Hunderttausend Kämpfer in Syrien teilen die IS-Ideologie

Kämpfer der islamistischen Jaish al-Islam führen ihre Disziplin vor

Nach einem Bericht der Blair-Stiftung würde auch die Niederschlagung des Islamischen Staats den globalen Dschihad nicht beenden

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Am wichtigsten sei es jetzt, so heißt es gerne, den Islamischen Staat in Syrien und im Irak zu bekämpfen. Für diese Aufgabe müssten alle zusammenrücken und ihre unterschiedlichen Interessen hintanstellen. Im UN-Sicherheitsrat wurde einstimmig eine Resolution angenommen, die neben einem Waffenstillstand und Gesprächen zwischen Regierung und Opposition einen kühnen Friedensplan vorsieht, nach dem unter Mithilfe der UN in einem halben Jahr eine Übergangsregierung gebildet werden und nach 18 Monaten und der Schaffung einer neuen Verfassung die Wahl für eine neue Regierung stattfinden soll.

Um zu einer Einigung zu kommen, wurden freilich die kritischen Fragen ausgespart, nämlich inwieweit und wie lange Assad am politischen Prozess teilnehmen kann, soll oder muss und welche Oppositionsgruppen an den Gesprächen beteiligt werden sollen. Beschlossen wurde lediglich, den Islamischen Staat, al Nusra und andere al-Qaida-Gruppen trotz Waffenstillstand weiter zu bekämpfen. Jordanien erhielt den Auftrag, eine Liste der Terrorgruppen zu erstellen, die dann dem Sicherheitsrat zur Entscheidung vorgelegt wird. Ob es hier zu einer einvernehmlichen Lösung kommen wird, ist fraglich, schließlich haben die Golfstaaten, die USA, Russland, Iran oder die Türkei sehr unterschiedliche Ansichten, welche Gruppe terroristisch ist und welche "gemäßigt" oder oppositionell. Es gibt Hunderte von Gruppen, die wechselnd miteinander koalieren, sich dulden oder sich bekämpfen.

Nach einem Bericht des von Tony Blair gegründeten und finanzierten Centre on Religion and Geopolitics, das angeblich Informationen über den Zusammenhang von Religionen und Konflikten bietet, ist die Anti-IS-Ausrichtung falsch ausgelegt. Mindestens 65.000 Militante in Syrien haben dieselben Ansichten wie der Islamische Staat.

15 der mit dem IS kämpfenden salafistisch-dschihadistischen Gruppen mit einer transnationalen Ideologie würden sich an dessen Stelle setzen, sollte er besiegt werden. Vier davon, Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra, Jaish al-Islam und Liwa al-Umma seien mit insgesamt fast 50.000 Kämpfern stark genug, selbst Territorien zu kontrollieren.

Eine militärische Lösung würde, so der Bericht, keine Lösung sein, da der IS aus Bewegungen entstanden ist, die es vor seiner Existenz gab, und die es auch nach seiner Zerschlagung weiter geben würde.

Führer der islamistischen Gruppe Jaish al-Islam

Der Versuch, gemäßigte von extremistischen Gruppen zu trennen, verkennt die Wirklichkeit

Untersucht wurden 48 Rebellengruppen in Syrien, also nur einige der vielen, darunter seltsamerweise auch Khorosan, eine angebliche al-Qaida-Gruppe, die aber eher ein Konstrukt sein dürfte, mit der die ersten Angriffe der US-Luftwaffe auf Syrien legitimiert werden sollten. 60 Prozent der größeren syrischen Rebellengruppen, so dämpft der Bericht die durch die UN-Resolution gehegten Erwartungen, seien islamistische Extremisten, die einen Gottesstaat errichten wollen. 33 Prozent davon, der IS inklusive, seien salafistisch-dschihadistische Gruppen mit derselben Ideologie wie der IS, denen fast 100.000 Kämpfer angehören würden, davon 30.000 dem IS. Dazu gehören etwa Jaish al-Islam, Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra, Kurdish Islamic Front, Liwa al-Haqq, Liwa al-Umma oder die Turkestan Islamic Party.

23 Prozent der Gruppen wie Jaish al-Nasr, Liwa Thuwwar al-Raqqa, Martyrs of Syria Brigades, New Syria Forces oder die Revolutionary Army werden als ambivalent bezeichnet. 5 Prozent stellen kurdische Gruppen (Jabhat al-Akrad, YPG, YPJ) dar, 10 Prozent gelten als Schutz- oder Verteidigungsgruppen. 4 Prozent (YPG, YPG) wollen einen unabhängigen Staat.

Mitglieder einer angeblichen Sondereinheit von Ahrar al-Sham beim Training

90 Prozent der Gruppen würden das Ziel haben, Assad zu stürzen, 33 Prozent kämpfen gegen den IS. Nur 38 Prozent würden eine Demokratie anstreben, 10 Prozent einen Schutz aller ethnischen und religiösen Gruppen. Entscheidend ist, dass die Gruppen eben auch unabhängig von ihrer Ideologie Koalitionen eingehen, manche sind nur lokal präsent, andere über das Land verteilt. Manche bekämpfen sich in einer Region, während sie in anderen Koalitionen bilden. Der Schluss, den die Autoren ziehen:

Jeder Versuch der internationalen Mächte, zwischen akzeptablen "Moderaten" und nicht-akzeptablen "Extremisten" zu unterscheiden, geht fehl. Es gibt endlose Überscheidungen.

So würden Teile der Freien Syrischen Armee, die mit US-Waffen versorgt wurden, mit al-Nusra kooperieren, während Gruppen wie Liwa Muhajirin wal-Ansar, Faylaq al-Rahman, Harakat Nour al-Din al-Zenki und die First Coastal Division, die Panzerabwehrraketen der USA erhalten haben sollen, ideologisch islamistisch oder salafistisch sind.

Als Schlussfolgerung bietet der Bericht die Aussage, dass die meisten Oppositionsgruppen unabhängig von ihrer Ideologie gegen Assad seien, weswegen es keinen Frieden geben werde, wenn er nicht abtritt. Nur ein Rücktritt Assads würde den Konflikt aber auch nicht beenden, zumal wenn man versucht, gemäßigte von extremistischen Rebellen zu trennen. Weil es viel mehr extremistische Rebellen gebe, würde eine Beendigung des Konflikts eine islamistische Ausrichtung haben. Die größte Gefahr aber gehe davon aus, die Gruppen mit einer IS-ähnlichen Ideologie außer Acht zu lassen. Irgendwie müsse mit den islamistischen und salafistischen Gruppen auch deren Ideologie "intellektuell und theologisch" bekämpft werden. Wie das gehen soll, verrät Blairs Thinktank allerdings nicht.

Tony Blair erklärte kürzlich, der islamistische Terrorismus sei nicht einfach ein politisches Problem, auch könne er nicht auf Armut oder Unterentwicklung zurückgeführt werden, er sei ein "religiöses Problem", weswegen man die Ideologie "angreifen und ausmerzen" müsse. Zudem sei es eine Perversion des Islam, die vom Islam gelöst werden müsse. Blair und seine Stiftung wollen den islamistischen Terrorismus also nur aus Ideologie verstehen, die irgendwie von religiösen Verführern verbreitet und ganz unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, also auch von der Politik des Westens, als eine Art Mem in die Köpfe von Menschen geraten ist.