Indien: Kleiner Mann - was nun?
Viele der einfachen Menschen Indiens haben vor vier Jahren große Hoffnungen in Narendra Modi gesetzt - der hat jetzt auch noch die Bankenkrise nach Indien geholt. Eine Lösung hat er auch dafür parat: Noch mehr Privatisierung. Unterstützt wird er dabei von der Weltbank.
Auch heute ist Amith schon zehn Stunden auf den Beinen, verkauft Tee für 10 Rupien und Kekse für zwei Rupien das Stück. Für seinen acht Quadratmeter großen Laden in einem bröckelnden Gebäude, 10 Minuten vom Bahnhof Neu-Delhi entfernt, zahlt er monatlich 18.000 Rupien (242 US Dollar) Miete - für den Vermieter ist das steuerfrei, denn auf dem Papier existiert Amiths Teebude nicht. Als ich ihn frage, wie teuer der Laden wäre, wenn er ihn kaufen würde, winkt der etwa 50-Jährige müde ab: "Mindestens 40 Lakh (54.000 US Dollar). In Delhi ist Platz nun mal Mangelware - und selbst einen Kilometer weiter vom Bahnhof entfernt, müsste ich immer noch 15-20 Lakh hinlegen." Die Frage nach einem Bankkredit stelle ich ihm gar nicht: Für den "kleinen" Mann haben die Banken wegen der aktuellen Krise sowieso kein Geld - und auch vorher schauten sie bei Menschen wie Amith 10 Mal hin.
Vier Stunden hat er heute noch vor sich - und am Ende des Monats reicht das Geld gerade so um seine Frau und seinen Sohn über die Runden zu bringen. Die schwarzen Flecken im Gesicht und die trüben Augen erzählen vom täglichen Überlebenskampf im Dauerlärm einer 20-Millionen-Einwohner-Metropole mit Feinstaubwerten bis zu 1000 Mikrogramm PM 2,5 pro Kubikmeter Luft.
In der Nähe des Kaschmir-Tores steht Ravish unter einer der Brücken, über die dauerhupende Autos im Dauerstau schleichen. Vor ihm auf einem Tischwagen liegen grellfarbige Polo-Shirts. "China?", frage ich, worauf er stolz antwortet: "Nein. Export-Qualität! Bangladesch!" Ein genauer Blick in die Innenseite der Shirts zeigt, dass er Recht hat. Da sind die Stempel, die anzeigen, dass es sich um die Überschussware eines westlichen Einkäufers handelt. Die Nähereien Bangladeschs produzieren 10 Prozent mehr, als es der Auftrag verlangt, damit fehlerhafte Stücke ausgetauscht werden können. In der Regel geht der Überschuss unter der Hand auf den Markt.
Immer wieder erzählt der schlaksige Ravish gerne in gutem Englisch aus der Zeit vor zehn Jahren, als er mit Träumen, viel Energie und zwei Lakh Rupien (200.000) aus dem Bundestaat Bihar nach Delhi kam. Es war die Zeit, als die Shopping-Center in Delhi aus der Erde sprossen - und er wollte in einem von ihnen einen Bekleidungsladen eröffnen: "Sechs Monate fragte ich in den Centern nach einem freien Laden, stellte mich vor das jeweilige Einkaufszentrum, zählte die Kunden und rechnete mir aus, ob die Ladenmiete es wert wäre. Doch sie war es nie.
Mit der Zeit stellte ich in Gesprächen mit den Ladenbesitzern fest, dass sie mit dem Verkauf der Waren nur versuchten, die laufenden Kosten zu decken. Dass eigentliche Ziel war der Verkauf des Ladens oder eine Untervermietung mit gutem Gewinn." So reichte es dann nur für ein kleines Geschäft am Rande von Süd-Delhi. Doch nach einem Jahr verstand Amith, warum die Miete so günstig war. Im Laufe der Säuberungen zu den Commonwealth-Spielen-2010 wurde das illegal gebaute Haus, in dem der Laden angesiedelt war, abgerissen.
Heute reicht die Energie von Ravish gerade noch so für den täglichen Überlebenskampf. Dank seiner schwarzgefärbten Haare sieht der ausgezehrte 35-Jährige noch aus wie 45. Zwei Kinder, eine Frau und die Mutter müssen ernährt werden - sein einziges Vergnügen deuten seine Paan (Betelpfefferblatt mit Betelnuss) zerfressenden Zähne an.
Im Jahr 2014 hat Premierminister Narendra Modi sein Amt mit dem Versprechen angetreten, Menschen wie Amith und Ravish auf die Beine zu helfen und die Korruption der Kongresspartei und ihrer Freunde aus den Eliten des Landes zu bekämpfen. Der erste große Coup Modis, die Abschaffung von 85 Prozent des Bargeldes über Nacht im November 2016, traf Ravish besonders hart: Fast zwei Monate hatte er nicht genug Geld, um Waren einzukaufen. Da bis heute 99,3 Prozent des Bargeldes umgetauscht wurden, stellte sich Modis angeblicher Schlag gegen die Korruption als Luftloch heraus. Modis dilettantisch geplante Einführung der Mehrwertsteuer betraf Ravish und Amith kaum. Das stetig steigende Wirtschaftswachstum Indiens schon gar nicht. Nun kommt noch die Bankenkrise dazu, für die Narendra Modi mindestens mitverantwortlich ist:
In den letzten drei Jahren unter Narendra Modi haben sich die NPA (non-performing assets) der indischen Banken verfünffacht - von 32 Milliarden US Dollar auf 150 Milliarden. Bei den NPAs handelt es sich um Kredite, die mehr als 90 Tage überfällig sind. Die Schuldner von 80 Prozent dieser Kredite sind indische Konzerne, wie die Modi-freundliche Reliance Industries.
So setzt die Regierung die Staatsbanken bei Krediten im Wert von 60 Milliarden unter Druck, die Schuldner nicht zu "belästigen". Dazu bekamen die Schuldner alleine zwischen März 2017 und März 2018 weitere Kredite im Wert von 32 Milliarden US-Dollar von der Regierung, um die alten zurückzuzahlen. Zeitgleich nahmen sich viele Bauern das Leben, weil ihnen die Banken Kredite verweigerten.
Als Lösung für die Bankenkrise präsentiert die Modi-Regierung die Privatisierung der Staatsbanken - die größte von ihnen, die Indische Staatsbank (SBI), soll ausgerechnet an einen der größten Kreditschuldner gehen: Reliance Industries. Mit 20 Milliarden ist der zweitgrößte Schuldner ebenfalls ein Freund des Premierministers: Die Reliance Group von Anil Dhirubhai Amban, Bruder von Mukesh Ambani (Reliance Industries).
Dabei waren es die indischen Staatsbanken die mit ihrem Sicherheitsnetz dafür gesorgt hatten, dass die Finanzkrise 2008 genauso spurlos an Indien vorbeiging wie die von 1997. Vor 21 Jahren traf die Finanzkrise Südkorea, Thailand, Malaysia, Indonesien, Singapur und die Philippinen, obwohl die Wirtschaften dieser Ländern derjenigen Indiens als überlegen galten. Auch im Jahr 2008 hatten die staatliche Banken wie die State Bank of India oder die Punjab National Bank so gut wie kaum in die Finanzblase investiert, sondern sich an den Kauf von sicheren Staatsanleihen gehalten - und an die Vergabe projektbezogener Kredite.
Doch seit Modis Amtsantritt vor vier Jahren lautet die Devise, den großen Wirtschafts-Playern keine Steine in den Weg zu legen - sprich: Nicht zu viele Fragen bei der Kreditvergabe zu stellen. So kam es, dass die Kreditgelder kaum in seriöse Geschäfte investiert wurden, sondern in den Aktien- und Immobilienmarkt. Beide Märkte begannen zu boomen. Dadurch wurden ausländische Investoren angelockt, wodurch die Blasen im Aktien- und Immobilienmarkt noch größer wurden.
Nun sind die Blasen geplatzt - die ausländischen Investoren haben sich mit ihren Gewinnmitnahmen zurückgezogen: "Und wieder erzählt uns Modi, dass die Verursacher der Krise die Lösungen sein sollen", sagt der Finanzexperte und Aktivist Sushovan, der aus seinen früheren Jahren in der Werbewirtschaft weiß, wie Unternehmen aus einem X ein U machen. So schlägt er vor: "Erstens sollen die Konzerne notfalls Teile ihrer Unternehmen verkaufen um die Schulden zurückzuzahlen. Zweitens sollte eine strikte Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken vorgenommen werden. Dazu soll endlich damit aufgehört werden, ständig die Schulden von privaten Unternehmen zu sozialisieren."
Auch die UN kam in ihrem dritten Klimabericht zu dem Schluss, dass es ein Umdenken beim jetzigen Wirtschaften geben muss. Doch gleichzeitig lobt die Weltbank Narendra Modi für seinen neoliberalen Wirtschaftsweg: In ihrer Rangliste, die die Unternehmerfreundlichkeit eines Landes bewertet, sprang Indien alleine zwischen 2017 und 2018 um 30 Ränge nach oben. Im gleichen Jahr stürzte Indien im Environmental Performance Index (EPI) von Platz 141 auf Rang 171 ab. "Obwohl die Umweltzerstörungen in Indien überall sichtbar sind und selbst die UN feststellte, dass es so nicht weitergehen kann, rät die Weltbank genau dieses Vorgehen ohne Rücksicht auf ein Morgen", sagt Herr Saktiman Ghosh, Leiter der Peoples Front gegen den Internationalern Währungsfond, der auch ein scharfer Kritiker der Aktivitäten der Weltbank in Indien ist, zu Telepolis. Dann empfiehlt er eine aktuelle Studie des Oakland Instituts, in der das neoliberale Zusammenspiel von Modi und Weltbank aufgezeigt wird.
Die Modi-Regierung und die Weltbank rechtfertigen ihr Handeln mit einem Wirtschaftswachstum in Indien, das über 8 Prozent liegt. Dazu dürften auch die 4,1 Milliarden US Dollar beigetragen haben, die die Menschen in Indien mittlerweile pro Jahr für Wasserfilter ausgeben - Tendenz steigend. Denn Wirtschaftswachstum in Schwellenländern wie Indien beruht auf Umweltzerstörungen und macht die Reichen immer reicher.
Amith und Ravish betrachten die Politik mittlerweile wieder wie vor 2014: als ein Spiel, das in einer entfernten Welt abläuft und bei dem es für sie vollkommen egal ist, wer es gewinnt. Die Energie, die beide noch haben, brauchen sie zum Überleben.