IGH-Klage gegen Deutschland: Was der Fall über die neue Weltordnung aussagt – und unsere Rolle darin

Szene zu Beginn des Verfahrens vor den IGH heute. Bild: Screenshot, ICJ

Israels Krieg in Gaza: Nicaragua klagt gegen deutsche Politik. Hier die zehn wichtigsten Argumente. Und eine zweifelhafte Reaktion. Ein Telepolis-Leitartikel.

Nicaragua hat Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen der Beihilfe zum Völkermord im Gazastreifen beschuldigt. Der Vorwurf bezieht sich unter anderem auf deutsche Waffenlieferungen an Israel. Nicaragua sei überzeugt, dass Deutschland mit diesen Lieferungen einen Völkermord ermögliche und gegen internationales Recht verstoße, sagte der Botschafter Nicaraguas, Carlos José Arguello Gomez.

Deutschland weist Vorwürfe zurück

Deutschland hat die Vorwürfe "entschieden und umfassend" zurückgewiesen. Die Völkerrechtsbeauftragte des Auswärtigen Amtes, Tania von Uslar-Gleichen, betonte, Deutschland habe weder gegen die Völkermordkonvention noch gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Die Darstellung Nicaraguas bezeichnete sie als "eklatant einseitig".

Deutschland hat heute vor den 16 Richtern des Gerichts seine Position dargelegt, nachdem Nicaragua die Vorwürfe begründet hatte.

Mit einer Entscheidung wird in etwa zwei Wochen gerechnet.

Israel verweist auf Selbstverteidigungsrecht

Israel hatte den Völkermord-Vorwurf bereits zurückgewiesen und sich auf sein Recht zur Selbstverteidigung nach den Massakern der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Palästinenserorganisationen am 7. Oktober berufen. Bei den Angriffen waren rund 1.200 Menschen getötet worden. Bei den anschließenden Angriffen Israels auf den Gazastreifen sind nach Angaben der lokalen Gesundheitsbehörde bereits rund 33.000 Menschen getötet worden.

Internationale Medien und politische Beobachter weisen darauf hin, dass es für die westlichen Unterstützer Israels – vor allem in Washington und Berlin – immer schwieriger wird, diese Unterstützung zu gewährleisten. Grund dafür sind die mittlerweile offenen Angriffe der israelischen Armee auf humanitäre Helfer und Gesundheitseinrichtungen.

Angriffe auf Krankenhäuser und Helfer

Die Rechtfertigung dieser Angriffe mit der Behauptung, Fahrzeuge von Hilfsorganisationen oder Krankenhäuser würden von der Hamas benutzt, ist zumindest umstritten, zumal Beweise dafür oft fehlen.

In dieser Situation wirft die Klage Nicaraguas gegen Deutschland ein Schlaglicht auf die Widersprüche der sogenannten wertebasierten Ordnung und gleichsam der ihr dienenden "wertegeleiteten Außenpolitik".

Der Westen schaut überwiegend in die Ukraine

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde zuletzt Anfang des Monats deutlich. Während sich in Den Haag auf Einladung der niederländischen Regierung Vertreter von mehr als 50 überwiegend westlichen Staaten trafen, um über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine zu beraten, wurden in Gaza die Leichen mehrerer humanitärer Helfer geborgen, die tags zuvor einem israelischen Drohnenangriff zum Opfer gefallen waren.

Man kann das als unschöne Koinzidenz abtun. Aber daran zu erinnern ist kein Whatsaboutism. Denn eine vergleichbare Konferenz der oben genannten Akteure zu den offenen Verletzungen des Menschen- und Völkerrechts durch die Hamas, durch Israel oder durch die Hamas und Israel hat es bisher nicht gegeben. Und ich muss an dieser Stelle prognostizieren: Es wird sie wohl auch nicht geben.

Nicaraguas Forderungen vor dem IGH

Nicaragua fordert in dem laufenden Eilverfahren, dass die Richter den sofortigen Stopp deutscher Rüstungslieferungen an Israel anordnen. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Rüstungslieferungen im Wert von 326,5 Millionen Euro an Israel genehmigt – das ist zehnmal so viel wie im Vorjahr (32,3 Millionen Euro). Ein Wandel der Rüstungsexportpolitik ist nicht erkennbar. Und das, obwohl in Gaza massenhaft unbeteiligte Zivilisten getötet werden.

Außerdem soll Deutschland vom UN-Gerichtshof verpflichtet werden, die Unterstützung des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) wieder aufzunehmen. Das Hilfswerk war in die Kritik geraten, weil einige Mitarbeiter an dem Massaker beteiligt gewesen sein sollen.

Klage Nicaraguas: Militärhilfe im Fokus

Nicaragua fordert den IGH auf, Deutschland zu verurteilen und festzustellen, dass es seine internationalen Verpflichtungen verletzt hat. Deutschland solle aufgefordert werden, seine Unterstützung für Israel, insbesondere die Militärhilfe, unverzüglich einzustellen. Zudem solle Deutschland verpflichtet werden, seine Entscheidung, die Finanzierung der UNRWA einzustellen, rückgängig zu machen.

Nach Auffassung Nicaraguas beruht die Zuständigkeit des IGH auf Artikel 36 seines Statuts. Sowohl Nicaragua als auch Deutschland haben eine Erklärung abgegeben, in der sie die obligatorische Zuständigkeit des Gerichtshofs auf der Grundlage von Artikel 36 Absatz 2 anerkennen.

Auch stützt sich Nicaragua auf Artikel IX der Völkermordkonvention, der Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention dem IGH überträgt.

Nicaragua behält sich das Recht vor, seine Klage und seine Anträge zu überarbeiten, zu ergänzen oder zu ändern. Zum Schutz der mit der Klage geltend gemachten Rechte wurde auch ein Antrag auf einstweilige Maßnahmen gestellt.

Zehn Argumente aus der Klageschrift

1. Verletzung des Völkermordverbots: "Deutschland hat nicht nur seiner Verpflichtung zur Verhütung des an den Palästinensern begangenen und weiterhin begangenen Völkermordes nicht nachgekommen, sondern auch zur Begehung von Völkermord beigetragen" (S. 2).

2. Missachtung des humanitären Völkerrechts: "Deutschland hat es versäumt, seinen Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht nachzukommen, die sich sowohl aus den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Protokollen von 1977 als auch aus den unantastbaren Grundsätzen des humanitären Völkerrechts ergeben" (S. 2).

3. Unterstützung der israelischen Besatzung: "Deutschland hat durch Hilfeleistung oder Beistand bei der Aufrechterhaltung der illegalen Situation der fortgesetzten militärischen Besetzung Palästinas (...) verstoßen" (S. 2-3).

4. Förderung des Apartheidregimes: "Deutschland hat (...) bei der Aufrechterhaltung des illegalen Apartheidregimes und der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes geholfen" (S. 3).

5. Politische und militärische Unterstützung Israels: "Deutschland hat politische, finanzielle und militärische Unterstützung für Israel geleistet, obwohl es wusste, dass diese Unterstützung zur Begehung schwerwiegender Verstöße gegen das Völkerrecht durch diesen Staat verwendet werden könnte" (S. 12-14).

6. Kürzung der Unterstützung für UNRWA: "Indem Deutschland die Mittel für die UNRWA kürzt, gefährdet seine Entscheidung jegliche effektive Hilfeleistung für die Opfer jener Gräueltaten, die Israel begeht" (S. 14).

7. Verletzung der Genfer Konventionen: "Deutschland hat seine Verpflichtungen, insbesondere seine Verpflichtung zur Achtung des humanitären Völkerrechts, wie es in Artikel 1 der vier Genfer Konventionen von 1949 vorgeschrieben ist, nicht erfüllt" (S. 16-17).

8. Bereitstellung von Militärausrüstung: "Insbesondere die von Deutschland bereitgestellte militärische Ausrüstung, die es Israel ermöglicht, genozidale Handlungen und andere Gräueltaten zu begehen, umfasste Lieferungen an die Front und in Lager sowie Zusicherungen zukünftiger Lieferungen" (S. 13-14).

9. Versäumnis der Strafverfolgung: "Deutschland hat es versäumt, Personen, die für schwerwiegende Verbrechen des Völkerrechts, einschließlich Kriegsverbrechen und Apartheid, verantwortlich sind, zu verfolgen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen" (S. 17).

10. Fortgesetzte Unterstützung Israels: "Trotz der öffentlichen Berichterstattung und der Erklärungen internationaler Amtsträger (...) hat Deutschland seine Unterstützung für Israel fortgesetzt" (S. 12).

Deutsche Haltung zur Klage, zu Gaza und zur Rechtsordnung

Deutschland bestätigte den Eingang der Klage, wies aber die Vorwürfe zurück. Die Bundesregierung betonte ihre Solidarität mit Israel und bekräftigte ihre Unterstützung für das Land.

Gegenüber der UNRWA war die Reaktion zurückhaltend: Die Bundesregierung wies darauf hin, dass sie ihre finanzielle Unterstützung für die Palästinensischen Autonomiegebiete überprüfe und bis zum Abschluss dieser Überprüfung keine neuen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit bereitstellen werde. Das klingt schon sehr nach Hintertürchen.

Internationale Reaktionen und ein fragwürdiger Einwand

Die Klage Nicaraguas gegen Deutschland hat internationale Aufmerksamkeit erregt. Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen verurteilten die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, insbesondere im Gazastreifen. Sie betonten auch die Notwendigkeit, die humanitäre Hilfe für die Palästinenser, vor allem durch das UNRWA, aufrechtzuerhalten.

Eine fragwürdige Haltung zur internationalen Rechtsordnung wurde in Deutschland allerdings schon vor Beginn des Prozesses deutlich: Die Tageszeitung Die Welt, deren Verlagshaus sich in einzigartigen politischen Grundsätzen zur Unterstützung des "jüdischen Volkes" und des "Existenzrechts des Staates Israel" bekennt, wies noch vor Beginn der Verhandlungen in Den Haag darauf hin, dass der Prozess von einer "Diktatur" initiiert worden sei.

Ähnlich formuliert war ein Beitrag der gebührenfinanzierten Redaktion von tagesschau.de. Dort wurde darauf hingewiesen, dass die Anklage gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof von einem "autoritär regierten" Staat stamme.

Absurde Kritik an Klage: Was wäre die Konsequenz

Offenbar macht sich niemand Gedanken darüber, was eine solche Kritik in letzter Konsequenz bedeutet. Oder welche Haltung sich hinter der Kritik verbirgt.

Natürlich haben auch Staaten, die selbst gegen vermeintliche oder tatsächliche Rechtsgrundsätze verstoßen, das Recht, auf die Verfehlungen anderer hinzuweisen. Man muss das nur auf die nationale Ebene übertragen, wo es verboten wäre, wenn der Falschparker auf den Ladendieb hinzuweisen. Mehr noch: Wo der Ladendieb, der von einem Falschparker festgehalten wird, per se von allen Vorwürfen entlastet wäre.

Dass ein solcher Schritt auf Kritik stoßen würde, ist verständlich. Nicht hier, sondern in den internationalen Beziehungen. Im IGH-Verfahren Nicaragua gegen Deutschland wird sogar schon behauptet, dass eine Verurteilung Berlins den gesamten Gerichtshof diskreditieren würde.

Das Verfahren ist also, ganz unabhängig von den politischen Verhältnissen in Nicaragua, die auf einem ganz anderen Blatt stehen, Ausdruck eines weltpolitischen Umbruchs. Damit tun sich viele sichtlich schwer.