"In Russland halten viele die deutsche Position für nicht souverän"
- "In Russland halten viele die deutsche Position für nicht souverän"
- "Gesamteuropäisches Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands"
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Andrej Hunko über die Folgen der Ignoranz russischer Interessen, das Corona-Problem von Handelsvertretern und die große Chance von Olaf Scholz in Moskau
Herr Hunko, westliche Regierungen und Medien gehen fest von einem russischen Angriff auf die Ukraine in dieser Woche aus. Sie waren gerade in Moskau. Teilt man die Einschätzung dort?
Andrej Hunko: Nein, überhaupt nicht. Keiner meiner Gesprächspartner ist von einem "russischen Einmarsch in die Ukraine" ausgegangen. Die westlichen Medienberichte wurden als "Lärm" bezeichnet. Mit den Manövern an der ukrainischen Grenze wolle man Druck für Verhandlungen über Sicherheitsgarantien aufbauen, hieß es, entsprechende Vorschläge wurden von russischer Seite gemacht.
Die ersten Signale von US-Seite, etwa zur Neuverhandlung des INF-Vertrages über bodengestützte Nuklearraketen oder zum Aufbau von Kommunikationskanälen, wurden positiv gewertet.
Ich mache mir die russische Sicht nicht zu eigen, aber ich kann sie nachvollziehen. Die damit einhergehende Perspektive der Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems, in dem die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden, teile ich.
Nun waren Sie einige Tage vor Olaf Scholz in Russlands Hauptstadt. Was erwartet man in Moskau vom heutigen Besuch des Bundeskanzlers?
Andrej Hunko: Die Erwartungen an den Besuch von Olaf Scholz sind begrenzt. Viele Akteure in Russland halten die deutsche Position für nicht souverän, vor allem nach der Art und Weise des westlichen Abzugs aus Afghanistan, die als unilaterale Entscheidung der USA betrachtet wird. Deshalb sei es für die Russische Föderation notwendig, direkt mit den USA zu verhandeln.
Es wäre sicher positiv, wenn Olaf Scholz nicht mit weiteren Sanktionsdrohungen nach Moskau reist, sondern etwa das Veto von Angela Merkel bezüglich eines potenziellen Nato-Beitritts der Ukraine und Georgiens bekräftigt.
Die Osterweiterung der Nato ist der zugrundeliegende Großkonflikt, der jetzt angegangen werden muss, etwa durch die Perspektive eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems.
Im Auswärtigen Amt ist nicht erst seit der Amtsübernahme von Annalena Baerbock von einer "wertegeleiteten Außenpolitik" die Rede. Wie haben Ihre Gesprächspartner das aufgefasst und welchen Werten folgt die russische Regierung eigentlich gerade?
Andrej Hunko: Ich hatte dazu einen langen Austausch mit Fjodor Lukjanow, vielleicht dem einflussreichsten Vordenker der russischen Außenpolitik. Das Grundproblem ist demnach: Wenn man den Konflikt als reine Wertekonfrontation begreift und nicht als Interessenkonflikt, prallen vermeintlich gegensätzliche Wertesysteme aufeinander.
Die russische Seite reagiert auf den westlichen Wertediskurs mit der Stärkung der "orthodoxen Werte", die notwendig sei, um die russische Gesellschaft gegenüber dem westlichen Einfluss resilient zu machen.
Bei einem so verstandenen Konflikt stehen sich Wertesysteme am Ende unversöhnlich gegenüber. Deshalb hielte ich es für besser, man würde Interessen klar formulieren, um sie in einem zweiten Schritt in einem Kompromiss auszugleichen. Natürlich ist eine solche Politik am Ende auch wertebasiert, aber eben nicht in Form einer Monstranz, die man vor sich herträgt.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas von der SPD hat in dieser Woche bekräftigt, es müssten alle Möglichkeiten der Diplomatie genutzt werden, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Ihre Dienstreise nach Moskau hat sie nicht genehmigt. Wie passt das zusammen?
Andrej Hunko: Ich fand, dass sich die Betonung der Diplomatie auf allen Ebenen in der Rede der Bundestagspräsidentin in der Bundesversammlung angenehm von der Antrittsrede des neu gewählten Bundespräsidenten unterschied. Leider werden jedoch mit Verweis auf die Corona-Situation gegenwärtig Reisen von Mitgliedern des Bundestags in Hochrisikogebiete in der Regel abgelehnt, auch wenn dort die Inzidenz niedriger ist als in Deutschland.
Parlamentarische Diplomatie sollte jedoch nicht daran scheitern. In meinem Fall hat die Linksfraktion des Europarates die Reise außerordentlich begrüßt, für die ich dann offiziell in Moskau war.
Der Bundeskanzler war aber gestern in Kiew und führt heute in Moskau Gespräche. Macht sein SPD-Parteibuch ihm "immuner" als Sie?
Andrej Hunko: Die Reiseeinschränkung gilt für Abgeordnete, jedoch nicht für die Regierung. Ich erwarte, dass diese Einschränkungen schnell aufgehoben werden und empfehle auch den anderen Abgeordneten, das direkte Gespräch zu suchen.