In Zeiten der Hexenjagd

Bild: Venice International Film Festival

Kommentar: Wieder mal steht Roman Polanski in den Schlagzeilen. Er ist der wahre Sieger bei den Filmfestspielen von Venedig - ein Sieg gegen den grassierenden Hypermoralismus

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Die Leute, die ich anklage, kenne ich nicht, ich habe sie nie gesehen, ich hege weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für mich nur Erscheinungen, Symptome der Krankheit der Gesellschaft. Und die Handlung, die ich hier vollziehe, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen.
Ich habe nur eine Leidenschaft, die des Lichtes, im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein flammender Protest ist nur der Schrei meiner Seele.

Emile Zola: "J'accuse!

Das war mehr als eine große Überraschung zum Abschluss der Filmfestspiele in Venedig: Der bislang nur Experten bekannte Amerikaner Todd Phillips gewann am Samstagabend für seinen Film "Joker" den Goldenen Löwen von Venedig.

Der wahre Sieger der diesjährigen Venedig-Ausgabe ist aber der französisch-polnische Regisseur Roman Polanski, der für seinen Film "J'Accuse!" den Spezialpreis der Jury bekam.

"J'Accuse!" erzählt von der Dreyfus-Affaire vor 125 Jahren, basierend auf Robert Harris' Roman "An Officer and Spy". Die Geschichte ist beschämend genug, wie sie ist. Polanski schildert nüchtern und klar die Fakten. Sein Film verzichtet auf alle billige Aktualisierung, auf Sensationalismus, auf boshafte Witze, die sich auf die Gegenwart beziehen.

Die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie

Seine Herangehensweise ist im gewissen Sinn sehr klassisch. Der Film beginnt Anfang 1895 mit Alfred Dreyfus' öffentlicher Degradierung und Demütigung. Danach geht es hin und her zwischen dem Ablauf der Jahre 1895-1906 und Rückblicken in die Vorgeschichte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete.

Alles ist ein bisschen eine Detektivgeschichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Vor allem ist dies auch die Geschichte eines bisher unbekannten, geradezu geheimen Helden, des Colonel Marie-Georges Picard - ein Whistleblower der Jahrhundertwende.

Mit großer Lässigkeit zeigt Polanski die politischen und die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie auf. Seine Erzählung der Dreyfus-Affaire zeigt, wie Meinungsfreiheit in Populismus, wie Populismus in Demagogie und Hetze umschlägt: Er zeigt Bücherverbrennungen, antisemitische Ausschreitungen und Verschwörungen einer rechtskonservativen, katholischen, militärischen Clique.

Dieser Film erinnert auch an den Kampf eines bestimmten Teils der politischen Linken, die heute ganz vergessen ist: Einer politischen Linken, die wirklich mit Radikalität gegen den existierenden Staat stand, auch wenn er formal eine Demokratie war, und die wirklich Widerstand geleistet hat gegen die Macht.

So erinnert Polanski daran, was wirkliche Opfer im politischen Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehre. Von solchen Positionen und von Menschen wie Emile Zola oder Georges Clemenceau ist unsere Gegenwart weit entfernt.

So ist dies eine zeitgemäße Geschichte: Über die Hexenjagden der Gegenwart, von denen Polanki selbst ein Lied singen kann; über den Antisemitismus unserer Zeit in Frankreich wie in Deutschland, über Überwachungswahnsinn, über Whistleblower.

Mehrfache Legendenbildung im Fall von Polanski

Dass dies nebenbei auch ironisch auf den moralischen und puritanischen Reinigungsfuror von Polanskis Anklägern zielt, ist klar. Denn gegenwärtig ist auch ein Hypermoralismus, der mit Kampagnen gegen Einzelne Exempel statuiert. Mitunter hatte man bei den Kommentaren im Vorfeld und den Vorwürfen gegen das Festival, weil es diesen Film zeigt, den Eindruck, es gehe gar nicht um Polanski, sondern um Venedig.

Ist es ein Zufall, dass es fast nur amerikanische Medien waren, die die Empörung über Venedig befeuerten? Könnte es nicht sein, dass banale Industrie-Interessen hinter alldem stehen? Der Zorn der Nordamerikaner, dass es nicht Toronto, Telluride oder Tribeca ist, das in den letzten Jahren zur zentralen Startrampe für die Oscars wurde, sondern das alte Europa mit einer der europäischsten und geschichtsträchtigsten Städte - mit Venedig?

Gerade in den letzten Wochen im Umfeld von Venedig fällt wieder diese unerträgliche mehrfache Legendenbildung im Fall von Polanski auf: So ist es geradezu niedlich, wie immer wieder davon gesprochen wird, Polanski sei ja "wegen Missbrauch" angeklagt - nein! Man muss da sehr deutlich unterscheiden: Missbrauch oder irgendwelche Vorfälle im Zusammenhang mit "#Me too" wirft Roman Polanski niemand vor.

Was man Polanski vorwirft, ist eine Vergewaltigung und Sex mit Minderjährigen. Letzteres hat er zugegeben, ersteres nicht. Er ist verurteilt worden, und er hat diese Strafe angenommen. Er hat sich dem Verfahren nicht entzogen, erst dessen Wiederaufnahme.

Alles dies ist zur Genüge dargestellt worden - in Büchern, in Zeitungsartikeln, in Filmen wie Roman Polanski: Wanted and Desired. Über drei Jahrzehnte lang hat niemand mit Roman Polanski ein Problem gehabt. Polanski war auf Festivals wie der Berlinale eingeladen und in Cannes, wo er 2002 die Goldene Palme gewonnen hat.

Die Probleme mit Polanski kamen erst, nachdem eine rechts gewendete, puritanisch und erzkonservativ gewordene US-Gesellschaft die Oberhand gewann, ihre Justiz und Präsident George W. Bush im Jahr 2008 einen neuen Haftbefehl ausgestellt hatte, und die Schweiz Polanski 2009 für eine Weile in Untersuchungshaft genommen hatte.

Nach europäischer Rechtsauffassung ist Roman Polanski nicht angeklagt, nach europäischer Rechtsauffassung wird der amerikanischen Auffassung widersprochen. Dies gilt in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland und in vielen anderen Ländern.

Es ist unerträglich zu sehen, wie sich europäische Medien eine selbst in den USA umstrittene Rechtsauffassung von erzkonservativer Seite einfach zu eigen machen, und sich diese Medien dann auch noch liberal vorkommen, auch noch glauben, sie würden die "Sache der Frauen" in irgendeiner Form verteidigen oder ihr helfen.

Der ganze Fall Polanski schadet der "Sache der Frauen", denn er ist so offensichtlich ungerecht; hier wird mit offensichtlich zweierlei Maß gemessen, dass die unfaire Behandlung der Person Polanski nur dazu führt, dass man diese von interessierter Seite als Argument benutzen kann, um allgemein Vergewaltigungs- und Missbrauchsanklagen in Zweifel zu ziehen.

Etwas anderes kommt dazu. Nach Auffassung aller freiheitlichen Rechtssysteme, auch dem der USA, darf kein Täter für dasselbe Verbrechen zweimal verurteilt werden. Genau dies aber soll mit Polanski geschehen.

Was sollte Polanski jetzt eigentlich tun, was seine schnellen oberflächlichen Ankläger einfordern? Sich einer Justiz überantworten, welche die gleichen Menschen, die Polanski jetzt verfolgen, eigentlich von Grund auf verachten, und für rassistisch halten - zu Recht! Es gibt wenig Irrationaleres und Dümmeres, als das Benehmen vieler Menschen im "Fall Polanski".

"Lebenslänglich"

Eigentlich will man Polanski lebenslänglich geben: Lebenslängliche öffentliche Ächtung; lebenslängliche öffentliche Verfolgung; lebenslängliches öffentliches Verbot, Filme zu machen, Filme gefördert zu bekommen, diese Filme aufgeführt zu sehen, lebenslängliches Verbot einer Teilnahme an Filmfestivals - alles dies ist nicht nur unfair und unmoralisch. Es ist auch rechtsstaatlich vollkommen fragwürdig und ein Skandal.

Hier wird einer Symbolfigur der Schauprozess gemacht. Sogar überführten Mördern gesteht man eine Resozialisierung, eine Wiedereingliederung in das bürgerliche Leben nach 15 Jahren zu. Polanski nicht. Warum?

Polanski ist ein Aushängeschild, eine Symbolfigur, eine Ikone der libertären Gegenkultur um 1968. Hinzu kommt: Polanski macht Filme, die in dem bürgerlichen Mainstream und den Biedermännern als "geschmacklos", "pervers" und "provokativ" erscheinen. Polanski hat Lust an der Provokation und er hat keine Lust, sich bei den braven Bürgern zu entschuldigen.

Hat all das wirklich nichts damit zu tun, dass Polanski eine solche Symbolfigur ist? Hat es wirklich nichts damit zu tun, dass seine Filme sind, wie sie sind? Und hat es wirklich nichts damit zu tun, dass Polanski Jude ist?

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