"Ich rate dringend dazu, diese angekündigten Lockerungen nicht aufrechtzuerhalten"
Wird morgen der harte Lockdown beschlossen? Im Interview mit Telepolis fordert Dr. Gerald Gaß, der Präsident der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft (DKG), rasche Verschärfungen
Nach dem dramatischem Anstieg der 7-Tage-Inzidenzen seit Montag in Regionen wie Franken und der Sächsischen Schweiz, in Städten wie Nürnberg, Hof oder Bielefeld oder dem Landkreis Regen ist laut Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (SPD) vom späten Dienstagabend kurzfristig ein Bund-Länder-Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel für Donnerstag geplant. Bereits am Nachmittag befürworteten parteiübergreifend die Länder-Chefs Ramelow (Thüringen/Linke), Söder (Bayern/CSU), Bouffier (Hessen/CDU) und Müller (Berlin/SPD) ganz oder teilweise einen harten Lockdown ab nächstem Montag (14. Dezember).
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) berät die Bundesregierung, die WHO und die EU als Dachverband der 28 Spitzen- und Landesverbände der deutschen Krankenhausträger mit dem gesetzlichen Auftrag der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), unter anderem zusammen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Mitgliedsverbände sind unter anderem der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Universitätskliniken, Caritas, Diakonie, die Deutsche Rentenversicherung, das DRK, der Bundesverband Deutscher Privatkliniken, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden sowie der Deutsche Städtetag.
Dr. Gerald Gaß ist seit 2018 Präsident der DKG. Der Soziologe und Volkswirt war zuvor unter anderem Abteilungsleiter im Arbeits- und Sozialministerium in Rheinland-Pfalz.
"Die Appelle an die Bevölkerung haben offenbar nicht genügend gefruchtet"
Ihr Verband fordert einen "harten" Lockdown. Warum genau?
Gerald Gaß: Die Entwicklung der Infektionszahlen macht uns Sorgen, denn durch die bisherigen Beschränkungen konnte zwar das starke Wachstum begrenzt werden, eine deutliche Senkung haben wir aber nicht erreicht. Wir stagnieren derzeit auf hohem Niveau, und das bringt dauerhaft die Krankenhäuser in eine sehr schwierige Situation. Wir haben heute 40 Prozent mehr Intensivpatienten als im Frühjahr, und anders als im Frühjahr ist dies keine kurzzeitige Situation, sondern schon seit Wochen so, ohne dass wir ein Ende erkennen können. Für das Personal ist dies eine extreme Herausforderung und Belastung.
Hinzu kommt, dass die angekündigten Lockerungen an Weihnachten und zum Jahreswechsel die Infektionszahlen wieder stark ansteigen lassen können, mit weiteren Folgen für die Kliniken. Ich rate aufgrund der aktuellen Lage dringend dazu, diese angekündigten Lockerungen nicht aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus sind Verschärfungen in Gebieten mit hoher Inzidenz absolut sinnvoll und notwendig. Denn die Appelle an die Bevölkerung, ihre privaten Kontakte so gering wie möglich zu halten, haben offenbar nicht genügend gefruchtet.
Aber stimmt denn die gesamte Strategie der Regierung überhaupt noch? Man könnte den Eindruck haben, die Gefahren wurden unterschätzt ...
Gerald Gaß: Ich bin überzeugt, dass die Gefahren nicht unterschätzt wurden. Die Hoffnung war aber sicherlich, dass der Lockdown light stärker wirkt. Im Frühjahr haben wir schärfere Maßnahmen ergriffen. Ziel im Herbst war es, mit regionalen Maßnahmen und weniger drastischen Einschränkungen das Infektionsgeschehen im Griff zu behalten. Dies hat sich leider nicht bewahrheitet.
"Niemand ist ohne Fehler durch diese Krise gekommen"
Warum läuft es denn aber in anderen Ländern "besser"? Frankreich konnte die Zahlen aktuell senken, in Japan, Thailand oder Taiwan existiert fast keine Covid 19-Gefahr, Australien hat es besiegt ...
Gerald Gaß: Ich finde es schon fraglich, ob es in Frankreich wirklich besser ist. Wir hatten Anfang November in Frankreich Tage mit über 80.000 Neuinfektionen. Und danach einen ganz harten Lockdown mit Ausgangssperre. Und auch jetzt verzeichnet Frankreich an den meisten Tagen noch mehr als 11.000 Neuinfektionen. Und in Frankreich sind bisher 55.000 Menschen an Corona gestorben. Australien hat einen extrem harten Lockdown gefahren. Deshalb ist dieser Vergleich immer sehr schwierig. Präventivmaßnahmen wie Maskentragen sind in Ostasien schon bei normalen Erkältungswellen Usus und gelten als selbstverständliche Höflichkeit und Rücksichtnahme den Mitmenschen gegenüber. Und beispielsweise wurde in Taiwan das Mobiltelefon überwacht, wenn man in Quarantäne war. Das sind Maßnahmen, die bei uns sicherlich nicht umsetzbar wären.
Haben aber nicht auch die Krankenhäuser Fehler gemacht? Oder wurden sie von der Politik vernachlässigt?
Gerald Gaß: Ich glaube, niemand ist ohne Fehler durch diese Krise gekommen. Die Krankenhäuser haben alles getan, was möglich war. Wir haben Leistungen verschoben, wir haben Personal geschult, wir haben unsere Abläufe optimiert, aber wir werden sicherlich vieles aus der Pandemie gelernt haben, wenn sie vorbei ist. Bevorratung ist ein Thema, das nicht nur auf Bundesebene, sondern auch bei uns in den Kliniken eine andere Rolle spielen wird. Und Zielsetzung muss es sein, mehr Personal für die Krankenhäuser zu gewinnen. Wir stellen ja eindeutig fest, dass die Personalsituation der Engpass in der Versorgung ist. Wir haben schon vor der Krise mit Maßnahmen angefangen, dem Personalmangel entgegenzuwirken. Diesen Weg müssen wir konsequent weiter beschreiten, und da hoffen wir auch auf die politische Flankierung.
"Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass das Virus nicht aus der Welt verschwinden wird"
Haben Sie Hoffnung, dass Corona überhaupt noch 2021 oder 2022 besiegt werden kann, zum Beispiel mit der Impfung? Oder ist es ein Dauerzustand über 2023 hinaus?
Gerald Gaß: Ich habe große Hoffnung, dass sich das Leben in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wieder spürbar normalisieren wird. Die Impfungen sind ja wirklich ein Meilenstein. Allerdings müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass das Virus nicht aus der Welt verschwinden wird.
Was fordern Sie generell von der Politik für die Krankenhäuser in Deutschland? Muss nicht manches nachgesteuert werden?
Gerald Gaß: Die Corona-Pandemie zeigt, wie wichtig eine leistungsfähige und flächendeckende Krankenhausstruktur ist. Aber auch unabhängig von Corona erwarten wir eine andere Krankenhauspolitik. Krankenhausplanung darf nicht länger in Form eines kalten Strukturwandels durch Insolvenzen stattfinden. Stattdessen fordern wir den Dialog mit den politisch Verantwortlichen im Bund und in den Ländern ein, um die Versorgung der Bevölkerung weiterhin sicherstellen zu können. Die seit Jahrzehnten anhaltende chronische Unterfinanzierung, vor allem durch Ausbleiben ausreichender Investitionskostenfinanzierung der Länder, droht unsere im weltweiten Vergleich hervorragende Krankenhausversorgung zu gefährden.
Bei allem ist uns klar, dass zu einer konstruktiven Planung auch der Abbau von nachweisbar nicht bedarfsnotwendigen Kapazitäten und Klinikstandorten gehören kann. Genauso notwendig sind aber auch klare Bekenntnisse von Politik und Kostenträgern zum Erhalt der Versorgungssicherheit auch in strukturschwachen Gebieten und ein Ende der Misstrauenskultur, die das deutsche Gesundheitswesen lähmt. Wir müssen sektorenübergreifend denken und unterschiedliche Ziele wie Qualität, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in ein gesundes Gleichgewicht bringen. Zusätzlich brauchen wir Veränderungen im Finanzierungssystem.
"Wir brauchen mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten"
Was heißt das konkret?
Gerald Gaß: Die ausschließlich leistungsbezogene Finanzierung der Daseinsvorsorge über die DRGs, die Fallkostenpauschalen, ist kein zukunftsfähiges Konzept. Was wir brauchen, sind geeignete Finanzierungsmodelle, die den unterschiedlichen Aufgabenstellungen unserer Krankenhausstrukturen gerecht werden. Und wir müssen, wie schon erwähnt, das Personal in den Krankenhäusern wieder in den Mittelpunkt stellen. Denn eines hat die Pandemie klar verdeutlicht: Ohne engagierte und kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können wir die gute Gesundheitsversorgung nicht aufrechterhalten. Dies gilt sowohl für das medizinische als auch für das pflegerische Personal. Die angespannte Personalsituation erfordert Konzepte, wie die Arbeit insbesondere in der Pflege attraktiver gestaltet werden kann. Schon lange sehen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Krankenhäuser mit überbordender Bürokratie und Überregulierung konfrontiert. Wir brauchen aber mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten.
Es gibt ja nun auch eine Diskussion im Nachgang über die Corona-Hilfen für Krankenhäuser im Frühjahr und Sommer. Von einzelnen Kritikern heißt es, einzelne Krankenhäuser hätten zu viel kassiert. Wird das nur übertrieben dargestellt?
Gerald Gaß: Wir sollten uns erinnern, warum die Freihaltepauschale im März eingeführt wurde. Damals ging es in einem breiten Konsens von Politik, Krankenkassen und Krankenhäusern darum, möglichst viele nicht dringlich notwendige Krankenhaus-Leistungen zu verschieben. Ziel war es, so viele Ressourcen wie möglich zu bündeln, um eine hohe Welle von COVID-Patienten bewältigen zu können. Dazu war es unbedingt notwendig, in allen Versorgungsbereichen, auch in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, Betten freizubekommen, damit deren Personal in anderen Kliniken COVID-Patienten hätte versorgen können. Selbst Rehakliniken wurden aufgefordert, ihre Kapazitäten für die befürchtete Überlastung der Akutkrankenhäuser bereitzuhalten.
Beides, Freihaltung zur Konzentration aller Ressourcen auf die Versorgung von COVID-Fällen und der unabweislichen medizinischen Bedarfe und Infektionsprophylaxe durch Zurückstellung elektiver Leistungen, führt in der gesetzlich vorgesehenen Systematik der Krankenhausfinanzierung zu Erlösausfällen und zu einer die medizinische Leistungsfähigkeit gefährdenden wirtschaftlichen Lage der Krankenhäuser. Deshalb sind die Rettungsschirmausgleiche für alle Kliniken, einschließlich der Rehakliniken, notwendig.