Homo oeconomicus: Wenn die Psyche zur Profitmaschine wird
Der moderne Mensch handelt rational und gewinnorientiert. Gefühle werden verdrängt. Was die Profitgier mit unserer Seele macht, zeigt sich heute deutlicher denn je. (Teil 1)
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948
Instrumentelles Denken und Nutzenmaximierung
Die UN-Menschenrechtserklärung geht von wünschenswerten gesellschaftlichen Zuständen und mentalen Befindlichkeiten aus, die in dieser Form bisher nicht eingetreten sind.
Bereits Marx/Engels ziehen eine deutliche Verbindung zwischen psychischen Strukturen, Denkweisen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen1:
Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert? Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.
Mit der sich entwickelnden Industriegesellschaft – und dies gilt noch viel stärker in der digitalen spätkapitalistischen Gesellschaft – wird ein Menschentypus hervorgebracht, der durch eine Formung der Weltwahrnehmung gekennzeichnet sei, die Horkheimer (1947/1986) als instrumentelle Vernunft kennzeichnete.
Die Forderung von Immanuel Kant nach einer Mündigkeit im Sinne der Unabhängigkeit und der Selbstständigkeit des Denkens ohne die Gängelung von Kirche und Staat werde nun einseitig kanalisiert.
Die Ausschaltung von empathischen Gefühlen und die Einengung des Denkens orientiert an instrumenteller Effizienz bedeuten, die natürliche und soziale Mitwelt nur daraufhin zu betrachten, inwieweit sie der egoistischen Interessendurchsetzung in der Konkurrenz zu den anderen von Nutzen sei.
Hierbei liegt der Maßstab im wirkungsvollen Einsatz von Mitteln, um einen Zweck, z. B. eine optimale Rendite, zu erzielen. Alle Überlegungen und eingesetzten Mittel werden diesem Zweck untergeordnet. Störende Gedanken und Gefühle würden verdrängt, z. T. ins Unterbewusste abgeschoben.
Die Anwendung der Rational-Choice-Theorie in den Wirtschaftswissenschaften zeigt idealtypisch, wie diese instrumentelle Vernunft zu funktionieren hat. Handlungsmöglichkeiten werden danach ausgewählt und rational abgewogen, inwieweit sie die effektivsten Möglichkeiten zur Nutzenmaximierung bieten, ohne dass die persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen. Hierhinter steht das Menschenbild des Homo oeconomicus, der eigennützig, selbstzentriert und unter Verdrängung der Emotionalität handelt.
Persönlicher Nutzen wird maximiert, Kosten werden möglichst auf die anderen abgewälzt. Die Interpretation von Situationen und die selektive Wahrnehmung einer Situation richten sich also danach, welche Wahrnehmung und welche Deutung derselben den größten Nutzen bieten.
Im Mittelpunkt des in diesem Sinne rational handelnden und entscheidenden Homo oeconomicus steht der persönliche Erfolg. Er versucht, soziale Situationen so zu kontrollieren, dass seine eigene Interessendurchsetzung und Bedürfnisbefriedigung nicht gefährdet sind.
Er ist in erster Linie konkurrenzorientiert, ist aber auch in der Lage, mit anderen zu kooperieren, wenn dies seiner persönlichen Nutzenmaximierung dient. Er – der ja genauso eine Frau sein kann – könnte sogar empathisch sein, wenn dies seinen Interessen dient.
Er macht sich höchstens dann um gesellschaftliche Probleme Sorgen, wenn dies seine Nutzenmaximierung stört. Er ist auch der Globalisierungsgewinnler, dessen imperiale Lebensweise2den Planeten zugrunde richtet.
Der ist der Prototyp des kapitalistisch sozialisierten Menschen.
Marx/Engels beschrieben bereits für das 19. Jahrhundert, dass das sich durchsetzende kapitalistische Gesellschaftssystem alle bisherigen Verhältnisse und Bindungen brutal zerreißen und einen bestimmten Menschentypus hervorbringen würde. Die Klasse, die vom Kapitalismus vorwiegend ökonomisch und politisch profitiert, die Klasse der Kapitaleigentümer, würde das Denken der Menschen dominieren und3:
... kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglassen als das nackte Interesse, als die gefühllose‚ "bare Zahlung". (…) Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst. (…) Sie hat mit einem Wort an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Instrumentelles Denken hat – nach Horkheimer – einen subjektiven Vernunftbegriff zum Hintergrund, also wie das einzelne Individuum im Rahmen des von ihm subjektiv gesehenen Zweck-Mittel-Denkens in optimierter Weise handeln kann. Hingegen sind seiner begrifflichen Unterscheidung nach objektive Vernunftentwürfe auf als wertvoll erachtete Ziele einer Kultur gerichtet – also zunächst unabhängig von seinem eigenen materiellen Interesse.
Das individuelle Verhalten hierbei ist – im Gegensatz zum technisch-instrumentellen Denken – an einem Denken orientiert, das diese Ziele versteht, kritisch durchdenkt und im Falle positiver Akzeptanz zur Richtschnur des eigenen Handelns macht.
Das entwickelte und gereifte Humane bildet sich daher nicht ausschließlich in einem technisch-instrumentellen Verständnis von Vernunft ab, sondern zeigt sich vorwiegend in einer Vernunft, die auf das kritische und unabhängige Durchdenken von Zielen des Zusammenlebens gerichtet und an der Verantwortlichkeit für das gesellschaftliche Ganze orientiert ist.
Max Horkheimer stellt die Verbindung zwischen technischer Entwicklung und Entmenschlichung her, die nun durch die Digitalisierung und ein hybrides Mensch-Technik-System sowie durch das Eindringen Künstlicher Intelligenz in die menschliche Weltwahrnehmung noch eine aktuelle Variante erhalten hat4:
Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.
Max Horkheimer
Hier kann es natürlich nicht um ein Plädoyer gegen technischen Fortschritt generell gehen, nämlich dann nicht, wenn er dem Humanen oder auch der Mensch-Umwelt-Beziehung dient. Es geht allerdings um die Verhinderung einer Überwältigung des Menschen (und seiner Umwelt) durch die von ihm eingesetzte menschliche Technik und um die Kritik einer Vernunft, deren Grundlage nicht kritisches und theoriegeleitetes Denken, sondern eine Unterwerfung unter ein rigoroses Zweck-Mittel-Denken ist – so Horkheimer5:
Als die Idee der Vernunft konzipiert wurde, sollte sie mehr zustande bringen, als bloß das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu regeln; sie wurde als das Instrument betrachtet, die Zwecke zu verstehen, sie zu bestimmen.
Eine objektive Vernunft im von Horkheimer gemeinten Sinne ist dementsprechend eine Vernunft, die aus sich heraus zielgerichtet mit bestimmten Werten verbunden ist, wie Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Toleranz.
Herbert Marcuse verweist in diesem Sinne auf die Verbindung von Gesellschaftsstruktur und Individualität. Gesellschaft werde mehr und mehr eindimensional und forme entsprechend die Bedürfnisstrukturen des Individuums. An die Stelle kritischen Denkens und befreiten sowie der Befreiung dienenden Handelns würde eine psychische Unterwerfung unter die Bedürfnisformierung der Gesellschaft treten.
Derartige Bedürfnisse sind vor allem Konsum- und Statusbedürfnisse, deren Durchgängigkeit an die Stelle brutaler Unterwerfung im Sinne einer subtilen sozialen Kontrolle treten würde6:
Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie hervorgebracht hat. (…)
Es ist daher kein Wunder, dass die sozialen Kontrollen in den fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung "mitzumachen" erscheint als neurotisch und ohnmächtig. Das ist der sozialpsychologische Aspekt des politischen Ereignisses, von dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der vorhergehenden Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.
Herbert Markuse
Wenn sich nun angepasstes Denken mit autoritären Persönlichkeitsstrukturen verbindet, entsteht ein Persönlichkeitstypus der von Theodor W. Adorno u. a. beschriebenen autoritären Persönlichkeit, die gern nach oben buckelt und nach unten tritt, Minderheiten diskriminiert, ganze Menschengruppen abwertet und ein hohes Aggressionspotenzial hat.
Der Untersuchungsansatz von Adorno ähnelt hier dem späteren theoretischen Ansatz ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ in den Studien von Wilhelm Heitmeyer u. a.
Dieser Persönlichkeitstypus fügt sich funktional in hierarchische Strukturen ein und ist das Produkt von Unterdrückung und Unterwerfung in den gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen sowie entsprechenden Strukturen in Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche Strukturen setzen sich dann über Sozialisationsprozesse vermittelt in Charakterstrukturen um und haben einen Bezug zu psychoanalytisch zu betrachtenden Persönlichkeitsprozessen7:
Um die "Internalisierung" des gesellschaftlichen Zwangs zu erreichen, die dem Individuum stets mehr abverlangt als sie ihm gibt, nimmt dessen Haltung gegenüber Autorität und ihrer psychologischen Instanz, dem Über-Ich, einen irrationalen Zug an. Das Individuum kann die eigene soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.
Theodor W. Adorno
Kritik an diesen Einschätzungen der kritischen Theorie
Soweit die Rekonstruktion der Bewusstseinsentstehung und mentaler Engführungen im Kapitalismus aus der Sicht traditioneller Vertreter der Kritischen Theorie. Es ist allerdings kritisch zu hinterfragen, ob diese Einschätzungen tatsächlich in dieser Eindeutigkeit und Ausprägung in sich kapitalistisch entwickelnden Gesellschaften vorliegen.
Die marxistische Einschätzung vom Absterben der vorkapitalistischen Gefühle und Haltungen zugunsten eines nackten materiellen Interesses lässt sich sicherlich in dieser Einseitigkeit nicht nachweisen.
In den zwischenmenschlichen Beziehungen, gerade im Umgang und der Förderung von Kindern z. B. in der Familie oder in liebevollen Partnerbeziehungen, spielen Emotionen und Bindungen eine Rolle, die über eine reine Geldbeziehung weit hinausgehen.
Auch Religionen spielen weltweit immer noch eine bedeutende Rolle und wurden im marxistischen Ansatz unterschätzt. Religion als "Opium für das Volk" degradiert religiöse Menschen zu Drogenabhängigen und spricht ihnen jegliche Mündigkeit ab – auch wenn religiöse Institutionen in verschiedenen Kulturkreisen immer noch ein Problem mit mündigen Menschen haben.
Sicherlich verweisen die Überlegungen der traditionellen Vertreter der Kritischen Theorie, die sich teilweise an Elementen des marxistischen Ansatzes orientieren, aber deutlich über diesen hinausgehen, auf wichtige Zusammenhänge zwischen Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung und auf strukturelle Tendenzen einer Einengung der menschlichen Psyche.
Die Verführung, aber auch der systemische Druck, sich mental einseitig im Sinne einer angepassten, instrumentellen Rationalität zu entwickeln, ist groß. Dennoch gibt es genügend Beispiele von Persönlichkeiten, Bewegungen und sozialen Gruppen, denen es gelungen ist, sich über die systemischen Einengungen hinwegzusetzen, eine nonkonforme Identität zu entwickeln und widerständig gegen herrschende Strukturen zu sein. Wie sonst lässt sich die Existenz und das Wirken von Menschen wie Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Martin Luther King und Bertha v. Suttner erklären?
Wie lassen sich ansonsten die Gründung und das Engagement von gesellschaftlichen Initiativen wie die "International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN)", "Sicherheit neu Denken", "Democracy without Borders", die "Internationalen Ärzt:innen gegen den Atomkrieg (IPPNW)" und weltweit viele vergleichbare an gemeinnütziger gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme orientierter Initiativen verstehen?
Dies sind nur einige bekannte Beispiele von Zivilcourage und unangepasstem Denken, die z.B. in gewerkschaftlichen Bewegungen, Friedensinitiativen, Bürgerinitiativen unterschiedlichster Art, Nachbarschaftshilfen und unangepassten politischen Parteien vielfältige Ausprägungen eines nonkonformen Widerstrebens gegen ausschließlich instrumentelle Vernunft, psychische Entfremdung und autoritäres Denken finden.
Auch dürfte in den Tausenden kommunitären Gemeinschaften im globalen Kontext die Motivation für die Schaffung eines solidarischen Lebens nicht im instrumentellen Denken begründet sein Global Ecovillage Network (GEN).
Das Richtige – im Sinne der UN-Menschenrechtserklärung – kann sich also doch im Falschen zumindest in ernst zu nehmenden Ansätzen entwickeln. Der individualisierte, egozentrische und autoritäre Menschentypus des Homo oeconomicus scheint auch in den verschiedenen Phasen des sich entwickelnden Kapitalismus nicht zwangsläufig zu sein.
Der zweite Teil des Artikels erscheint morgen.
Der Artikel ist in einigen Passagen angelehnt an das Kapitel 1.7 des von Klaus Moegling veröffentlichten Buches "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich". Die 5. aktualisierte und erweiterte Auflage ist inzwischen auch im open access lesbar.
Klaus Moegling, Jg. 1952, ist habilitierter Politikwissenschaftler i.R., er lehrte an verschiedenen Universitäten und Institutionen der Lehrerbildung, zuletzt an der Universität Kassel als apl. Professor im Fb Gesellschaftswissenschaften, er engagierte sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie in Bildungsinitiativen. Er unterstützt u.a. als Erstunterzeichner den Appell auf Change.org gegen die 2026 vorgesehene Hyperschallraketenstationierung und gegen die nukleare Aufrüstung sowie den Berliner Appell: "Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt".