INF-Vertrag: "Raketenabwehr" klingt gut - aber es gibt einen Haken
Der INF-Vertrag ist gescheitert, auch weil die Trump-Regierung ein neues Aufrüstungsprogramm verfolgt. In der vergangenen Woche präsentierte das US-Verteidigungsministerium neue Pläne zur Raketenabwehr
Die russische Regierung geht davon aus, dass die USA am Wochenende aus dem INF-Vertrag aussteigen. Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow erklärte am Donnerstag, gemeinsame Gespräche hätten keine Lösung gebracht. Die USA haben Russland eine Frist bis Samstag gesetzt, um den Marschflugkörper Novator 9M729 abzurüsten, von dem die US-Regierung behauptet, er würde gegen den INF-Vertrag verstoßen.
"Soweit wir verstehen, beginnt die nächste Etappe, also die nächste Phase. Nämlich die Phase, in der die USA die im Rahmen des INF-Vertrages obliegenden Verpflichtungen einstellen; dies wird offenbar am nächsten Wochenende passieren", sagte Sergej Rjabkow.
Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz warnte Wolfgang Ischinger, dass die europäischen Sicherheitsbemühungen in Gefahr seien. "Die europäische Sicherheitsarchitektur wird mit der Abrissbirne peu à peu zerbröselt", so der Chef der Sicherheitskonferenz. Er spricht mit Blick auf den INF-Vertrag gar von einer "großen Krise der NATO" und der West-Ost-Beziehungen. "Viel schlimmer kann es eigentlich nicht kommen."
Tatsächlich unterstreicht die Diskussion um den INF-Vertrag einmal mehr das Unvermögen der EU, eigene Interessen durchzusetzen, wenn notwendig auch gegen das Weiße Haus. Der deutsche Außenminister Heiko Maas hatte bei seinem Besuch in den USA erklärt, es gehe weiter darum, die "Russen dazu zu drängen, Informationen offenzulegen". Man bräuchte mehr Informationen, die "anscheinend die Russen nicht bereit sind zur Verfügung zu stellen". Solange das nicht der Fall sei, sehe es "schlecht aus für den INF-Vertrag".
Seit Donald Trump ankündigte, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, versuchen die NATO-Mitglieder die Schuld an dem Vorgang der russischen Seite unterzuschieben. Allerdings hatte die amerikanische Regierung sich bereits in der aktuellen Strategie für Atomwaffen festgelegt, dass sie ihr Atomwaffenarsenal erweitern will (Atomwaffen-Politik unter Trump: New Nukes, for no Good Reason) Zudem senkt die Trump-Regierung die Einsatzkriterien für Atomwaffen und rüstet die Streitkräfte mit so genannten "kleinen Atombomben" aus, die nach Ansicht vieler Kritiker dazu führen, dass die Hemmschwelle für tatsächliche Einsätze sinkt (USA haben mit der Produktion kleinerer, U-Boot gestützter Atomwaffen begonnen).
Kurz nach der neuen Atomwaffenstrategie veröffentlichte die US-Regierung in der vergangenen Woche ihre neuen Pläne für die Raketenabwehr. Die "2019 Missile Defense Review" betrifft ebenfalls den INF-Vertrag, zumal ein besonders heikles Element des amerikanischen Raketenschirms in EU-Staaten stationiert ist.
Die US-Regierung will in den nächsten Jahren "massiv" in neue Raketen-Abwehrtechnik investieren. Die neue Strategie setzt auch auf Systeme, die im Weltraum stationiert sind. Zudem soll das Pentagon Hochleistungs-Laser anschaffen. Es gehe darum, so ein Sprecher des Weißen Hauses, die "in Europa und Asien stationierte US-Kräfte besser zu schützen".
Auf den ersten Blick scheint eine Abwehr gegen mögliche Raketenangriffe unproblematisch zu sein. Jedes Land sollte natürlich in der Lage sein, sich gegen Atomangriffe zu verteidigen. Aber Raketenabwehr kann gefährliche Folgen haben: Andere Länder können jede erweiterte Raketenabwehr als Verstärkung einer vermuteten Erstschlagsoption betrachten. Ein groß angelegtes Abwehrsystem kann einen Erstschlag erleichtern, indem es garantiert, dass gegnerische Vergeltungsraketen abgefangen werden.
Genau diesen Anspruch formuliert nun die neue "2019 Missile Defense Review": Sie legt einen deutlichen Schwerpunkt darauf, die USA gegen mögliche chinesische und russische Raketenangriffe abzuschirmen. Während die Obama-Regierung in ihrem "Bericht über die ballistische Raketenabwehr" aus dem Jahr 2010 ausdrücklich eine Zusammenarbeit mit Russland anstrebte, nimmt das Land nun einen prominenten Platz als Gegner ein.
Verstoßen die Raketenstationen "Mark 41 Vertical Launch Systems" in Polen und Rumänien gegen den INF-Vertrag?
Die NATO-Mitglieder Polen und Rumänien beherbergen amerikanische Raketenkomplexe, die, so hieß es bei ihrer Installation, der angeblich notwendigen Verteidigung gegen Iran und Nordkorea dienen sollten. Inzwischen gelang es dem Pentagon, das seinerzeit umstrittene Projekt in die Verantwortung der NATO zu übergeben. Unter George Bush Junior hatten zunächst noch mehrere NATO-Staaten gegen das Projekt opponiert. Die Aegis-Raketenabewehr besteht aus zwei Elementen, einer "See-basierten Raketenabwehr" und dem "An Land"- Aegis.
Diese landgestützte Version des Waffensystems betreibt ebenfalls US-Navy. In Polen und Rumänien sind bisher SM-3 Abfangraketen stationiert. In Kürze sollen diese Raketen nun gegen eine neuere und leistungsfähigere Version, die SM-3 Blk IIA ausgewechselt werden, so das aktuelle Strategiepapier. Bemerkenswert an dieser neuen Raketenstrategie ist vor allem, dass das Pentagon nunmehr Russland und China als eigentliche Bedrohungen aufführt.
Insbesondere mit Blick auf das Aegis-System hatte die Russische Föderation von Anfang an argumentiert, dass sich das System tatsächlich gegen Russland richte. Diese Annahme erhielt auch deshalb neue Plausibilität, weil die USA im Jahr 2017 auf der anderen Seite der ehemaligen Sowjetunion, beim engen Verbündeten Japan, einen zweiten Teil der Aegis-Landversion stationierten.
Hinzukommt, dass die in Rumänien und Polen gebauten Raketenstationen vom Typ "Mark 41 Vertical Launch Systems" aus russischer Sicht bereits gegen den INF-Vertrag verstießen. Diesen Aspekt verschweigen die NATO-Pressesprecher zwar geflissentlich. Aber der Hersteller Lockheed Martin beschreibt sein eigenes System als "fortschrittlichstes Kampfsystem der Welt", das auch zu Offensivzwecken eingesetzt werden könne. Die Silos in Polen, Rumänien und Japan können auch mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückte Marschflugkörper wie etwa den Tomahawk verschießen. Bei einer Reichweite von bis zu 1.670 Kilometer fällt das System damit klar unter den INF-Vertrag.
Für die russische Regierung war die Aegis-Stationierung der Anlass, neue Waffensysteme weiterzuentwickeln, die von keinem derzeit existierenden System abgefangen werden können. Im März 2018 stellte Wladimir Putin erstmals einen Hyperschall-Marschflugkörper namens Kinschal vor (Putin: "Freunde, Russland hat bereits eine solche Waffe"). Das Gerät könne mit einer Geschwindigkeit von Mach10 über eine Distanz von 2.000 Kilometern Atomsprengköpfe transportieren und bleibt dabei so manövrierfähig, dass es sich praktisch nicht abwehren ließe. Außerdem präsentierte er die noch schnellere Hyperschall-Interkontinentalrakete Awangard, die neue Sarmat-Interkontinentalrakete sowie Poseidon, eine Unterwasser-Cruise-Missile mit riesiger Reichweite.
Diese letztgenannten Systeme sind in der Lage, die USA direkt anzugreifen, falls das nötig sein sollte. Die neue Raketenabwehrstrategie der Trump-Regierung geht ausdrücklich auf die neuen Hyperschall-Flugkörper ein. Mit Blick auf die unterschiedlichen Experten, die nun anlässlich des INF-Austritts der USA vor einem "neuen Wettrüsten" warnen, lässt sich zunächst feststellen, dass dieses Wettrüsten bereits seit zehn Jahren im vollen Gange ist. Für Europa ist die russische High-Tech-Strategie vor allem deshalb relevant, weil sie offensichtlich nicht vordergründig auf europäisches Territorium zielt.
Donald Trump macht den militärisch-industriellen Komplex zum Wirtschaftsprogramm
Allerdings stellen die durch die NATO adoptierten Aegis-Systeme ein größeres Problem dar. Und sollte die Trump-Regierung auf den nahe liegenden Gedanken verfallen, angesichts ihrer strategischen Unterlegenheit weitere atomare Waffensystem in Europa zu stationieren, würde dies massiv die von Wolfgang Ischinger benannte "europäische Sicherheitsarchitektur" betreffen.
Aber natürlich stellen die Militärstrategien nur einen Teil des Problems: Donald Trump hat immer wieder betont, dass die militärische Aufrüstung vor allem auch den Wirtschaftsstandort USA stärken soll. Im Bereich Raketentechnologie und Abwehrsysteme sind dies vor allem die beiden Monopolisten Lockheed Martin und Raytheon. Bereits jetzt beziehen beide Unternehmen massiv Aufträge aus Polen und Japan. Laut Medienberichten dürfte der Raketenschild Japan mindestens 1,8 Milliarden Dollar kosten.
Die polnische Regierung will nicht nur zusätzliche Patriot-Raketensysteme im Wert von über 4,75 Milliarden US-Dollar beschaffen. Sie bot der Trump-Regierung im vergangenen Jahr auch an, einen eigenen US-Militärstützpunkt zu errichten, den die polnischen Steuerzahler mit weiteren 2 Milliarden US-Dollar subventionieren. Und schließlich bestellt auch das amerikanische Militär bei Lockheed Martin neue Hyperschall-Raketen, obwohl die bisherigen Tests eines solchen Fluggerätes in den USA nicht erfolgreich verliefen.
Im Juni 2018, kurz nach Putins Präsentation der neuen russischen Trägersysteme, ging bei Lockheed ein Auftrag von fast einer Milliarde Dollar für die "Entwicklung einer Hyperschallrakete" ein. Zeitgleich hatte die US-Regierung angekündigt, ihre Politik bei Waffenexporten zu ändern, um Arbeitsplätze zu fördern. So hob Trump etwa Einschränkungen für den Verkauf von Drohnen aus US-Produktion auf, um den expandierenden Markt nicht Israel und China zu überlassen.
Ähnlich wie zu Zeiten des Kalten Krieges können sich die Hersteller in den USA also über neue Milliardenaufträge freuen, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten massiv Stellen abbauen mussten. Fast 60 Jahre nachdem Präsident Dwight Eisenhower die Amerikaner in seiner berühmten Abschiedsrede vor den Interessen der Rüstungsindustrie gewarnt hatte, macht Donald Trump den militärisch-industriellen Komplex zum Wirtschaftsprogramm.
Eisenhower hatte im Januar 1961 im Fernsehen erklärt, man müsse "auf der Hut sein vor unberechtigten Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes". Egal ob diese "gewollt oder ungewollt" sind: Die Gefahr für ein "katastrophales Anwachsen unbefugter Macht" bestehe und werde weiter bestehen. "Wir dürfen niemals zulassen, dass das Gewicht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unseren demokratischen Prozess bedroht."
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