Immer mehr Tariflöhne übertreffen bereits den Mindestlohn
Gebraucht wird er trotzdem - denn immer weniger Unternehmen zahlen nach Tarif
Die Zahl der Tariflöhne, die oberhalb des von der Großen Koalition angestrebten Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde liegen, nimmt zu. Diese frohe Botschaft verkündet die gewerkschaftsnahe Hans Böckler-Stiftung. Doch was zunächst so klingt, als sei das Projekt Mindestlohn mittlerweile überflüssig, trügt.
Untersucht hat die Böckler-Stiftung 4.750 Vergütungsgruppen aus 40 Branchen und Wirtschaftszweigen. Dabei haben die Tarifexperten festgestellt, dass im Dezember 2010 nur noch zehn Prozent dieser Tarifgruppen einen Lohn von weniger als 8,50 vorsahen. Im März 2010 waren es noch 16 Prozent. 79 Prozent der Vergütungsgruppen sehen sogar einen Lohn von mindestens 10 Euro vor – die Linkspartei fordert einen Mindestlohn in dieser Höhe. Mindestens 20 Euro pro Stunde sind immerhin in noch 12 Prozent aller Tarifgruppen vorgesehen.
Vollkommen unklar ist jedoch, wie viele Personen welcher Tarifgruppe angehören. Dazu gibt es laut Böckler-Stiftung keine Daten. Sicher ist hingegen, dass insbesondere Saisonarbeiter in der Landwirtschaft von Tariflöhnen unterhalb des Mindestlohns betroffen sind. Keine einzige Tarifgruppe in diesem Bereich lag 2013 über 8,50. Bei den Floristen lagen 87 Prozent der Vergütungsgruppen unter 8,50, im Friseurhandwerk 73 Prozent und im Bewachungsgewerbe 43 Prozent. In der chemischen Industrie, dem Bankgewerbe, der privaten Abfallwirtschaft und der Metall-, Eisen- und Stahlindustrie hingegen wurden überwiegend Löhne im Bereich von mindestens 10 Euro vereinbart.
Nach wie vor stark ist der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Die niedrigen Vergütungsgruppen sind vorwiegend in den neuen Bundesländern zu finden, während die hohen Tariflöhne im Westen häufiger auftreten. Zudem steigen die Tariflöhne tendenziell, je jünger der zugehörige Tarifabschluss ist.
Die Zahlen zeigen, dass die Gewerkschaften in jüngster Zeit in der Lage waren, aus Arbeitnehmersicht gute Tarifabschlüsse zu erzielen. Über die Gesamtsituation der arbeitenden Menschen sagt die Statistik jedoch wenig aus. Denn die Zahl der Beschäftigten, die überhaupt nach einem Tarifvertrag bezahlt werden, nimmt seit Jahren immer mehr ab. So wurden 1998 in Westdeutschland noch 76 Prozent aller Beschäftigten nach Tarif bezahlt. 2012 waren es nur noch 60 Prozent. In Ostdeutschland, wo die Tariflöhne ohnehin deutlich niedriger liegen, waren es sogar nur 48 Prozent. 1998 lag der Wert dort immerhin noch bei 63 Prozent.
Tariflöhne oberhalb von 8,50 Euro allein sind somit noch kein Anzeichen dafür, dass die Mehrheit der Beschäftigten auch tatsächlich ein Einkommen zumindest auf dem Niveau des angestrebten Mindestlohnes bezieht. Zudem könnte sich der von der Böckler-Stiftung aufgezeigte Trend dieses Jahr möglicherweise umkehren. Immerhin haben die Unternehmen noch elf Monate Zeit, mit niedrigen Tarifabschlüssen dem drohenden Mindestlohn noch bis 2017 zu umgehen. So lange will es die Regierung den Unternehmen erlauben, den Mindestlohn zu unterschreiten – wenn das in einem Tarifvertrag so festgelegt wird.