Wissen widerspricht per definitionem bekanntem Wissen. Sonst wäre es ja nicht neu (sondern würde nur bereits deduzierte Vermutungen bestätigen). Jede neue Erfahrung induziert also das, was Psychologen "kognitive Dissonanz" oder "kognitive Interferenz" nennen. Das Phänomen lässt sich leicht experimentell induzieren, z.B. indem man Kinder zunächst eine Reihe von Spielzeugen nach Beliebtheit ordnen lässt, und ihnen dann verbietet, mit dem besten Spielzeug zu spielen. Fragt man dann erneut nach der Beliebtheits-Rangfolge, rutscht das verbotene Spielzeug zuverlässig nach unten. Das heißt: Tritt kognitive Dissonanz auf ("Ich will es, aber ich darf es nicht."), dann wird eine der beiden konfligierenden Informationen verworfen. "Die Trauben sind sauer", sagt der Fuchs.
Der Harvard-Psychologie Leonid Perlovsky machte diesen Versuch mit Kindern. Im Hintergrund lief dabei eine Mozart-Sonate, während in der Kontrollgruppe Stille herrschte. Wie erwartet, entwerteten die Kinder der Kontrollgruppe das verbotene Spielzeug. Die Mozart-Hörer dagegen werteten es sogar auf. Sie hatten die kognitive Dissonanz bewältigt. Ebenso wie die Probanden, mit denen Perlovsky den Versuch ein Jahr später wiederholte und erweiterte. Diesmal war der Stroop-Test das Mittel, um kognitive Interferenz zu induzieren. Also Farbwörter, die in den falschen Farben gedruckt sind, so dass diese schwer zu benennen sind. Diesmal spielte dabei ein Mozart-Menuett im Hintergrund, entweder im Original, oder in einer abgeänderten, dissonanten Version. Wie erwartet verbesserte die harmonische Musik die Leistung; die schrägen Klänge dagegen verschlechterten sie sogar.
Perlovsky bindet diese Befunde in eine weitreichende Theorie ein: Da beim Auftreten kognitiver Dissonanz immer die neue Information verworfen wird, ist Lernen eigentlich unmöglich. Das Ereignis in der menschlichen Evolution, das zum massenhaften Auftreten von kognitiver Dissonanz geführt hat, ist die Entwicklung der Sprache: Sie trennt die Lautäußerungen von unmittelbaren emotionalen Ausdruck und nutzt sie stattdessen zur Benennung von Konzepten, die in einem komplexen, ständig Widersprüche erzeugenden Netz von Wissen verknüpft sind. Das heißt: Mit Sprache entsteht kognitive Dissonanz. Hätte der frühe Mensch dieses Problem nicht gelöst, dann hätte er nie sprechen gelernt.
Darum, so Perlovsky, entstand parallel zur Sprache der andere Gebrauch der Stimme, der emotionale, nicht-kognitive: der Gesang, die Musik.
Menschen machen Musik
Tatsächlich ist Musik typisch für den Menschen. Ähnlich wie die Sprache definiert sie den modernen Menschen ebenso nach innen wie nach außen: Nach innen, weil Menschen in allen Kulturen der Welt Musik machen, und dies schon so lange, wie es Menschen gibt. Die ältesten Musikinstrumente - Knochenflöten, die in einer Höhle der Schwäbischen Alp gefunden wurden - sind so alt wie die Ankunft von Homo sapiens sapiens in Europa. Alle Menschen machen Musik.
Nach außen, weil unsere nächsten Verwandten im Tierreich komplett unmusikalisch sind. Menschenaffen singen nicht nur nicht, ihnen geht auch eine musikalische Grundfähigkeit ab: die Fähigkeit, einem Beat zu folgen. Jeder Mensch kann das, sogar Menschen mit Amusie, die erblich unfähig sind, Tonhöhen bewusst zu verarbeiten. Wenn ein Metronom tickt, dann können wir im Gleichtakt klopfen. Und wenn es die Tickfrequenz ändert, können wir uns daran anpassen.
Menschenaffen (und die meisten, aber nicht alle, Tiere) können das nicht. Nicht mal nach monatelangem Training. Im unmittelbaren taxonomisch-familiären Umfeld gilt: Nur Menschen machen Musik.
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten in den Musiken der Welt sind Forscher auf recht wenige, basale Universalien gestoßen: Tonleitern, Metrum, niedrigzahlige Takte findet man fast immer. Und: Fast überall wird Musik gemeinsam gemacht. Musik hat eine soziale Funktion.
Zum Beispiel transportiert sie Gefühle. In der Sprache ebenso wie in der Musik sind einige Intervalle mit bestimmten Gefühlen assoziiert: Die absteigende, kleine Terz (der Kuckucksruf) mit Traurigkeit. Die aufsteigende, kleine Sekunde, gefolgt von der reinen Quinte (zum Grundton, also dem Tritonus zur Sekunde) drückt Wut aus. Menschen mit Amusie sind dementsprechend außerstande, Gefühle allein aus der Sprachmelodie zu erkennen.
Sie erzeugt aber auch das, was man Resonanz nennen könnte, soziales Einschwingen. Die erwähnte Fähigkeit, einen Beat aufzunehmen, ist nämlich nicht einfach ein Nach-Klopfen: Dann käme das Klopfen ja stets ein paar hundert Millisekunden nach dem Schlag. Sondern der jeweils nächste Schlag wird antizipiert. Vor der Erfindung des Metronoms bedeutete dies also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf die akustischen Signale eines anderen einzulassen und sie innerlich zu repräsentieren. Auch dies also eine Grundlage sozialen Denkens - etwas, worin Menschenaffen notorisch unterbelichtet sind.
Hingegen findet sich diese Fähigkeit - wieder einmal - bei Vögeln: Singvögeln, Papageien, Kolibris. Und bei Meeressäugern. Gemeinsam ist all den Mit-Wippern, dass sie ihre Lautäußerungen durch Nachahmung lernen. Und dass sie eine hohe soziale Intelligenz haben.
Menschen haben, anders als Menschenaffen, besonders ausgeprägte Verbindungen von der Hörrinde über den Scheitellappen in Teile des Stirnhirns, welche die musikalischen Fähigkeiten zu Melodik und Rhythmik vermitteln. Sie sind genetisch verankert: Amusie, bei der eine dieser Verbindungen gestört ist (denn die Hörrinde funktioniert ganz normal), ist erblich. Musik ist uns angeboren.
So hängen also die drei kognitiven Merkmale, die uns von Schimpansen unterscheiden, eng zusammen: Sprache, Musik, soziale Einfühlung. Musik ermöglichte vielleicht die Entwicklung der Sprache, durch die wir die Komplexität der Welt erfassen. Musik vermittelt, ebenso wie Sprache, auch die Gemeinschaft, das Sich-Einlassen auf Andere. Musik ist somit Ausdruck und Mittel der Gemeinsamkeit, nicht des Gegeneinanders. Das ist, was den Menschen ausmacht.