Idlib: "Merkel soll auf Russland und die Türkei aufpassen"

Türkischer Panzer und von der Türkei unterstützten Milizen in Afrin. Bild: Qasioun News Agency, Screenshot aus YouTube-Video/ CC-BY-3.0

Syrien-Gipfel: Die Gesellschaft für bedrohte Völker macht auf den türkischen Feldzug gegen Minderheiten in Afrin aufmerksam und warnt davor, dies bei Verhandlungen zu Idlib zu vergessen

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Die Frage ist offen, welchen Status die Türkei de facto in Idlib haben wird. Anders gesagt: Könnte es in Idlib zu ähnlichen Herrschaftsverhältnissen kommen wie im benachbarten Afrin?

Das klingt erstmal weit hergeholt. Aber da die Türkei von Russland und Iran mit dem Einverständnis Syriens als Garantiemacht der Opposition eingesetzt wird und Idlib von oppositionellen Milizen beherrscht wird, ergeben sich Möglichkeiten. Zumal die Türkei mit einer der beiden großen Milizenallianzen, der Nationalen Befreiungsfront, in besten Beziehungen steht.

Einflusszonen der Türkei

Die Möglichkeiten, die sich ergeben und der sich auch der andere große Milizenbund in Idlib, Hayat Tahrir asch-Scham, nicht unbedingt querstellt, passen zum großen alten Plan Erdogans, Nordsyrien mit "Pufferzonen" gegen Kurden abzusichern, die mit der PKK in Verbindung stehen - und damit die Einflusssphäre der Türkei erheblich auf das Nachbarland auszuweiten.

Nach Afrin könnte Idlib das nächste Ziel neoosmanischer Bestrebungen sein. Bei den derzeitigen Umwälzungen im Nahen Osten werden gerne alte Karten und alte Träume hervorgeholt.

Die Wirklichkeit ist dagegen umso schlimmer. Der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist bange vor einem Zusammenhang zwischen der türkischen Weise, im syrischen Afrin ein Besatzungsregime zu errichten, und den Möglichkeiten, die sich der Türkei in Idlib auftun könnten. Für den 27. Oktober ist ein Syrien-Gipfel angesetzt. Die Staatschefs Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Angela Merkel wollen in Istanbul über die "Stabilisierung Syriens"" sprechen.

"Im Mittelpunkt stehe die Lage in Idlib und die Unterstützung für die Umsetzung der russisch-türkischen Übereinkunft von Sotschi", informierte Reuters kürzlich. Der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, appelliert an Bundeskanzlerin Merkel, dass sie aufpasse.

Für ihn ist der Zusammenhang zwischen Afrin und Idlib evident: Ohne Frieden in Afrin gibt es keine dauerhafte Waffenruhe in Idlib:

Die Bundeskanzlerin darf sich nicht darauf einlassen, dass der türkische Präsident Erdogan und der russische Präsident Putin die katastrophale Lage in Afrin ausblenden. Deutschland und Europa dürfen die Kurden nicht im Stich lassen, die seit Jahren den "Islamischen Staat" (IS) bekämpfen.

GfbV-Syrien-Experte Kamal Sido

"Kriegsverbrechen in Afrin"

Geht es nach Informationen Sidos, so begeht die Türkei bzw. islamische Milizen, die mit der türkischen Militäroperation Ölzweig Anfang dieses Jahres nach Afrin gekommen sind, Kriegsverbrechen. Die Sicherheitslage in Afrin sei deutlich verschlechtert, die Zivilbevölkerung stehe einer Verschärfung der humanitären Katasttrope gegenüber - wer Idlib stabilisieren wolle, dürfe das benachbarte Afrin nicht übersehen.

Kamal Sido stammt aus Afrin, er hat dort Familie und andere Bekanntschaften. So dürfte den Übeln, über die er berichtet, Erfahrungsberichte aus erster Hand zugrunde liegen, die Zahlen lassen sich von außen schwerlich überprüfen:

Seit der völkerrechtswidrigen Besetzung Afrins durch türkische Truppen und verbündete syrische Jihadisten im März 2018 wurden nach GfbV-Informationen mindestens 3000 Kurden aus der von Kurden, Yeziden, Aleviten und Christen bewohnten Region in Nordsyrien verschleppt. Ein Landstreifen, 200-500 Meter tief und etwa 150 km lang, entlang der syrisch-türkischen Grenze in Afrin wurde entvölkert und alle landwirtschaftlichen Anbauflächen wurden zerstört. Zehn der 32 Hektar umfassenden Gebiete mit Jahrzehnte alten Kiefernwälder Afrins wurden von den neuen Machthabern in der Region gezielt niedergebrannt.

GfbV-Syrien-Experte Kamal Sido

Besonders schwer von repressiven Maßnahmen getroffen würden die seit langer Zeit in Afrin lebenden Minderheiten, wirft Sido der türkischen Besatzungsmacht und den mit ihr verbündeten islamistischen Milizen vor: Die kleine kurdisch-christliche Gemeinde mit etwa 1.000 Personen sei "wahrscheinlich für immer verschwunden". Alle Christen mussten Hals über Kopf fliehen, so Sido, der pessimistisch ist, ob in Afrin jemals wieder ein christliches Leben entstehen könne.

Auch von den früher 20.000 bis 30.000 Yeziden, die in der Region lebten, seien nur mehr "wenige" geblieben. Auch Sido berichtet, wie andere zuvor, von Entführungen mit Lösegeldforderungen. Und auch er macht auf die islamistische Diktatur der Milizen aufmerksam, die im "einst toleranten Afrin faktisch das islamische Scharia-Recht" eingeführt haben. Auch die 5000-köpfigen alevitischen Gemeinschaft in Afrin sei geflüchtet.

Türkisch besetzte Zonen: "Der Kopf ist türkisch, der Körper syrisch"

Geht es nach Erfahrungen und Stimmen, die in einem Bericht der Publikation Syria:direct - übrigens ein der Opposition zu Baschar al-Assads Regierung nahestehendes Medium - , so trifft man in Afrin auch Zivilisten, die sich dankbar gegenüber der "Stabilität" äußern, die durch Stellen und Behörden gewährleistet werde, die mit Rückendeckung der Türkei funktionieren.

Der Tenor des Berichtes läuft allerdings in eine Richtung, wo der Boden immer dünner wird. Keiner weiß, wie die Zukunft aussieht und Sicherheit vor der Willkür der islamistischen Milizen, die in Afrin als Besatzungstruppe der Türkei fungieren, gibt es nicht. Den fürchterlichen Berichten der Menschenrechtsorganisationen zu den Verhältnissen in Afrin wird nicht widersprochen (vgl. "Modell Afrin": Menschenrechtsverletzungen und Kämpfe zwischen Milizen).

"Der Kopf ist türkisch, der Körper syrisch", heißt die Formel, mit der die türkische Herrschaft in dem syrischen Gebiet beschrieben wird. Das Grundmodell dafür wurde mit der Zeit nach der Eroberung von Jarablus durch die türkische "Operation Euphrates Shield" im Jahr 2016 gesetzt.

Es entstand peu à peu eine Parallelwelt mit zweisprachigen - arabisch/türkischen -Schildern an offiziellen Gebäuden, der Übernahme der direkten Aufsicht über die Stadt durch den Gouverneur des türkischen Gaziantep, der die städtischen Behörden, Schulen, Ämter und Gerichte beaufsichtigt. Der faktisch damit die Herrschaft hat, ungeachtet dessen, dass es eine von der Exilopposition bestimmte oder ausgerufene Regierung gibt und dazu eine echte, offizielle, nämlich die in Damaskus.

Türkei ist omnipräsent in Nordsyrien

Dieses Modell setzt sich, wie es der Bericht schildert, auch in Afrin durch. Die dortigen Bewohner würden wie auch in Azaz oder in al-Bab die Türkei als die fast omnipräsente Autorität erwähnen, an deren Vertreter man sich wendet, um weiterzukommen. Alle anderen Vertretungen, wie zum Beispiel das "Syrian Interim Government" der Opposition und deren "Exekutive" hätten keine Relevanz und keine Kontrolle. Die Regierung in Damaskus ist weit weg.

Wie lange die Regierung von Baschar al-Assad das Paralleluniversum der türkischen Besatzung in Afrin und in anderen Orten in Syrien noch ohne militärische Gegenmaßnahmen tolerieren wird, ist damit verknüpft, welche Vereinbarungen Russland mit der Türkei treffen wird - und wie die Verhandlungen mit Vertretern der Kurden verlaufen. Erdogan hat sich öfter als wenig berechenbarer "Spieler" gezeigt. Momentan sieht es so aus, als ob der nicht nur im Fall Khashoggi noch nicht alle Karten ausgespielt hat.