Indien: Von toxischem Blumenkohl zu BlackRock
- Indien: Von toxischem Blumenkohl zu BlackRock
- New Town: Kolkota, die Zukunft?
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Deutschland zuerst. Indien zuerst. Die USA zuerst. – Mehr denn je schieben sich nationale Interessen in den Vordergrund. Doch der Profit ist Internationalist. Er greift nach allem, was er kriegen kann und hinterlässt Wassermangel und verseuchte Erde.
"Kolkatas erste grüne Gerberei" steht auf einem Schild geschrieben. Ich klopfe an das Tor. Im ersten Stock erscheint ein Gesicht hinter dem vergitterten Fenster. "Klasse! Grün!", schreie ich hinauf und hebe dabei den Daumen, worauf ein Daumen zurückwinkt. "Kann ich reinkommen?" Ein Augenblicklang überlegt das Gesicht. Dann sagt es mürrisch: "No!" – und verschwindet.
Ich zucke mit den Schultern und beginne meinen Rundgang über den 450 Hektar großen Ledergerberei-Komplex von Bantala-Kolkata.
Parallel zu den zwei Kilometern langen Hauptwegen dümpelt das chromverseuchte Abwasser in Gräben vor sich hin. Doch oft versickert es schon in riesigen Pfützen direkt vor den Gerbereien. Das zum Ledergerben verwendete Chrom-III ist an sich ungiftig. Doch bei unsachgemäßer Handhabung wandelt es sich zu Chrom-VI, und das ist hochgiftig.
Der süß-saure Chemiegestank ist seit 2020 noch stärker geworden, auch das überrascht nicht: Neben, zwischen und hinter den alten 300 Gerbereien stehen neue und werden weitere gebaut: Nachdem die Regierung des Bundestaates Tamil Nadu seinen Gerbereien in Chennai stärkere Umweltauflagen gemacht hatte, haben die meisten Gerberei-Besitzer ihre Betriebe dicht gemacht.
Viele Gerbereien wurden auch zwangsweise von den Behörden geschlossen. So sind sie der Einladung der Chief-Ministerin von West-Bengalen, Mamata Banerjee, gefolgt, sich in Bantala anzusiedeln. Auch die Gerberei-Besitzer aus dem nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh siedelten sich hier an.
Drüben wurde ihnen das Leben von ihrem Chief-Minister, dem hinduistischen Priester Yogi Adityanath, aus religiösen Gründen schwer gemacht: Die meisten Gerbereien werden von Muslimen geführt, und viele ihrer Arbeiter sind Dalits, die sogenannten Unberührbaren (vgl. Indien: Religionspolitik als Umweltschutz.)
Der größte "Leder-Komplex" Asiens
So kann sich Mamata Banerjee jetzt regelmäßig selbst loben, dass unter ihrer Führung Bantala zum größten Leder-Komplex Asiens geworden ist. Sauber sei der sowieso. Doch das glauben ihr nicht mal ihre eigenen Behörden.
Im Juni 2022 drohte der West Bengal Pollution Control Board (WBPCB) erneut den Betreibern des Gerberei-Komplexes mit drastischen Maßnahmen, weil sie seit Jahren die Beschwerden und Auflagen der Behörde ignorieren. Natürlich ist bis heute nichts passiert.
Auch die Wände eines Warenhauses in Zone 5 sind immer noch schwarz verkohlt. Im Oktober 2022 hatten sich "ein paar" Chemikalien selbst entzündet und das Gebäude in Brand gesetzt. Zehn Arbeiter flüchteten sich aufs Dach. Mit selbstgemachten Bambusleitern wurden sie von ihren Kollegen gerettet.
Da die Feuerwehr des Leder-Komplexes überfordert war, brauchte es zusätzliche Löschfahrzeuge von außerhalb, wie mir zwei Arbeiter an einem Teestand vergnügt erzählen. Beide verdienen umgerechnet 110 Euro im Monat für mindestens neun Arbeitsstunden täglich. Überstunden werden selbstverständlich nicht bezahlt. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Im Geschäftsjahr 2021/22 gingen die meisten indischen Lederexporte in die Europäische Union. Haupteinkäufer in Europa ist Deutschland.
Anschließend geht es mit einem Rumpelbus zurück gen Osten, Richtung Kolkata. Südlich der Straße liegen die Feuchtgebiete der Metropole. Das 12.500 Hektar große Gebiet aus Tümpeln, Teichen und Wiesen wurde im Rahmen der 1971 geschlossenen Ramsar-Konvention über Feuchtgebiete im Jahr 2002 unter Schutz gestellt. Es ist auch ein wichtiger Grundwasserspeicher Kolkatas.
Die Feuchtgebiete
Doch schon der erste Blick verrät, dass Papier geduldig ist: Straßen wie der Basanti Highway und riesige Siedlungen fressen sich von allen Seiten in die "geschützten" Feuchtgebiete. Ich muss an den Weltnaturgipfel in Montreal denken: Gemäß Abschlusserklärung sollen 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt worden – bis 2030. Ich muss schmunzeln.
Knapp 30 Jahre machte Dr. Dhrubajyoti Ghosh auf die Zerstörungen der Feuchtgebiete in Kolkata aufmerksam und bot Lösungen an. Nichts passierte. Nach seinem Tod im Jahr 2018 übernahm Professor P. K. Sikdar vom Indian Institute of Social Welfare and Business Management (IISWBM) diese Aufgabe.
Seine Studien belegen, dass das Grundwasser in Kolkata rapide abnimmt. Eine andere zeigt, dass das Grundwasser Kolkatas mit bis zu 23 Milligramm Eisen pro Liter belastet ist. Der erlaubte Höchstwert beträgt ein Milligramm pro Liter.
Auch die Manganbelastung überschreitet die Grenzwerte bis um das Fünffache. "Die Grundwassersituation Kolkatas hat sich von schlimm zu katastrophal entwickelt", sagte Sikdar mir tags zuvor in seinem Büro.
An der Dhapa Road steige ich aus und folge ihr Richtung Nord-Osten.
Gemüsefelder soweit das Auge reicht, in denen bunt gekleidete Frauen singend am Hacken und Ernten sind. Vor mir auf dem Weg spielt ein Dutzend Kinder Kricket, lachend und johlend. Eigentlich liegt Ausgelassenheit in der Luft, doch ich setzte mir eine Maske auf. Ein langgezogener Berg im Hintergrund lässt keine Himalaya-Gefühle mehr aufkommen, sondern Brechreiz.
Die Dorfbewohner am Fuße des Berges werden wegen der giftigen Dämpfe, die vom Berge herabwehen, im Schnitt nicht älter als 50 Jahre.
Zwei mittelalte Männer stehen am Wegesrand. Einer von ihnen fragt mich, wo ich hin will: "Blumenkohl. Ich. Kaufen", lautet meine Antwort im "besten" Bengalisch. Die beiden grinsen und zeigen auf den Berg. Natürlich. Die Menschen hier sind nicht dumm. Dann sagt einer der Alten: "Feuerwehr". Ich nicke.
Der wachsende Berg
Der Berg vor uns ist die 24 Hektar große Müllhalde Kolkatas. Jeden Tag landen hier knapp 4.500 Tonnen Abfall. Doch die staatlichen Behörden kommen nicht mehr hinterher. Seit Jahren wächst der Müllberg.
Durch freigesetzte biologische Gase mit einem hohen Methananteil entzündet sich der Müll von selbst, die entstehenden Dämpfe sind hochgiftig. Mittlerweile muss die Feuerwehr fast täglich kommen, um die Brände zu löschen.
Während ich an der qualmenden Bergflanke entlangspaziere, wird sichtbar, dass noch ein weiteres Problem zugenommen hat: Das kupferfarbene Schwitzwasser des Müllbergs läuft über Dutzende Bäche in die anliegenden Felder.
Laut einer 2017 veröffentlichten Studie des staatlichen geologischen Dienstes wurden in Bodenprobenaus Dhapa bis zu 800 Milligramm Blei pro Kilogramm gemessen. 40 Prozent des Gemüses von Kolkata kommen aus Dhapa.
Im Gemüse der Metropole erwähnt die gleiche Studie bis zu 43 Milligramm pro Kilo. Der Grenzwert in Indien beträgt 2,5 Milligramm. Bei Hühnerfleisch wurden bis zu zehn Milligramm Blei gefunden. Bei Fisch waren es bis zu neun.
Vor acht Jahren hatte die bengalische Regierung vollmundig versprochen, aus dem Müll Dhapas umweltfreundlich Strom herzustellen – diese Pläne sind versickert wie das Chrom, Blei, Kadmium, Kupfer und Zink des Schwitzwassers.
Vor zwei Jahren haben die Verantwortlichen eine neue Ankündigung abgegeben: Bis 2025 werde der Müllberg in Dhapa verschwinden. Zwanzig Kilometer von Kolkata entfernt, in Joka, soll eine neue Müllhalde entstehen:
"Hier wissen die meisten Menschen noch nichts von ihrem Glück. Die Arbeiten auf der neuen Halde finden nur nachts statt," sagte mir ein französischer NGO-Arbeiter der in Joka eine Schule leitet.
An mindestens drei Orten mitten in der Stadt wachsen jedoch schon illegale Müllberge. Dazu schaffen es die Behörden nicht einmal, den Müll der 141 Kläranlagen Kolkatas unter Kontrolle zu bekommen.
So kokelte auch der Abfall in der Kläranlage der Gemeinde in Nord-Dum-Dum vor sich hin, die ich zwei Tage zuvor besucht hatte. "Weder Platz noch Geld für eine anständige Müllentsorgung. Aber günstige Grundstücke für die Leder-Gerbereien und die Immobilienbranche", kommentierte Dr. Sikdar.
Über dem rauchenden Müllberg in Dhapa ist ein Flugzeug zu sehen. Immerhin konnte es starten. Jeden Winter fallen wegen des Smogs in Kolkata Flüge aus oder starten verspätet.
400.000 Inderinnen und Inder fliegen mittlerweile täglich mit dem Flugzeug durch ihr Land. Doch weiterhin fahren täglich 23 Millionen Passagiere mit dem Zug durch Indien.
Auch deswegen stößt Indien pro Kopf und Jahr nur 1,6 Tonnen CO2-Emissionen aus. Trotz solcher Müllberge im Land. In China betragen die Emissionen pro Kopf knapp 7 Tonnen. Deutschland kommt auf 7,75 und die USA liegen bei 14,4 Tonnen.
An einem schwarzen Abwasserkanal entlang verlasse ich den Müllberg Richtung Osten. Noch vor 20 Jahren reinigten die Feuchtgebiete auf natürliche Weise die Abwässer Kolkatas in einem biologischen Prozess.
Dabei setzt sich der organische Abfall auf dem Grund ab, wo er dann von Bodenbakterien, Makroalgen und anderen Pflanzen zu Fischfutter zersetzt wird.