Im Dickicht der Netze

Eine Entgegnung auf Hermann Lübbe, "Netzverdichtung. Zur Philosophie industriegesellschaftlicher Entwicklungen".

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Hermann Lübbe, kulturkonservativer Senior der deutschen Philosophie, hat sich an eine philosophische Trendanalyse der Netzwelten gemacht. Und er hat dabei demonstriert, wie sich die Strategie US-amerikanischer Konservativer, die Entwicklungen der Netze ideologisch zu besetzen, auch in Europa anwenden läßt. Auf Lübbes Thesen hier eine Entgegnung von Stefan Münker.

Die deutsche akademische Philosophie hat sich lange schwer getan damit, die Bedeutung der neuen Medien zu reflektieren und die Beschäftigung mit ihren philosophischen Implikationen in ihren Themenkanon aufzunehmen. Daran beginnt sich nur langsam etwas zu ändern. Im aktuellen Programm des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie, der anläßlich des 400-jährigen Geburtstags von René Descartes unter dem Motto Cognitio humana - Dynamik des Wissens und der Werte (und unter der Schirmherrschaft von Jürgen Rüttgers, dem Zukunftsminister des Kohlkabinetts) vom 23. bis zum 27. September dieses Jahres in Leipzig stattfindet, finden sich unter den über 40 Workshops mit ihren insgesamt knapp 300 Vorträgen gerade einmal 5 Workshops mit wenig mehr als 20 Referaten, die auf unterschiedlich explizite Weise Fragen der telematischen Kultur im weitesten Sinne sich annehmen.

Hermann Lübbe gehört zu jenen, die die Bedeutung des Themas erkannt haben. Der emeritierte Philosoph und konservative Schüler von Joachim Ritter hat in seinem jüngst publizierten Essay "Netzverdichtung" ein Szenario "industriegesellschaftlicher Entwicklungen" entworfen. Einen Grund für die zögerliche Haltung der Philosophen den neuen Medien gegenüber nennt Lübbe gleich zu Anfang: Über die Zukunft nämlich, und um deren Gestaltung geht es ja, lassen sich philosophisch keine sicheren Aussagen treffen. Sein Szenario versteht sich denn auch als "Analyse(...) gegenwärtig beobachtbarer Trends, das heißt ... [als; SM] Analyse von Vorgängen, die eine Richtung haben, aber kein angebbares Ziel" (133). Das allerdings klingt moderater, als das Ergebnis dann tatsächlich ist.

Die neunziger Jahre sind die Dekade der weltweiten Vernetzung. Das zumindest will uns der Hype der telematischen Medien und ihrer vermeintlich innovativen Tendenz, alles und jeden im globalen Rahmen miteinander zu verweben, glauben machen. Falsch, so Lübbe, denn wenngleich er der Durchsetzung der Informationstechnologien im Kontext der Zivilisationsgeschichte eine ähnlich revolutionäre Bedeutung wie der Erfindung des Buchdrucks zuspricht, so weist er doch zurecht darauf hin, daß das Phänomen der Vernetzung so alt ist wie die Zivilisation selbst.

Netze, Verkehrsnetze und Informationsnetze, gehören zu den technischen Realisationsbedingungen unserer expandierenden Beziehungsverhältnisse und wechselseitigen Abhängigkeiten von räumlich und sozial entfernten Anderen, die, bis hin zu Globalisierungsvorgängen, für die zivilisatorische Evolution charakteristisch sind.

Hermann Lübbe

Und auch wenn Lübbe selbst die Trivialität dieser Feststellung betont, nimmt seine Einordnung der philosophischen Reflexion über die Vernetzung in den größeren zivilisationshistorischen Kontext doch auf wohltuende Weise der modischen Verklärung der Originalität der elektronischen Netzwerke den Wind aus den Segeln.

Jede Form der Vernetzung führt zugleich zur Netzverdichtung

Das entscheidende Merkmal jeder Form der Vernetzung ist ihre Tendenz fortschreitender Netzverdichtung. Die aber hat zu unterschiedlichen Zeiten und bei verschiedenen Medien je andere Konsequenzen. Verkehrsnetze etwa strukturierten den Raum, um die Bewegung zwischen einzelnen Zentren zu beschleunigen. Telematische Netze realisieren, so Lübbe, einen "tendenziell massenhaften, verkehrsfreien Informationstransfer" - und damit eine ebenso entfernungsindifferente wie umgangslose Kommunikation (135). Die Folgen dieser Ablösung der Informations- von den Verkehrsnetzen buchstabiert Lübbe dann an einigen Merkmalen durch.

Die zeitgenössische Netzverdichtung führt dazu, daß die Zivilisation der Moderne zunehmend "Züge einer Einheitszivilisation" annimmt. Die "Omnipräsenz trivialer Zivilisationsgüter" aber gilt Lübbe weniger als Anlaß kulturkritischer Besorgnis, denn als Indiz kulturellen Erfolgs. Die Welt der Moderne nämlich habe durch die globale Durchsetzung marktwirtschaftlicher Ökonomie nicht nur die "Alltagsfreiheit" westlicher Lebensvorzüge global verbreitet, sondern mit wachsendem Wohlstand zugleich den Aufbau "herkunftsindifferenter" Wissenschaftsgemeinschaften befördert und die universale Geltung praktischer Normen vorangebracht. (135f.) Die Beispiele Lübbes - von der Eröffnung des ersten McDonalds in Moskau als "Symbol des Triumphs über die Planwirtschaftsirrationalität" bis hin zur Arbeit von KSZE und UNO - sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Gleichwohl ist schon hier der Euphemismus erkennbar, der seine affirmative Beschreibung der globalen Vernetzung auch weiterhin auszeichnet.

Die herkunftsindifferente Universalisierung unserer Zivilisation und ihrer kulturellen Werte ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Zugleich "provozieren netzverdichtungsabhängige zivilisatorische Angleichungsvorgänge Bewegungen reflexiver Verstärkung kultureller Herkunftsprägungen" (137).

Hinter dieser Formulierung steckt eine wichtige Einsicht: Das verstärkte regional verwurzelte Aufkommen z.B. nationaler und religiöser Fanatismen als Ursache gravierender Konflikte der letzten Jahre und Jahrzehnte - vom Krieg auf dem Balkan oder in Tschetschenien bis hin zu den paramilitärischen Auseinandersetzungen zwischen militanten Sekten und den Bundesbehörden in den USA - läßt sich nicht als Rückfall in prämoderne Zustände deuten. Vielmehr ist es als Ausdruck einer Dialektik von Globalisierung und Regionalisierung ein spezifisch modernes Phänomen - und eine weitere Konsequenz der zeitgenössischen Art der Netzverdichtung.

Verdichtung der Beziehungsnetze, die uns in der modernen Zivilisation über expandierende Räume real miteinander verbinden, intensivieren die Erfahrung des Andersseins des jeweils Anderen und komplementär dazu die Erfahrung eigener Besonderheit im Reflex ihrer Wahrnehmung durch diese Anderen.

Hermann Lübbe

Dabei ist es ein allerdings entscheidender Zusatz, daß diese Konfrontation mit dem bzw. den Anderen "reflexiv relativ folgenlos" blieb, wie Lübbe mit einem Hinweis auf den Kolonialismus bemerkt. Ebenso wichtig aber wäre hier die Feststellung gewesen, daß gerade die oftmals reflexiv folgenlose Konfrontation ihrerseits zum Teil praktisch äußerst folgenreich wurde - schließlich sind nicht wenige der gewaltsamen Auseinandersetzungen als Reflex auf fehlende Anerkennung zu verstehen. Das Fehlen dieser Feststellung bei Lübbe ist wohl kaum zufällig; macht sie doch eine kritische Analyse der konstatierten Dialektik unvermeidlich - einer Dialektik, die damit zugleich Züge eines tragischen, weil intrinsisch unlösbaren Konflikts annimmt. Die Differenz des jeweils Anderen zu dem Einen, welches machtvoll universal sich durchsetzt, ist niemals folgenlos und selten erfolgreich einzuklagen.

Die moderne Netzverdichtung produziert ihren zivilisationshistorischen Erfolg um den Preis kultureller Indifferenzierung der assimilierten Gemeinschaften und ihrer Mitglieder. Das aber, so Lübbe, "sei dahingestellt" (140).

In den meisten Epochen der Zivilisation ging die Netzverdichtung mit der Tendenz der Zentralisierung einher. Die telematischen Medien haben dies geändert. In der Informationsgesellschaft bedeutet eine Zunahme an Dichte der Netze zugleich eine Verstärkung der Dezentralisierung von theroetischen und praktischen Kompetenzen. Das beste Beispiel dafür ist die gegenwärtig sich wandelnde Funktion städtischer Metropolen, die im Kontext globaler Vernetzung ihre vorrangige Bedeutung tendeziell einbüßen - ein mittlerweile durchaus bekanntes Phänomen.

Die Konsequenz der Verschiebung urbaner Funktionen in den digitalen Raum der Netze lautet für Lübbe, daß die Stadt, gemeint ist die Metropole, einzig als Ort symbolischer Repräsentation des Gemeinwesens relevant bleibt - weswegen er dann u.a. auch dafür plädiert, daß Berlin sein in den fünfziger Jahren gesprengtes Stadtschloß wiederaufbauen möge.

Nun ist es natürlich einerseits schlicht ein Non Sequitur, daß die Erfüllung des Anspruchs auf symbolische Darstellung eines nationalen Gemeinswesens sich der Mittel historisierender Architektur zu bedienen habe. Wenn wir denn tatsächlich Symbole zur Repräsentation von uns selbst als Nation, Stadt, Gesellschaft bedürfen, dann sollten diese doch wohl das repräsentieren, was wir zu einem gegeben Zeitpunkt sind, und nicht, was unser System zu einem (möglicherweise glücklicheren, erfolgreicheren, mächtigeren) Zeitpunkt einmal war? Das fehlende Argument deutet auf ein verborgenes Motiv: Hinter Lübbes Plädoyer für die Restauration des kaiserlichen Domizils steckt ein restaurativer Geist, nicht mehr.

Systematisch wichtiger aber ist die Tatsache, daß die gegenwärtige Tendenz der Dezentralisierung einhergeht mit der Ausbildung neuer Formen der Zentralität. Diese Dialektik aber führt dazu, daß die Strukturen ökonomischer oder politischer Machtsysteme von der Dezentralisierung weitgehend unberührt bleiben.

Die Zentren der Macht bleiben von der Dezentralisierung weitgehend unberührt

Die schwindende kulturelle Bedeutung der metropolitanen Zentren bedeutet eben nicht, daß sich die hierarchischen Ordnungen auch dort entzerren, wo die entscheidenden Fragen gestellt und beantwortet werden. Ob Lübbe diese Dialektik übersieht oder ignoriert, ist schwerlich festzustellen. Festzuhalten aber bleibt, daß er mit seiner Darstellung den Mythos fortschreibt, wonach die Dezentralisierung durch die elektronischen Kommunikationsmedien auch eine gravierende Dezentralisierung der Macht bedeutet.

Richtig hingegen ist sein Hinweis, daß Dezentralisierungstendenzen im Zusammenhang mit der Dialektik von Globalisierung und Regionalisierung kleineren Gemeinschaften verstärkte Selbstregulierungsoptionen ebenso wie internationale, grenzüberschreitende Kooperationsmöglichkeiten mit anderen substaatlichen Körperschaften eröffnen - und daß dies gegenüber zentralistischen Organisationsformen auch kritische, demokratische Potentiale freizugeben verspricht.

Entsprechend wächst mit der Netzverdichtung und mit dem ihr entsprechenden Grad der Komplexität moderner Lebensverhältnisse unsere Angewiesenheit auf Formen lebendiger politischer Selbstorganisation nicht zuletzt in kleinen Einheiten und Kommunitäten

Hermann Lübbe

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Lübbes philosophische Trendanalyse endet mit einem scheinbaren Paradox. Die zunehmende globale Netzverdichtung nämlich, so folgert er, bedeutet zugleich den "Zerfall der Massengesellschaft" (148). Dieser medial realisierte Zerfall - darin ist Lübbe sich einig mit den systemtheoretischen Überlegungen zur Realität der Massenmedien, die Niklas Luhmann jüngst vorgelegt hat - läßt kulturkritische Einsprüche gegen die Kulturindustrie (Adorno/Horkheimer) schlicht obsolet werden.

Statt Vermassung, Nivellierung und Konformismus prägt Pluralisierung und Individualisierung das soziale, kulturelle und politische Bild massenmedial integrierter Gesellschaften.

Hermann Lübbe

Darüber aber läßt sich wohl streiten. Zwar dürfte es richtig sein, daß die über die globalen Computernetze verfügbare Menge an Informationen dazu beitragen kann, totalitäre Systeme zu kritisieren und in einigen Fällen vielleicht gar zu stürzen. Soweit die prinzipiell verfügbaren Informationen auch praktisch zugänglich sind, haben Orwellsche Modelle vollständiger Informationskontrolle wohl kaum ein Chance.

Solange große Teile der Weltbevölkerung allerdings noch nicht einmal über einen Telefonanschluß, geschweige denn über einen Internetzugang verfügen, läßt sich daraus kaum ein globaler Trend ablesen - zumal der Erfindungsreichtum derjenigen staatlichen Institutionen, denen an einer Kontrolle über die im Netz frei flottierende Informationen gelegen ist, nicht unterschätzt werden sollte.

Lübbes Beschreibung der vermeintlichen Zersetzung totalitärer Systeme durch die Technologie der Informationsnetze trifft in vollem Umfang nur zu auf die entwickelten Länder der westlichen Industrienationen, die zumindest im politischen Sinne totalitär gar nicht waren. Mit dieser Beschreibung aber läßt sich wenig belegen - schon gar nicht die These, daß die "hochentwickelte Technik" intrinsische antitotalitäre, demokratische Wirkungen zeitigt. Richtig bleibt wohl vielmehr, daß die Technik selber politisch neutral ist - und die Frage, was mit ihr geschieht, die ist, was aus ihr gemacht wird. Der sinnvolle Gebrauch der technologischen Möglichkeiten ist dann auch ebenso sehr wie mit ihrer Verfügbarkeit verbunden mit der sozio-kulturellen Prägung des Benutzers, seiner Bildung, seiner gesellschaftlicher Herkunft, etc. - und es spricht derzeit nichts dafür, daß unsere Gesellschaft die systematische Differenzierung ihrer Bürger aufgrund der technologischen Vernetzung zugunsten verstärkter Egalisierungen ändern wird. Das aber will Lübbe auch gar nicht behaupten.

Der Umweg über die vermeintlich anti-totalitären Qualitäten der elektronischen Medien gilt ihm ja nur zur Ausführung der These des Zerfalls der Massengesellschaft.

Freiheitsabhängige, massenhaft differenzierte Formen der Nutzung der Medien treiben ganz im Gegenteil die Kompetenzniveaus fortschreitend weiter auseinander - nach unten freilich wie nach oben.

Hermann Lübbe

Das wiederum ist zweifellos richtig: Die Schere klafft auseinander, und zumindest gegenwärtig geht der Ausbau der Informationsgesellschaft einher mit ihrer Polarisierung in eine relativ kleine kompetente Elite aktiver Medienbenutzer auf der einen, und eine demgegenüber große Masse passiver Medienkonsumenten auf der anderen Seite. Aus diesem Trend auf einen notwendig gewordenen Verzicht der kulturkritischen Analyse der Medien zu schließen, aber ist ideologisch.

Wie seine versöhnlerische Darstellung der Dialektik von Globalisierung und Regionalisierung die Macht unterschätzt, mit der die Netzverdichtung kulturelle Differenzen nivelliert, so überschätzt Lübbes Darstellung der Mediengesellschaft die Resistenz kritischer Rationalität.

Selbst die Eliten der ausdifferenzierten westlichen Systeme bleiben für die symbolische Integrationskraft und unüberprüfte Übernahme medial transportierter und erzeugter Bilder, Mythen und Ikonen anfällig. Dafür aber ist die Tatsache, daß Lübbes Beschreibung der elektronischen Netzverdichtung am Ende schlicht den Mythos fortschreibt, wonach die digitale Welt der Netze den Anfang einer "virtuellen Gemeinschaft" (Rheingold) bedeutet, deren Mitglieder als freie, autonome Partner einer demokratischen Kultur zwanglos miteinander sinnvoll kommunizieren, das beste Beispiel.