In der britischen Regierung liegen die Nerven blank
Egal wie das Ergebnis des Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands lautet, Großbritannien wird nicht mehr derselbe Staat sein
Andrew Gimson ist ein überzeugtes Mitglied der britischen Konservativen Partei. Er ist Redakteur der in konservativen Kreisen einflussreichen Website Conservative Home. Derzeit ist er ein besorgter Mann, wie er in einem Blogeintrag. Auslöser der Besorgnis ist ein politischer Spaziergang in Glasgow, den er vor einigen Tagen unternahm. Gimson wollte die Stimmungslage in Schottland in den letzten Tagen vor dem Unabhängigkeitsreferendum erfahren. Sein Ergebnis: "Die 'Ja'-Kampagne wird mehr durch sozialistische als nationalistische Ideen motiviert."
Er beschreibt ein Zusammentreffen mit einem 47-jährigen arbeitslosen Gewerkschafter. Der ist 1997 aus der Labour Partei ausgetreten, als diese Studiengebühren einführte. Er wird für die Unabhängigkeit stimmen. Laut Gimson rechnet der Gewerkschafter mit den größten Erfolgen für das Unabhängigkeitslager in den ärmsten Gegenden Schottlands. "Das 'Ja'-Lager ist weit links von der Labour Partei und sammelt Stimmen von traditionellen Labour Wählern. Viele Menschen aus der schottischen Arbeiterklasse haben gemerkt, dass es keinen Weg zu sozialer Gerechtigkeit über Westminster gibt."
Am Donnerstag stimmt Schottland über die Unabhängigkeit ab. 97% aller Wahlberechtigten haben sich registriert. Darunter auch Erstwähler ab dem 16. Lebensjahr. Ein Ergebnis ist nicht vorhersagbar. Aber die Ereignisse der vergangenen Wochen und Tage werden die britischen Inseln für die kommenden Jahre prägen, egal wie das Referendum ausgeht.
In Schottlands Straßen, Pubs und Plätzen wird eine Debatte darüber geführt, in was für einem Land die Menschen leben wollen. Es ist die Erfahrung mit den Sparpaketen der vergangenen Jahre, die die Menschen in das Unabhängigkeitslager treibt. Plötzlich denken viele Menschen in Schottland darüber nach, dass es anders sein könnte als jetzt.
Dagegen operiert das unionistische Lager mit hauptsächlich negativen Botschaften. Und das trotz dem Kampagnenslogan "better together". Beschäftigte großer schottischer Konzerne berichten, dass sie von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt werden, mit Nein zu stimmen. Der BAE-Rüstungskonzern verschickte eine entsprechende Aufforderung mit dem jüngsten Gehaltszettel. Im Fall der Unabhängigkeit könne für die Arbeitsplätze in Schottland nicht mehr garantiert werden. Ähnliche Botschaften wurden auch an die Beschäftigten großer schottischer Baufirmen geschickt.
Das Unabhängigkeitslager wird oft mit der Scottish National Party gleichgesetzt. Doch in den letzten Tagen hat es sich zunehmend verselbstständigt. So demonstrierten am Dienstagabend Tausende in Glasgow spontan für die Unabhängigkeit. Ähnliche Kundgebungen gab es in vielen anderen Städten. Hier handelt es sich um keine professionellen Events. Oft gibt es noch nicht einmal eine Mikrofonanlage. Ein Zeichen für die Politisierung, die stattgefunden hat.
Bei der britischen Regierung liegen die Nerven blank. Premierminister Cameron hat nichts mehr zu sagen, außer dass er nicht für ewig an der Regierung bleiben werde und die Schotten doch bitte, bitte nicht aus purem Hass gegen die Konservativen für die Unabhängigkeit stimmen sollen.
Weil sich die Konservativen in Schottland nicht blicken lassen können (die Tories haben dort keinen Parlamentsabgeordneten und Camerons einzige Auftritte fanden vor ausgewähltem Publikum hinter verschlossenen Türen statt) wurde der ehemalige Labour-Parteivorsitzende und kurzzeitige britische Premierminister Gordon Brown in Marsch gesetzt.
Brown hat derzeit kein gewähltes politisches Amt inne, konnte aber trotzdem wenige Tage vor dem Referendum einen Fahrplan für eine Ausweitung der schottischen Autonomie präsentieren, sollte Schottland für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmen. Dieser Fahrplan wurde flugs von den Parteichefs der britischen Konservativen, Liberaldemokraten und der Labour-Partei unterschrieben und in der schottischen Tageszeitung "Daily Record" als Schwur veröffentlicht. Garniert wurde dies mit der Zusage, Schottland werde zukünftig selbst über die Finanzierung des schottischen Gesundheitssystems entscheiden dürfen.
Doch einen Tag vor dem Unabhängigkeitsreferendum steht die Umsetzbarkeit dieser Zusage in Frage. Eine Reihe von britischen konservativen Politikern hat angekündigt, solche Pläne im britischen Unterhaus blockieren zu wollen. Damit steht David Cameron innerparteilich mit dem Rücken zur Wand. Parteimitglieder fordern inzwischen öffentlich seinen Rücktritt. Die Unprofessionalität der "better together"-Kampagne wird immer schärfer aus den eigenen Reihen angegriffen. Die Financial Times spricht gar von einem Amateurverhalten verzweifelter Politiker, das einer Bananenrepublik würdig sei.
"Die Menschen haben es satt, sich von den Eliten in Westminster diktieren zu lassen"
Es war David Cameron, der ein "Ja/Nein"-Referendum forciert hat. Alex Salmond, der schottische "first minister" und Parteichef der nationalistischen SNP wollte die Option einer maximalen Autonomie auf dem Stimmzettel haben. Das wurde von Cameron blockiert. Er wollte so dem nationalistischen Lager eine klare Niederlage zufügen. Das ist jetzt für alle sichtbar gescheitert. Selbst wenn bei dem Referendum keine Mehrheit für die Unabhängigkeit herauskommt, hat das nationalistische Lager somit bereits einen Sieg errungen.
Bei dem Referendum geht es auch um Geopolitik. Die US-Regierung fürchtet die schottische Unabhängigkeit. Dort fragt man sich, wie es in diesem Fall mit dem NATO-Partner Großbritannien weitergeht. Man fürchtet sich auch vor den Folgewirkungen. Kommt nach dem Unabhängigkeitsreferendum ein Referendum zum EU-Austritt? Die USA wollen Großbritannien als atlantische Stimme in der EU erhalten. Das scheint nun gefährdet.
Sollte nach dem Referendum eine größere Autonomie für Schottland entstehen, wird das Fragen für die restlichen Nationen auf den britischen Inseln aufwerfen. So werden im englischen Landesteil die Stimmen für mehr Selbstverwaltung lauter. Es gibt eine zunehmende Debatte darüber, ob schottische Parlamentsabgeordnete zukünftig über englische Fragen abstimmen dürfen sollen.
Derweil sieht die Unabhängigkeitsbewegung das Momentum auf ihrer Seite. In einem Interview für die BBC erklärte der Linkspolitiker Tommy Sheridan, "die Medien erkennen nicht, was in den Arbeitervierteln und in den Dörfern derzeit stattfindet. Die Menschen haben es satt, sich von den Eliten in Westminster diktieren zu lassen."
In den vorhergehenden Wochen hatte Sheridan in vielen Städten in überfüllten Hallen gesprochen. Er prognostiziert selbstbewusst eine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit. Ob er damit Recht hat, wird man am Freitagvormittag wissen. Das amtliche Endergebnis soll am Morgen um sieben Uhr Ortszeit vorliegen. Egal wie das Ergebnis dann lautet, Großbritannien wird nicht mehr derselbe Staat sein. Wie der ehemalige Manchester United Manager Alex Ferguson oft zu sagen pflegte, wenn auf dem Spielfeld die Lage eng wurde: "It's squeaky bum time".