Im Blindflug durch die Pandemie
Die Behörden verbreiten falsche Zahlen, die Medien verbreiten sie weiter
Hinterher ist man immer schlauer. Doch überzeugend so zu tun als hätte man vorher schon Bescheid gewusst, das ist eine Kunst. Astrologen und Wahrsager leben von diesem Prinzip, aber auch die Vertreter wissenschaftlicher Stände wie Meteorologen und Mediziner. Die Treffsicherheit ihrer Vorhersagen variiert im Einzelnen erheblich.
Doch in einem sind sie sich ähnlich. Dass sie hinterher stets schon vorher alles wussten. Auch Epidemiologen und die von Regierungen offiziell bestellten Virenbekämpfer. Dass mit den Angaben zur Verbreitung von COVID-19, die von den zuständigen Behörden verbreitet werden, etwas nicht stimmt, wird zahlreichen Beobachtern, wenn auch verspätet, zunehmend klar.
So werden seit Monaten in den Medien die aktuellsten Zahlen zur Corona-Epidemie gemeldet wie Börsenstände oder, in normalen Zeiten, die Fußballergebnisse. Doch an der Belastbarkeit und Aussagekraft der publizierten Corona-Stände und der aus ihnen abgeleiteten Überlegungen bestehen ernsthafte Zweifel.
Statistiken sind für Journalisten eigentlich ein sehr sprödes Material. Denn es lässt sich nur schwer publikumsgerecht aufbereiten. Tabellen mit Zahlen wirken eher störend in text- oder bildbasierten Medien. Werden Zahlenreihen in einen Fließtext übersetzt, so wirkt dies meist sperrig und unleserlich. Deswegen werden Zahlen im Journalismus meist nur dort eingesetzt, wo es wirklich notwendig zu sein scheint oder wenn es darum geht, ein bestimmtes Argument zu untermauern.
Denn Zahlen, insbesondere wenn sie in weit verbreiteten journalistischen Medien erscheinen, strahlen Verlässlichkeit aus. In den Medien veröffentlichte Zahlen, egal woher sie stammen, signalisieren Autorität. Sie geben zu verstehen, dass man es mit handfesten Informationen zu tun hat. Sie sollen verdeutlichen, dass der Autor seine Hausaufgaben erledigt, dass er ordentlich recherchiert und sich bei verlässlichen Quellen informiert hat. Zahlen suggerieren, dass das stimmt, was da gesagt wird.
Bis zu zwei Wochen Verzug
Doch die Zahlen zur Verbreitung von Coronavirus-Infektionen, dies wird nun auch von denjenigen zugegeben, die solche Zahlen täglich verbreiten, sind nicht verlässlich. Dafür gibt es, wie die oberste deutsche Seuchenbekämpfungsbehörde nicht umhinkommt zuzugeben, einen wichtigen Grund: Die Daten kommen nur mit großer Verzögerung an. Im Rhein-Sieg-Kreis, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, soll es weit über 300 bestätigte Fälle gegeben haben, als das Robert-Koch-Institut (RKI) noch von 51 Fällen sprach.
Während deutsche Bürger von den Finanzämtern oft Monate im Voraus an die pünktliche Abgabe ihrer Steuererklärung erinnert werden, gilt solche Akribie für deutsche Behörden selbst anscheinend nicht. Systematischer Verzug ist, wie die Öffentlichkeit nun erfährt, da sie auf den Schutz durch die Ämter angewiesen ist, die sie dafür mit Steuergeldern bezahlt, in das Meldewesen für die Seuchenkontrolle eingebaut. Wie im toten Winkel der Rückwärtssicht die Geisterfahrt gut gehen soll, bleibt ihr Geheimnis.
Der Verzug baut sich über mehrere Ebenen auf. Die Verfahrensweisen sind je nach Bundesland unterschiedlich, doch im Wesentlichen ist der Ablauf wie folgt: Erst müssen Fälle überhaupt bekannt werden, was vielfach nicht der Fall ist. Dann werden die Fälle bei den Gesundheitsämtern registriert. Dann werden sie an die in den Ländern zuständigen Fachbehörden weitergeleitet. Danach erfolgt die Übermittlung an das Robert-Koch-Insitut. Dies ist ein weiter Weg für Daten, die zur Notfallplanung in Echtzeit zur Verfügung stehen müssten.
Wie groß die Verzögerung bei der Übermittlung der Fallzahlen ist, darüber kann man nur spekulieren. Die dazu vorliegenden Informationen verheißen nichts Gutes. Vermutlich reicht die Bandbreite der "Meldelücke" von Tagen bis zu mehreren Wochen. "Von manchen Erkrankungen", so Lothar Wieler, der Leiter des Robert-Koch-Instituts, "erfahren wir erst zwei Wochen später, da diese Angaben nicht immer automatisch vorliegen, sondern oft erst mühsam in den Gesundheitsämtern ermittelt werden müssen." Bis zu zwei Wochen? Dies ist, das müsste bis auf eingefleischte Epidemie-Leugner jeder verstehen, in Pandemie-Zeiten eine Ewigkeit
Mangelnde Sichtweite
Doch nicht nur die Verzögerungen in den Meldeverfahren verfälschen die Zahlen über die tatsächliche Verbreitung von SARS-CoV2, dem neuen Coronavirus. Die mangelnde Sichtweite ergibt sich bereits aus der ungenügenden Erfassung der Fälle während der Datenerhebung. Denn auf die Spur kommen die deutschen Gesundheitsbehörden dem Virus, wenn sich von der Infektion Betroffene beim Arzt, einer Klinik oder gleich bei der Notleitstelle melden. Da Betroffene die Krankheit übertragen können, selbst wenn sie nur milde oder überhaupt keine Symptome aufweisen, verbreitet sich das Virus weiterhin unbemerkt.
Selbst Personen, die nicht krank erscheinen und vielleicht niemals wirklich "richtig" krank werden, weil sie nur milde oder überhaupt keine Symptome entwickeln, können das Virus an andere weiter geben. Daraus ergibt sich jedoch für die Messung der tatsächlichen Verbreitung der Epidemie ein grundlegendes methodisches Problem: Der Infektionskette kommt man nur auf die Spur, indem man diese mittels Tests aktiv durch gesamte Populationen verfolgt und auch "stille Träger" ausfindig macht - und nicht, indem man darauf wartet, bis Patienten sich melden, kurz bevor sie zur Behandlung auf eine Intensivstation müssen.
Doch in Deutschland wird im Ausnahmezustand die selbstverschuldete Not zur Tugend gemacht: Nur sinnvoll, so heißt es noch immer, sei ein Test auf eine Coronavirus-Infektion, wenn man Krankheitssymptome aufweise und sich kürzlich in einer Risikoregion aufgehalten habe oder Kontakt zu einem Corona-Fall hatte. Weil die Virusverbreitung, von der man sagte, dass man sie kontrolliere, außer Kontrolle geraten ist, herrscht ein chronischer Mangel an Testkapazitäten. Die Zahl der Tests reicht nicht, um alle Infizierten zu erfassen. Nicht erfasst wird deswegen auch die wahre Dimension des Desasters.
Artefakte statt Fakten
Selbst wenn vieles unklar ist, eines steht mit Sicherheit fest: dass die veröffentlichte Zahl der Fälle in den USA viel zu niedrig ist. "Der Punkt ist", so die Diagnose eines vielbeachteten Artikels in der Zeitschrift The Atlantic, "dass die Zahlen jedes Landes das Ergebnis spezifischer Test- und Berechnungsverfahren sind. Jeder kocht die Daten auf die eine oder andere Weise ab. Und obwohl diese Inkonsistenzen öffentlich und für alle sichtbar sind, verlässt man sich auf Grafiken die verschiedene Zahlen zeigen, ohne einen Anhaltspunkt dafür, dass sie mit derselben methodischen Genauigkeit oder demselben Aufwand hergestellt wurden."
Mit den unzuverlässigen Zahlen häufen sich "Fake News". Auf der Suche nach dem Hoffnungsschimmer werden selbst kleine Verringerungen in den Wachstumsraten der Ansteckungs- und Opferzahlen als Erfolg verbucht. In normalen Zeiten vertiefen sich Journalisten nicht so spitzfindig in die Feinheiten von Statistiken. Doch in diesen außergewöhnlichen Zeiten werden selbst steigende Fallzahlen schon als Erfolg verbucht, wenn sie nur einen Hinweis auf eine sich entschleunigende Beschleunigung liefern. Das Problem daran: Leicht handelt es sich um reine Artefakte einer unzureichenden Datengrundlage.
"Spanien verzeichnet bislang höchsten Anstieg von Coronavirus-Toten - doch die Infektionsrate sinkt", meldet der Nachrichtenkanal CNN auf seiner Website am 29.03.2020. Um 838 sei die Zahl der Opfer gegenüber dem Vortag angestiegen auf 6.528 - in absoluten Zahlen der höchste Anstieg seit Beginn der Epidemie. Doch der prozentuale Anstieg der Sterberate habe sich von 17 Prozent am Vortag auf 14 Prozent verringert. Und die Veränderung der Infektionsrate sei sogar von 8,8 auf 6,0 Prozent "stark" gefallen. Gute Nachrichten also? Bei der Nachrichtenagentur Bloomberg klingt dies anders: "In Spanien steigt Zahl der Coronavirus-Toten um 838 am bislang dunkelsten Tag".
Wie viele Tote?
Der Streit um die Zahlen, die von den Behörden verkündet und von den Medien verbreitet werden, wird an Fahrt aufnehmen. Die Epidemie ist nicht mehr nur ein entferntes und abstraktes Phänomen, sie hat sich in vielen Ländern, so auch in Deutschland, eingenistet. Die Konsequenzen der dadurch verursachten exponentiellen Dynamik, von der viele Entscheidungsträger über Monate Kenntnis hatten, die sie sich aber nicht wirklich vorstellen konnten, werden von Tag zu Tag deutlicher. Es ist nicht auszuschließen, dass COVID-19 endemisch wird.
Eine Zeit lang war die Zahl der COVID-19 zugeschrieben Toten in Deutschland, wie auch ausländischen Medien aufgefallen ist, auf niedrigem Niveau stabil. Zwar stieg die Zahl der offiziell gemeldeten Infektionen mit COVID-19 beständig an, wie auch in allen anderen Ländern, die sich auf einem ähnlichen Stand der Epidemie befanden. Doch so ganz ernst konnte die Lage in Deutschland nicht sein und wurde sie deswegen auch nicht genommen, da die Zahl der Todesopfer der Virusinfektion vergleichsweise niedrig schien.
Welchem glücklichen Zufall man es zu verdanken habe, dass das Virus sich innerhalb deutscher Grenzen anders verhalten sollte als außerhalb, beispielsweise im Elsass, einen Steinwurf links vom Rhein, wo sich sehr schnell ein Epizentrum der Epidemie entwickelt hatte, wurde wenig diskutiert. Während sowohl die Fallzahlen als auch die Zahl der Toten in vielen Ländern sich exponentiell entwickelten, schien der dahinter stehende biologische Mechanismus in Deutschland nicht zu greifen.
Ende März hatte man in Frankreich mehr als 2.600, in Spanien über 7.300 und in Italien fast 10.800 Tote zu beklagen (Quelle: Johns Hopkins, Stand 30.03.2020). In den USA, deren politische Führung für sich und das Land in Anspruch genommen hatte, virusresistent zu sein, hatte sich die Zahl in gut einer Woche von 300 auf über 2.500 verachtfacht. Um ihre Bevölkerung auf Dinge vorzubereiten, auf die sie selbst nicht vorbereitet war, erklärte die Regierung Großbritanniens am letzten Märzwochenende, dass man von Glück sagen könne, wenn in Großbritannien die Zahl von 20.000 Toten nicht überschritten werde.
Doch Ende März begann die Zahl der Corona-Toten auch in Deutschland schnell zu steigen und es war nicht klar, welches Wunder dafür sorgen sollte, dass sich die Zahl der durch COVID-19 verursachten Toten in Deutschland von den Zahlen in Italien, Frankreich, Spanien, England und den USA um mehrere Größenordnungen unterscheiden würden. Bei der "vergleichsweise geringen Sterblichkeit" (RKI) in Deutschland, wenn sie nicht bloß ein Artefakt des Zahlenmaterials war, handelte es sich vermutlich nur um ein vorübergehendes Phänomen.
Die Zahl der Opfer, die an dem Virus sterben, hängt von verschiedenen, auch länderspezifischen Faktoren ab. Dazu zählen unter anderem die Quarantäne-Protokolle, der Zustand des Gesundheitssystems und nicht zuletzt die Bevölkerungsstruktur eines Landes. Staaten mit einem hohen Anteil älterer Menschen, dazu zählt auch Deutschland, haben in der Epidemie mit besonderen Schwierigkeiten zu rechnen. Mittel- und langfristig wird sich die Zahl der Todesfälle in einem Land höchstwahrscheinlich auf einem statistischen Mittel einpendeln, das sich nicht um ein Vielfaches von vergleichbaren Ländern unterscheiden wird.
Damit wird nun den Zahlen über die durch COVID-19 verursachten Toten wachsende Bedeutung zukommen. Doch auch diese Zahlen sind viel weniger sicher als dies noch vielfach anerkannt wird. Allein schon die für die Statistik wichtige Frage, an welchen Ursachen jemand "wirklich" gestorben ist, lässt sich oft nicht eindeutig klären. Ausführliche Auswertungen in Italien für einen Ort haben bereits gezeigt, dass man dort die offizielle Zahl der Toten "mindestens mit einem Faktor 4" multiplizieren muss, um die Lage richtig zu erfassen. Ob das auch landesweit so ist, lässt sich freilich daraus nicht ableiten.
Zahlen suggerieren Klarheit. Zahlen, wenn sie von Behörden verkündet und von den Medien verbreitet werden, sollen Klarheit suggerieren. Von der Abbildungsleistung der verwendeten Zahlen hängt es ab, wie gut die Entscheidungen sind, die sich auf sie stützen. In Deutschland, das hat die Eskalation der Corona-Krise gezeigt, ist ein Virus sowohl den Behörden als auch den Medien weit voraus.
PD Dr. Thomas Schuster war fester Autor im Feuilleton der FAZ und Hochschullehrer für Journalistik an der Universität Leipzig. Seine Bücher "Staat und Medien - über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit" und "Die Geldfalle - wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen" sind bei Fischer und im Rowohlt erschienen.
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