Indien: Es trifft weiter die kleinen Fische
Premierminister Modi ließ 88 Prozent des Bargeldes aus dem Verkehr ziehen, aber er hat sich verzockt, ein Aufstand ist trotzdem nicht zu erwarten
Am Bahnhof Sealdah in Kolkata stehen die Menschen in zwei langen Reihen Schlange. Aber nicht um Geld abzuheben, sondern um ein Ticket für einen der regionalen Züge zu erwerben. Auch hier fragt sich schon lange kein Inder mehr, warum bei 20 Millionen Regierungsangestellten die anderen 10 Schalter geschlossen sind: "Sehen Sie die drei", sagt ein Mitvierziger gelassen zu mir und zeigt dabei auf einen der geschlossen Schalter, wo drei ältere Herren in eine Unterhaltung vertieft sind, und fügt hinzu: "Das ist der Grund, warum wir immer noch ein Drittweltland sind".
Im hiesigen Bundesstaat Bengalen hat es über drei Wochen gedauert, bis die Banken mit neuen 500-Rupien-Noten beliefert wurden - und bis heute sind noch nicht alle Geldautomaten auf die Ausgabe der neuen Scheine umgestellt. Noch immer dürfen täglich nur 2000 Rupien abgehoben werden. Doch auch hier zeigt sich, dass einige etwas gleicher sind als der Rest: Wer mehrere Bankkonten besitzt, kann von jedem das Tageslimit abheben.
Wegen Mangel an Bargeld erleidet gerade das Kleingewerbe in Indien Umsatzeinbußen von bis zu 80% - nur etwa 10% der indischen Geschäfte verfügen über ein Kartenlesegerät. Kleinbauern klagen über große Probleme, sich aus Mangel an Bargeld mit Saatgut zu versorgen - der größte Teil der etwa 250 Millionen erwachsenen Inder ohne Bankkonto lebt auf dem Land. So läuft gerade ein Programm der bengalischen Regierung ins Leere, die den Bauern die Reisernte zu besseren Konditionen abkaufen wollte. Doch da die Regierung aus Mangel an Bargeld per Banküberweisung zahlt, verkaufen die Bauern den Reis zu einem geringeren Preis an private Händler, die bar zahlen.
600 Kilometer nördlich in der Teehochburg Darjeeling funktionierte am Tag meiner Ankunft neben den Geldautomaten der Staatsbank nur der einer privaten - und der gab lediglich 2000-Rupien-Noten aus. "Nicht nur, dass die Touristen kein Bargeld haben, um bei mir einzukaufen", sagt Teehändler Pakhrin: "Ich selbst habe Schwierigkeiten, meine Einkäufe auf dem Markt zu tätigen, weil es in der Stadt an 500- und 1000-Rupien-Noten fehlt." Auf dem Chowrastaplatz, dem Treffpunkt Darjeelings, ist der Geldautomat mittlerweile 24 Stunden am Tag geschlossen - hier soll Touristen anscheinend keine Warteschlange an den derzeitigen Schlamassel erinnern.
Zwar haben letzte Woche 100 kleine Fabrikbesitzer im Bundesstaat Punjab Modi demonstrativ ihre Schlüssel übergeben, da sie sich nicht mehr in der Lage sehen, ihre Betriebe aufrecht zu erhalten, aber ansonsten hält sich die Aufruhr gegen die Regierung in Grenzen. Die Zeiten, in denen die Kommunistische Partei Indiens oder die Kongresspartei mal eben ein paar hunderttausend Demonstranten heranpfeifen konnten, sind vorbei. Beide sind durch etliche Korruptionsskandale in Misskredit geraten.
Ein Geschäftsmann aus Kolkata deutet jedoch an, dass der wenige Unmut nicht weiterhin Zustimmung für Modi bedeutet: "Ja, auch mich hat die Geldumtauschaktion getroffen. Aber was unsere etablierten politischen Köpfe zu bieten haben, wissen wir. Modi hat es verdient, dass wir ihn mindestens bis zum Ende seiner Amtszeit zeigen lassen, was er zu bieten hat."
Modi hatte kurz nach seinem Coup verlauten lassen, dass die Bevölkerung nur 50 Tage Geduld haben müsse - doch schon jetzt ist sonnenklar, dass die Geldumtauschaktion dilettantisch geplant wurde. Hinter vorgehaltener Hand sprechen auch Regierungsangestellte schon von einem halben Jahr, bevor an der Bargeldfront Ruhe einkehrt.
Genauso offensichtlich ist mittlerweile, dass Modis angebliches Ziel der Maßnahme - dem Schwarzgeld habhaft zu werden - fehlgeschlagen ist. Das musste die Regierung auch auf Anfrage des obersten Gericht Indiens eingestehen. Dies hätte Modi jedoch vorher wissen können, denn Daten des Finanzministeriums aus den Jahren 2006 bis 2012, die aus Steuerrazzien resultieren, zeigen, dass Bargeld nur etwa 4-7 % des Schwarzgeldes in Indien ausmacht.
Dazu sprach Modi selbst von 250 Milliarden US-Dollar, die Inder auf Schweizer Bankkonten liegen haben. Wie er diese Milliarden mit der Rupientauschaktion zurück ins Land bekommen wollte, bleibt sein Geheimnis. Wahrscheinlich auch deshalb tut die Regierung mittlerweile so, als sei das eigentliche Ziel des Rupiencoups die Digitalisierung des Geldsektors gewesen.
Warum Indien auch schon vor Modi Fortschritte gemacht hat, zeigte mir nicht nur der Korruptionsindex (in dem man sich langsam von jenseits der 100 auf Platz 76 heruntergearbeitet hat), sondern auch meine Einreise von Bangladesch nach Indien letzte Woche: Während vier Beamte aus Bangladesch am abgelegenen Grenzübergang Bangla Banda eine knappe Stunde brauchten, um meine Daten in den Computer einzugeben, benötigte eine junge indische Beamtin nur ein paar "Wimpernschläge". Warum junge kompetente Beamte in Indien immer noch eine Minderheit sind, obwohl sich bis zu 10.000 junge Inder um eine ausgeschriebene Regierungsstelle bewerben, wäre eine Frage, dessen Beantwortung Indien wohl eher in die Zukunft führen könnte als Modis Rupiencoup, der weiterhin die kleinen Fische trifft.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.