"In der Kommunikationswissenschaft ist der Kalte Krieg auch heute noch nicht zu Ende"

Ein Interview mit Sebastian Sevignani über das neu gegründete Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaftler

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Kapitalismus- und Herrschaftskritik in der Kommunikationswissenschaft? Wer als Forscher in dieser wissenschaftlichen Disziplin grundlegende Systemkritik äußern möchte, hat einen schweren Stand. Aus diesem Grund haben sich Forscher zu einem vor kurzem neu gegründeten Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaftler zusammengeschlossen.

Zu dem Netzwerk, dessen Mitglieder gemeinsam den Versuch unternehmen, eine kritische Forschung und Lehre zu forcieren, gehört auch Sebastian Sevignani. Im Interview mit Telepolis findet der Kommunikationswissenschaftler der Universität Jena klare Worte zu den Problemen seiner Wissenschaft.

Grundlegend stellt er fest, dass "ähnlich wie Noam Chomsky in seinem berühmten 'Propaganda-Modell' ausgeführt hat", wonach "Medien eher nicht in der Weise berichten, die ihre eigene Geschäftsgrundlage in Frage stellt", es sich auch mit der Wissenschaft verhält. Eine "radikal herrschaftskritische Herangehensweise" lasse sich mit der Forderung an die Sozialwissenschaften nach "positiven Theorien" kaum in Einklang bringen. Ein Interview über die Situation in der Kommunikationswissenschaft, in der auch schon mal allzu kritische Forscher mit Berufsverboten belegt und in die Prekarität gedrängt werden.

Herr Sevignani, zusammen mit anderen Wissenschaftlern haben Sie ein Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaftler gegründet. Warum dieser Schritt?

Sebastian Sevignani: Da kam einiges zusammen. Zum einen haben ich und einige Kollegen die Erfahrung gemacht, dass man mit einem kapitalismus- und herrschaftskritischen Forschungsinteresse in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft nicht akzeptiert wird, es bleibt dann nur der Wechsel in ein anderes Fach mit anderen Traditionen, wie in meinem Fall die Soziologie, oder die akademische Migration meist in englischsprachige Länder, die in dieser Hinsicht mehr Pluralität erlauben und wo eine solche Perspektive auch Anerkennung genießt. Diese Situation empfanden wir immer als problematisch.

Zum anderen erscheint angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Vielfachkrisen (Finanz-, Ökologie-, und soziale Krise) und der damit verbundenen Zuspitzung von Ungleichheit und Entfremdungserfahrungen diese Blindstelle in der Diskussion über Medien, Massenkommunikation und das Internet noch unzeitgemäßer als zuvor. Aber auch umgekehrt hat die existierende kritische Theorie wenig zu den Themen Medien und Kommunikation zu sagen. Dies ist offensichtlich auch die Erfahrung vieler jüngerer Forscher und Studierender, die einen Bedarf nach kritischer Forschung und Lehre haben, der aktuell nicht gedeckt werden kann. Die gemeinsame Gründung eines Netzwerkes war dann ein wissenschaftspolitisch logischer Schritt.

Auf der Internetseite des Netzwerkes heißt es, dass Sie unter einer Kritischen Kommunikationswissenschaft eine Wissenschaft verstehen, die ihren Fokus auch auf "Herrschaftsformen und Machtungleichgewichte" legt. Gibt es in der Kommunikationswissenschaft Defizite, wenn es um eine herrschaftskritische Betrachtung kommunikationswissenschaftlicher Zusammenhänge geht?

Sebastian Sevignani: Ja, ich denke schon. Vieles, was im Anschluss an die Arbeiten der Frankfurter Schule (vgl. etwa das berühmte Kapitel "Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug" in der "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno), wie z.B. die dann im Zuge der 68er Bewegung entwickelte historisch-materialistische Theorie der Kommunikation und die Kritik der Politischen Ökonomie der Medien, spielen aktuell, wenn überhaupt, nur eine sehr marginale Rolle in der kommunikationswissenschaftlichen Diskussion. Beispiele für Autoren wären etwa Horst Holzer und Manfred Knoche (siehe hierzu etwa den Eintrag zu Knoche im Biographischen Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Ich denke, die Herausforderung, auch für die weitere Entwicklung unseres Netzwerkes, liegt gerade in der Verbindung von Herrschafts- und Machtanalyse.

Aber es wird durchaus auch heute machtkritisch geforscht, zum Beispiel über die mediale Miss- und Unter-Repräsentation von Frauen und Migranten. Dann gibt es kritische Forschungen zur digitalen Spaltung in den Gesellschaften und zwischen den Regionen der Erde oder zu den Möglichkeiten alternativer, nicht-kommerzieller Medien.

Sebastian Sevignani: Sicher, aber aus meiner Sicht fehlt diesen eher akteursbezogenen Analysen von Machtungleichgewichten ein Sinn dafür, wie das gesellschaftliche "Große und Ganze", also die Kämpfe um Macht, vorstrukturiert sind und daher auch bestimmte Gewinner und Verlierer in diesen Auseinandersetzungen wahrscheinlicher macht.

Was heißt das also?

Sebastian Sevignani: Ich denke, man kommt hier um ein möglichst genaues Verständnis "des Kapitalismus" nicht herum und um eben dieses bemühen sich die genannten vernachlässigten Forschungstraditionen im Rückgriff auf marxistische Theorien.

Eine herrschaftskritische Medien- und Kommunikationswissenschaft bemüht sich aufzuzeigen und herauszufinden, wie einerseits in der Kulturindustrie selbst Ungleichheiten, z.B. zwischen prekär beschäftigten Journalisten, aber auch Usern und Medienunternehmern, laufend produziert werden. Und andererseits, wie Berichterstattung und Informationen so gelenkt, modifiziert und verfälscht werden, dass gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten und vermeintliche Sachzwänge und Halbwahrheiten (zum Beispiel: "Wenn nur die Wirtschaft wächst, geht es uns allen gut") nicht hinterfragt werden und als unveränderlich erscheinen.

"Professoren und Politiker haben herrschaftskritische Ansätze bewusst und strategisch verhindert"

Wie kommt es dazu, dass sich die Kommunikationswissenschaft so schwer mit einem herrschaftskritischen Ansatz tut?

Sebastian Sevignani: Das hat sicherlich strukturelle Gründe und ist in der Kommunikationswissenschaft erst einmal nicht anders als in anderen Wissenschaften. Ähnlich wie Noam Chomsky in seinem berühmten "Propaganda-Modell" ausgeführt hat, dass Medien eher nicht in der Weise berichten, die ihre eigene Geschäftsgrundlage in Frage stellt, ist es auch mit der Wissenschaft. Eine radikale herrschaftskritische Herangehensweise stimmt grundsätzlich nicht mit der gesellschaftlichen Forderung an die Sozialwissenschaften überein, auf die Probleme der individualisierten Konkurrenz und den Verwerfungen, die der Kapitalismus mit sich bringt, mit positiven Theorien oder Ordnungswissen zu reagieren.

Das erklärt aber nicht, warum sich der herrschaftskritische Ansatz in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, etwa im Vergleich zur Soziologie, besonders schwertut.

Sebastian Sevignani: Stimmt, deshalb muss man noch weitere Faktoren beachten. Einmal hat es sicher etwas mit der Fachgeschichte zu tun. Im Nationalsozialismus war die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft vor allem Propagandawissenschaft im Auftrag des NS-Regimes und hatte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eigentlich delegitimiert.

Bestehen konnte sie dann in Konkurrenz zu den benachbarten Fächern, wie der Soziologie und der Politikwissenschaft, nur durch eine sozialwissenschaftlich-empirische Wende und weil es eine außerordentlich hohe studentische Nachfrage bis heute gibt. Dies ging aber einher mit einem sehr strikt und unreflektiert ausgelegten Werturteilsfreiheitsgebot, sowie mit der Selbst-Verpflichtung auf praxisbezogene Forschung kleiner und mittlerer Reichweite. Gesellschaftstheorie und zumal normativ begründete Kapitalismuskritik passen da nicht rein.

Und der zweite Faktor?

Sebastian Sevignani: Neuere fachgeschichtliche Studien deuten auch auf Folgendes hin: Professoren und Politiker haben herrschaftskritische Ansätze bewusst und strategisch verhindert.

Wie meinen Sie das?

Sebastian Sevignani: Anders lässt sich zum Beispiel ein Fall wie der des Münchner Kommunikationssoziologien Horst Holzers letztlich nicht erklären. Meine Erfahrung ist es, dass in der Kommunikationswissenschaft der "Kalte Krieg" auch heute noch nicht zu Ende ist.

Wir gehen gleich noch auf die Geschichte von Horst Holzer ein. Zuerst aber die Frage: Ihr Netzwerk möchte nun also dem "Kalten Krieg" in der Kommunikationswissenschaft entgegenwirken?

Sebastian Sevignani: Ja, und am besten auf genau diesen drei Ebenen: Einmal sollen hier Forschung und Lehre inspiriert werden, die kommunikationsbezogene und medial-vermittelten Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus sichtbar macht und auch Alternativen dazu auslotet.

Und die zweite Ebene?

Sebastian Sevignani: Dann soll daran gearbeitet werden, dem gesellschafts- und kapitalismustheoretischen Defizit entgegenzuwirken. Das bedeutet zunächst einmal, "vergessene" Theorien zu heben, anzueignen und auf deren Aktualität hin zu überprüfen. Es bedeutet aber auch das international Geleistete in die deutschsprachigen Diskussionen zu importieren und bestehende Gesellschaftheorien und Zeitdiagnosen auf deren kommunikationswissenschaftliche Relevanz hin abzuklopfen.

Drittens ist so ein Netzwerk auch eine Intervention in die weitere Entwicklung des Faches und es geht darum in die Auseinandersetzungen über das, was man denken und schreiben darf, sowie um Ressourcen einzusteigen.

"Worüber berichtet werden kann, muss bereits etablierten Unterscheidungen und Mustern folgen"

Q. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu wurde bekannt als Wissenschaftler, der seine Forschung nicht einfach nur aus dem Elfenbeinturm betrieben hat. Bourdieu hat sich immer wieder eingemischt und im Sinne einer herrschaftskritischen Soziologie auch zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Stellung bezogen. Wird Ihr Netzwerk auch versuchen, sich in den öffentlichen Diskurs einzumischen?

Sebastian Sevignani: Ich hoffe es und werde im Netzwerk auch für das Verständnis einer solchen "kritischen und öffentlichen Kommunikationswissenschaft" werben. Der Praxisbezug einer Wissenschaft darf nicht nur in Anwendungs- und Auftragsforschung für Unternehmen und staatliche Behörden und in der Berufsausbildung bestehen.

Vielversprechend finde ich in dieser Hinsicht, dass sich bereits jetzt, noch vor der Gründungstagung des Netzwerkes in München, sich ein Interesse zwischen Wissenschaftler an den Hochschulen und medienkritischer NGOs abzeichnet, im Netzwerk zusammen zu arbeiten. Ich denke ganz viele der Interessierten im Netzwerk engagieren sich in der einen oder anderen Form bereits politisch für eine gerechtere, demokratischere und nachhaltigere Gesellschaft und den Beitrag, den Medien hierzu leisten können. Es geht jetzt darum, dass dies sichtbar wird und auch darum, das Verhältnis von wissenschaftlicher Reflexion und dieser politischen Praxis für uns zu klären.

Es gibt durchaus eine kritische gesellschaftswissenschaftliche Forschung, die Zusammenhänge auch im Hinblick auf Herrschaftsstrukturen und Machtungleichgewichte hinterfragt. Wie ist denn Ihr Eindruck: Kann es sein, dass diese Wissenschaftler mit ihrer Forschung einfach von den Medien nicht wahrgenommen werden? Anders gefragt: Wenn Sie die Berichterstattung der Leitmedien verfolgen, halten Sie den Meinungskorridor, der dort sichtbar wird, für breit genug?

Sebastian Sevignani: Einerseits stimmt das, der Meinungskorridor ist eng. Es gibt sicher so etwas, wie eine Dialektik von Radikalität und Kommunikabilität. Das heißt, das was gesagt werden kann, worüber berichtet werden kann, muss für die Medienmacher und das von ihnen antizipierte Publikum "verstehbar" und einordbar sein. Anders gesagt: Es muss bestimmten bereits etablierten Unterscheidungen und Mustern folgen.

Repressive Toleranz: Dem "Pluralismusproblem" entkommt man nicht einfach durch "Fakten-Checks"

Wie meinen Sie das?

Sebastian Sevignani: Ein Beispiel: Es gilt als ausgemacht, dass mehr (innere) Sicherheit zu Lasten von (Meinung-)Freiheit gehen muss. Journalisten verlangen dann oft eine Zuspitzung auf eine "Entweder/Oder"-Position. Eine Position, die aber diesen etablierten Widerspruch zwischen Sicherheit und Freiheit hinterfragt, ist weit schwieriger zu vermitteln. Also wenn etwa dafür argumentiert wird, dass eine steigende Freiheit der Bürger auch zu mehr Sicherheit führen kann.

Hierzu muss man nämlich nicht nur aus dem bekannten "Entweder/Oder"-Spiel aussteigen, sondern auch erklären, dass Freiheit nicht nur etwas Negatives ist, also die Freiheit von etwas, sondern auch als positive soziale Freiheit verstanden werden kann. D.h. wenn es mehr Freiheit für alle, tatsächlich etwas tun zu können und dafür auch die nötigen Ressourcen zu besitzen, gäbe, würden wir auch in einer sicheren Gesellschaft leben und etwa Extremismus und Diebstahl zurückgehen.

Andererseits gelten meiner Meinung immer noch Zusammenhänge, die Herbert Marcuse in den 60er Jahren unter dem Stichwort "repressive Toleranz" beschrieben hat. Das heißt, nicht nur die Verengung, sondern die hyper-pluralistische Berichterstattung ist auch ein Problem. In einem solchen Pluralismus, spielt dann die Suche nach Wahrheit keine Rolle, Meinungen werden als unverbindliche Optionen nebeneinander präsentiert. Die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean hat dieses Phänomen auch für die sich fragmentierenden Öffentlichkeiten neuer Medien, z.B. die Explosion von Blogs, beschrieben. Diesem "Pluralismusproblem" entkommt man leider auch nicht einfach durch "Fakten-Checks", d.h. dadurch, dass man etwas auf seine Korrektheit prüft.

Journalisten müssten sich gemeinsam mit den Rezipienten über etwas streiten, was man mit Adorno "emphatischen Wahrheitsbegriff" nennen könnte. Wahr wäre dann etwas nicht nur dann, wenn es korrekt ist, sondern wenn es zugleich schön und auch gut für die Menschen ist.

Allerdings kann man auch positive Beispiele beobachten. Zum Beispiel versteht sich mein Institut in Jena vornehmlich als ein Ort "kritischer Soziologie". Als kritischer Soziologe ist es uns auch wichtig normativ Position zu beziehen, sich in den sogenannten Gegenöffentlichkeiten, wie zum Beispiel den Gewerkschaften oder etwa in der Postwachstumsbewegung, zu engagieren. Zudem wird dort explizit der Kontakt zu Journalisten gesucht, regelmäßig an aktuelle (politische) Debatten angeknüpft und versucht, diese ein Stück weit zu verschieben. Das gelingt manchmal sogar.

Politische Ökonomie der Medien oder: Wir wirken Medien ideologisch?

Noch zu Ihrer Forschung. Sie setzen sich unter anderem mit der Politischen Ökonomie der Medien auseinander. Was ist darunter zu verstehen?

Sebastian Sevignani: Die Politische Ökonomie der Medien, deren kritische Variante ich vor allem interessant finde, unterscheidet sich von beispielsweise der Medienökonomik und der Medienmanagementlehre, aber auch der Erforschung der politischen Kommunikation darin, dass hier politische und kulturelle Phänomene in ihrem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Basis und den dort produzierten Widersprüchen und Ungleichheiten untersucht werden.

Was heißt das?

Sebastian Sevignani: Ein typisches Beispiel wäre etwa die These, dass die Position, die jemand in der Sozialstruktur einnimmt (also arm, formal weniger gebildet oder reich und formal mehr gebildet ist) und der Weltanschauung, die er oder sie bewusst oder praktisch verfolgt, zusammenhängen.

Aber was heißt das konkret?

Sebastian Sevignani: In der Forschung können wir dann untersuchen, wie etwa ein ökonomisch prekäres Beschäftigungsverhältnis einer Journalistin oder eines Journalisten auch Auswirkungen auf die Medieninhalte hat, die diese produzieren. Aber auch, dass die Werbefinanzierung vieler Medien den gesellschaftlichen Diskurs beeinflusst und dies letztlich auch demokratische Prozesse schwächt.

Und diese kritische politische Ökonomie der Medien und der Kommunikation ist also jene Tradition, deren Zukunft im deutschsprachigen Raum derzeit besonders gefährdet ist?

Sebastian Sevignani: Ja.

Was rückt noch in den Fokus dieser Forschungstradition?

Sebastian Sevignani: Sie untersucht welche Rolle Medien, Kommunikation und das Internet in kapitalistischen Gesellschaften spielen, also wie Medien und Kommunikation als Waren zur privaten und ungleich verteilten Anhäufung von Wohlstand beitragen, wie Medien ideologisch "wirken", das heißt dabei helfen, Interessengegensätze zu verschleiern und falsche Bedürfnisse zu wecken. Aber auch, wie Medien und Kommunikationsmittel nicht kommerziell, etwa öffentlich-rechtlich oder als Gemeingüter organisiert werden (könnten) und alternative Inhalte verbreiten (könnten). Sie interessiert sich schließlich auch für den widersprüchlichen Prozess der psychischen und kulturellen Verarbeitung von Medieninhalten und der Faktoren, die diesen beeinflussen.

Also das ist doch ein hochaktueller Ansatz.

Sebastian Sevignani: Ja und zwar vor allem aus zwei Gründen. Die kritische politische Ökonomie der Medien und Kommunikation geht interdisziplinär vor. Sie bezieht Erkenntnisse der Ökonomie, Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie, der Psychologie und auch der Ethik mit ein. Dort, wo sie sich entwickeln konnte, wagt sie es, einzelne mediale Phänomene in ihrem gesellschaftlichen Ganzen zu thematisieren, stellt also wichtige Verbindungen her, wo andere sich mit der Analyse eines Phänomens begnügen.

Der zweite Grund ist, dass eine solche Theorie solange aktuell bleibt, wie kapitalistische Gesellschaften, zwar in veränderter Form, aber doch immer wieder grundlegende Ungleichheiten und Verhältnisse schaffen, die die Menschen letztlich nicht glücklich machen.

Nehmen Sie das aktuelle Beispiel der Diskussion um die Privatsphäre in Soziale Medien, wozu ich bisher geforscht habe. Ich gehe davon aus, dass Privatheit etwas ist, was vielen Leuten wichtig ist. Natürlich ist es ein Problem, wenn Arbeitgeber die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter ausspionieren und auch, wenn Jugendliche z.B. diskreditierende Bilder und Videos über Mitschüler dort verbreiten. Aus polit-ökonomischer Perspektive lässt sich aber auch zeigen, dass die Art und Weise, wie digitale Kommunikation und neue Medien organisiert sind, nämlich als kommerzielle und werbetreibende, die Privatsphäre der Menschen ganz grundsätzlich keinen guten Stand hat. Einfach deshalb, weil Facebook, Google und Co. auf immense Überwachung angewiesen sind, um die daraus gewonnenen Erkenntnisse über uns Nuzter auf dem Werbemarkt verkaufen zu können.

Q. So funktioniert das, was man als zielgerichtete oder "smarte" Werbung bezeichnet.

Sebastian Sevignani: Genau, allerdings wird, wenn man die polit-ökonomische Perspektive einnimmt, deutlich, dass ein simples Pochen auf mehr Privatsphäre nicht hilft. Denn darauf zu bestehen, dass es hier um meine Daten geht, die mir gehören und über die ich dementsprechend völlig autonom verfügen kann, ist ziemlich genau das Verständnis von der Privatsphäre, dass auch Facebook, Google und Co. in ihren Nutzungsbestimmungen anlegen. Sie sprechen uns genau als solche Privateigentümer unserer Daten an.

Wir stimmen massenhaft der Überwachung zu und haben eigentlich damit gar nicht unsere Privatsphäre verletzt, wenn diese darin besteht, dass wir über unsere Daten wie unser Eigentum verfügen können. Trotzdem haben wir ein ungutes Gefühl, wenn diese Internetgiganten alles über uns wissen und immer wieder mal mit staatlichen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. Das Problem ist, dass es keine wirklich guten Alternativen zu diesen großen kommerziellen Diensten gibt. Die Lektion, die man aus dieser Perspektive lernen kann, ist, dass wenn man wirklich die Privatsphäre nachhaltig schützen will, digitale Kommunikation und neue Medien anders organisiert werden müssten, zum Beispiel als öffentlich-rechtliche oder nach dem Vorbild Wikipedias.

Der Fall Holzer

Wenn wir über die Politische Ökonomie der Medien reden, sollte man auch den Namen anführen, den Sie vorhin schon erwähnt haben: Horst Holzer. Wer war er?

Sebastian Sevignani: Horst Holzer war ein Münchner Kommunikationssoziologie, der vor allem in Frankfurt am Main studiert hatte. Er ist heute von Interesse einmal, weil er es verstand, eine gesellschaftstheoretisch, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, fundierte Theorie der Kommunikation und der Medien zu formulieren und zugleich empirische Einzelforschung zu machen.

Er war aber auch als politische Person von Interesse.

Sebastian Sevignani: Holzer war Mitglied in der Deutschen Kommunistischen Partei. Diese politische Überzeugung, dass für eine Alternative zum Kapitalismus gestritten werden sollte, hat sicherlich auch sein Forschungsinteresse geprägt. Seine Arbeit wurde von Kollegen immer wieder als exzellent bewertet, er wurde insgesamt fünfmal auf eine Professur an verschiedenen Hochschulen berufen, die er dann aber nicht antreten konnte. Denn Anfang der 70er Jahren trat in der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) der sogenannte Radikalenerlass in Kraft, wonach eine aktive Verfassungstreue Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst wurde. Fiel diese negativ aus, konnte ein Berufsverbot erlassen werden.

Dies traf Holzer, trotz breiter Proteste und obwohl die DKP nicht verboten war, damit war er öffentlich diskreditiert. Holzer war dann bis zu seinem Tod im Jahr 2000 an der LMU als Privatdozent unter ziemlich prekären Bedingungen tätig (Besser nicht nach der Bildzeitung fragen).

Welchen Ansatz hat er vertreten?

Sebastian Sevignani: Von ihm kann man u.a. lernen, dass Medien und Kommunikation im Kapitalismus spezifische Funktionen erfüllen. Sie sind eine profitable Anlagesphäre, sie verbreiten ein allgemeines Konsumklima, damit immer mehr Produkte möglichst profitabel verkauft werden können, sie legitimieren die Herrschaft des Kapitalismus als einer Ideologie der grenzenlosen Verwertung möglichst aller Lebensbereiche und jener Akteure, die dadurch reich werden. Zudem spielen Medien und Kommunikation eine wichtige Rolle im Kapitalismus, weil sie der Herstellung, Erhaltung und Wiederherstellung von Arbeitskraft dienen, ohne die keine Profite erwirtschaftet werden können. Die Menschen nutzen Medien, um sich von den sie belastenden und oft auch unterdrückenden sozialen Verhältnissen eine Entlastung zu finden.

Halten Sie es für möglich, dass es auch heutzutage nochmal einen Fall Holzer geben könnte?

Sebastian Sevignani: Leider ja. Vor kurzem gab es einen Fall, der einen Mitgründer des Netzwerkes, Kerem Schamberger betraf. Dies erinnerte mich an den Umgang mit Holzer.

Auch in seinem Fall hat die bayrische Politik keine rühmlich Rolle gespielt. Schamberger sollte eine Dissertationsstelle an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) am Lehrstuhl von Michael Meyen bekommen, er ist ebenfalls in einer kommunistischen Partei aktiv und wurde ebenfalls als exzellenter Kandidat bewertet.

Der bayrische Verfassungsschutz empfahl nach einer Prüfung die Nicht-Einstellung, aber die Universitätsleitung setzte sich über diese Empfehlung hinweg, wohl auch, weil dieser Fall hohe öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat und Schamberger mit einer ehemaligen Bundesjustizministerin prominenten rechtlichen Beistand hatte. Hier ging es zwar anders aus als bei Holzer, es ging aber auch nicht um eine Professur und der Fall zeigt jedoch, dass es immer noch Gemeinsamkeiten zu der Zeit des "Radikalenerlass" gibt.

Mit der Forschung von Holzer und der Art und Weise, wie mit ihm von politischer Seite umgegangen wurde, wären wir auch wieder bei Ihrem Netzwerk. Denken Sie, dass es leichter sein kann, eine kritische Forschung zu betreiben, wenn viele Gleichgesinnte sich in einem Netzwerk zusammengeschlossen haben?

Sebastian Sevignani: Absolut! Bisher fanden zum Beispiel bereits Lesekreise zu einzelnen Texten statt und es wurde sich intensiv über "Klassiker der kritischen Kommunikationswissenschaft" ausgetauscht. Ich freue mich vor allem auf die Gründungstagung des Netzwerkes, welche am 30.11./1.12.17 in München stattfindet, um mich mit allen den Kollegen und Studierenden auszutauschen, von den ich vielleicht mal etwas gelesen habe, aber noch nie die Möglichkeit hatte, sie persönlich kennen zu lernen, und auch alle die, von denen ich gar nicht wusste, dass sie auch für eine kritische Kommunikationswissenschaft streiten wollen. Es geht uns mit diesem Netzwerk auch darum, den oft sehr starken Konkurrenzdruck, der in der Wissenschaft herrscht, nicht einfach mitzumachen, sondern zu überwinden.