"Identitätspolitik füllt keine Mägen"

Nach den Wahlen in Indien: Erleichterung und Katzenjammer

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Der anfänglichen Erleichterung über die Niederlage der hindunationalistischen Bharatya Janata Party (BJP) bei den Wahlen zum indischen Unterhaus Mitte Mai könnte bald der Katzenjammer folgen. Die indische Präsidentin Prathibah Patil hat Anfang Juni das Regierungsprogramm der Koalition der United Progressive Alliance (UPA) vorgestellt, die von der Kongresspartei angeführt wird.

Es entspricht zum guten Teil Forderungen der Konzernvorstände und Unternehmerverbände, die nach den Wahlen in regelrechter Sektlaune waren. Nicht wegen der Wahlniederlage der BJP, die auch bei Großindustriellen wie Ratan Tata, dem Produzenten des Billigautos Nano, hohes Ansehen genießt, sondern wegen des gravierenden Stimmenverlustes der Linksfront unter Führung der Communist Party of India, die mit 24 Sitzen mit weniger als der Hälfte der bisherigen Mandate in die Lok Sabha, das indische Unterhaus, einzog.

In der vergangenen Legislaturperiode war die Linksfront die drittstärkste Kraft im Parlament, tolerierte die Minderheitsregierung der United Progressive Alliance und rang ihr immer wieder soziale und wirtschaftspolitische Zugeständnisse auf Kosten indischer und ausländischer Investoren ab. Mit ihrer „Blockiererrolle“ sei es jetzt vorbei, heißt es in den Chefetagen der Konzerne. („Jetzt kann die Kongresspartei ihre Politik verfolgen, ohne die Linke davon überzeugen zu müssen“, freut sich ein führender Industrieller gegenüber der Tageszeitung Hindustan Times.

Unternehmerverbände fordern nun eine konsequente „Reform“ des Bankensektors und des staatlichen Rentensystems, die Marktöffnung für ausländische Einzelhandelskonzerne und Versicherungen und die flächendeckende Einführung grüner Gentechnologie, die Industrialisierung der Landwirtschaft sowie die Beteiligung privater Investoren im Verteidigungssektor. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse verzeichneten indische Wertnotierungen zweistellige Wachstumsraten.

Mehr Marktwirtschaft und private Investitionen als Ausweg aus der Krise

Das neue Regierungsprogramm enthält zwar einige verbale Zugeständnisse an die Armen in Indien, wo 80 Prozent der Bevölkerung von weniger als umgerechnet zwei Dollar am Tag leben. Das Kabinett unter Ministerpräsident Manmohan Singh will u.a. allen armen Familien monatlich 25 Kilo Reis oder Weizen zur Verfügung stellen und hat angekündigt, mehr Arbeitsmöglichkeiten für die städtischen Armen zu schaffen. Aber an erster Stelle stehen ausgerechnet solche „Reformen“, die in westlichen Ländern seit Ausbruch der Finanzkrise nicht mehr überall als Allheilmittel angesehen werden: Um der globalen Wirtschaftskrise zu begegnen, will die neue indische Regierung ausgerechnet auf mehr Marktwirtschaft und private Investoren setzen.

Als Anreiz für ausländische Direktinvestitionen will die Regierung viel Geld in Infrastrukturprojekte stecken. Geplant ist u.a. die Modernisierung des Schienenverkehrs, der Stromversorgung – einschließlich Ausbau des Nuklearprogramms -, der Autobahnen, Häfen, Flughäfen und Mobiltelefonie auf dem Land. „Diese Infrastruktur ist Grundlage einer modernen Wirtschaft und deshalb werden wir dort in den nächsten fünf Jahren öffentliche Gelder investieren“, so Präsidentin Patil. Das Wort „Privatisierung“ scheute sie in ihrer Rede. Gleichwohl kündigte sie Public-Private-Partnerships an. Verschiedene Staatsunternehmen sollen künftig auch an der Börse notiert werden, berichtete die Nachrichtenagentur IANS. „Unsere Mitbürger sollen das Recht haben, Anteile an staatlichen Unternehmen zu besitzen, indem der Staat Mehrheitseigner bleibt“, versuchte die Präsidentin die schleichende Privatisierung schmackhaft zu machen. Eine Salamitaktik hin zur Privatisierung, die in Deutschland z.B. bei der Deutschen Bahn mitzuerleben war. Massenentlassungen und Verteuerung der Dienstleistungen werden auch in Indien die Folge des Börsengangs sein.

"Indien den Hindus"

„Die Globalisierung hat zum Aufstieg einer reichen Mittelklasse geführt“, erklärt der Menschenrechtsaktivist Ram Puniyani aus Mumbai. Von der Identitätspolitik der BJP – zusammengefasst unter dem Motto: „Indien den Hindus“ – habe diese neue Mittelklasse profitiert. Denn die landesweite Kampagne der BJP und ihrer angeschlossenen Organisationen zur Errichtung des Ram-Tempels in Ayodhya, die zeitgleich mit der Marktöffnung Indiens einsetzte, habe auch sozial ausgegrenzte Schichten der Gesellschaft erfasst, z.B. Angehörige der niederen Kasten und Dalits, die sog. „Unberührbaren“.

Soziale Verteilungskämpfe seien durch die hindunationalistischen Kampagnen gegen die muslimische Minderheit überschattet und an den Rand gedrängt worden. Mittlerweile hätten aber die ausgegrenzten Teile der indischen Bevölkerung erkannt, „dass die leere Rhetorik der Identitätspolitik nicht ihre Mägen fülle“ und folglich 2004 und 2009 gegen die Hindu-Nationalisten gestimmt. Die Stimmen für die Kongress-Partei waren also vor allem Stimmen gegen die Hindunationalisten. Denn eines ist klar: Auch die von der neuen Regierung angekündigte Politik wird die Kluft zwischen Arm und Reich in Indien weiter verschärfen.

Die Kaderorganisationen der Hindunationalisten, RSS, die zahlreiche Wohlfahrtsverbände und Bildungseinrichtungen unterhält, hat bereits den „zu weichen“ Wahlkampf ihres politischen Arms, nämlich der BJP, kritisiert. Denn gemäß jüngster Untersuchungen hat die BJP in jenen Regionen Stimmen hinzugewonnen, in denen brachiale Gewalt ihre religiöse Identitätspolitik begleitet hat. Das ist keine leere Drohung der Kaderorganisation RSS, denn die mit den Hindunationalisten assoziierten Gewerkschaftsverbände haben mittlerweile sogar den in Indien stärksten Gewerkschaften der Kommunistischen Parteien den Rang abgelaufen.

Absturz der Linken

Die Linksfront, und besonders die Kommunistischen Parteien, die im Vergleich zu vielen europäischen Schwesterorganisationen den Zusammenbruch des Ostblocks unbeschadet überstanden hatten, ja sogar ihren Einfluss noch ausweiten konnten, haben 2009 eine schwere Niederlage erlitten. Ein wichtiger Grund dafür ist die Politik der Regierungskoalition unter Führung der Communist Party of India (Marxist) in Westbengalen, die gegen die Interessen der Landbevölkerung große Industrieprojekte von Konzernen durchsetzen wollte und nicht davor zurückschreckte, diese mit Gewalt von ihrem Land zu vertreiben.

Weil in Indien immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf dem Land lebt, ist der Kampf um Land politisch eine sehr sensible Angelegenheit. Durch die Politik der Linksregierung in Westbengalen, die dort seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht ist und vor einigen Jahren sogar von der internationalen Beratungsagentur McKinsey als eine der „investorenfreundlichsten Regierungen“ bezeichnet wurde, haben die Linksparteien viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Grundsätzlich, so analysiert die Wochenzeitung „Economic and Politcal Weekly“, „scheint es, dass bei der CPI (M) heute politische Lobbyarbeit und Verwaltung den ehemaligen Ansatz der Massenmobilisierungen ersetzt haben“. Der Ausgang der künftigen Verteilungskämpfe angesichts der neoliberalen Wirtschaftspolitik der UPA-Regierung wird nun ausschließlich von der Mobilisierungsfähigkeit der sozialen Bewegungen in Indien abhängen.