Indien in einer Situation wie die USA am 11. September

Ohne ein massives internationales Eingreifen wird es zwischen den Atommächten Indien und Pakistan zum vierten Krieg kommen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Unter psychologischen Gesichtspunkten betrachtet liegt der aktuellen Eskalation zwischen Indien und Pakistan der gekränkte Stolz der Machthaber in Neu-Delhi zugrunde. Nicht zu Unrecht. In einem atemberaubenden Tempo wurde der neben China und Russland dritten Ordnungsmacht auf dem asiatischen Kontinent in den vergangenen Wochen die politische Bedeutsamkeit von Washington aberkannt. In dessen "Kreuzzug gegen den Terrorismus" ist Pakistan als Anrainer des aktuellen Kriegszieles Afghanistan bedeutsamer.

LoC

Bei dieser neuen strategischen Allianz hat Washington indes nicht mit den höchst sensiblen politischen Empfindsamkeiten der betroffenen Regierungen gerechnet. In den vergangenen Wochen hielten sich die indischen Machthaber zwar zähneknirschend an die internationale Anti-Terror-Allianz unter Führung Washingtons, Proteste gegen die Hofierung des feindlich gesonnen Nachbarn wurden aber immer wieder laut.

Der Tropfen, der das Fass nun zum überlaufen brachte, war der Überfall islamischer Extremisten auf das indische Parlament in Neu-Delhi am 13. Dezember. Indien macht die pakistanische Regierung unter dem Militärmachthaber Pevrez Musharraf indirekt für den Angriff verantwortlich. Zahlreiche der militanten Gruppen agieren von pakistanischem Territorium aus. Geduldet wurde das bislang von Islamabad, weil ein gemeinsames Ziel besteht: der Anschluss Kaschmirs an Pakistan. Eine UN-Resolution, in der die Entscheidung über die Zukunft Kaschmirs allein der dortigen Bevölkerung zugesprochen wird, findet bei keinem der Beteiligten Beachtung.

"Falls es überhaupt zu einem Krieg kommen sollte, dann wird er mit einer solch starken Entschiedenheit geführt werden, dass es für einen künftigen Krieg mit Pakistan keine Notwendigkeit mehr geben wird. Und die Ergebnisse werden jedermann sichtbar sein." - Pramod Mahajan, Minister für Parlamentarische Angelegenheiten

In den letzten Dezembertagen nun spitzt sich die Lage in Kaschmir und an der dort gezogenen "Kontrolllinie" (LoC) fast stündlich zu. Zwar reagierte Musharraf auf die immer schärferen, noch aber verbalen Attacken des östlichen Nachbarn mit der Festnahme von einem Extremistenführer, befriedigt hat das die Regierung Indiens jedoch nicht. Premier Atal Bihari Vajpayee besteht auf weiteren Schritten Pakistans gegen islamische Extremisten, auch nachdem das Vermögen der Gruppen Lashkar-i-Taiba und Jaish-i-Mohammad eingefroren und das Gründungsmitglied der letzteren Gruppe, Maulana Masood Azhar, inhaftiert wurde.

Tatsächlich befindet sich Vajpayee in einer Situation, die mit der von US-Präsident George W. Bush nach dem 11. September vergleichbar ist. Schon am 1. Oktober dieses Jahres hatte die Jaish-i-Mohammad unter der Führung von Massud Azhar den Landtag von Srinagar mit einem Selbstmordkommando angegriffen. Dabei starben 38 Menschen. Der indische Außenminister hatte damals noch erklärt, den Zwischenfall unter Berücksichtigung des Krieges der USA in Afghanistan "nicht hochspielen". Diese Rücksicht kann Indien nun vor allem in Anbetracht der innenpolitischen Lage nicht weiter nehmen.

Ein pakistanisches Gesprächsangebot wurde wenige Tage vor dem Gipfeltreffen der "Südasiatischen Union für Regionale Zusammenarbeit" im nepalesischen Kathmandu ausgeschlagen. Allerdings hat Neu-Delhi angekündigt, den ansonsten für pakistanische Flugzeuge gesperrten Luftraum für Präsident Musharraf in der kommenden Woche zu öffnen, damit er mit Vajpayee am Rande des Gipfels zusammenkommen kann. Derweil fliehen Tausende Menschen aus den Grenzregionen. Der Flüchtlingsstrom hat sich verstärkt, nachdem der indische Präsident seine Landsleute am Samstag aufforderte, sich auf einen Krieg mit Pakistan vorzubereiten. Allein in der Region Jammu im indischen Teil Kaschmirs haben in den vergangenen Tagen 20.000 Menschen ihre Heime verlassen. Aus Furcht vor pakistanischen Luftangriffen haben indische Behörden im Rahmen der Kriegsvorbereitungen das Marmormausoleum Taj Mahal in der Stadt Agra mit Tarnnetzen verhüllt - eine äußerst konkrete Maßnahme.

Alte Feindschaft und die Rolle der USA

Die Feindschaft zwischen Indien und Pakistan ist, wie der Großteil der politischen Instabilität in der Region, auch eine Nachwehe kolonialer Willkürpolitik. Als der pakistanische Staat 1947 gegründet wurde, machte man sich im Westen die Sache einfach. Mit Lineal und Bleistift sollte eine Heimstatt für alle Muslime des indischen Subkontinentes geschaffen werden. Die Folge solcher Kreationen sind nicht nur die Grenzkonflikte zwischen Indien und Pakistan, zudem ist die Grenze zu Afghanistan heute mehr als instabil. Auch sind Phänomene wie die "Tribal Area" in der auf pakistanischem Boden rund 20 paschtunische Stämme von Islamabad unbehelligt herrschen, ein Nebenprodukt gedankenloser Grenzziehungen.

Doch waren die Beziehungen zwischen den beiden Staaten keineswegs von Anfang an derart gespannt. Unter dem ersten pakistanischen Präsidenten Muhammed Jinnah wurde in Pakistan das Konzept eines weltoffenen Islam verfolgt, in dem alle Religionen in friedlicher Koexistenz leben sollten. Der säkulare Charakter ging erst in den siebziger Jahren verloren, religiöse Werte fanden in der Gesetzgebung verstärkt Eingang.

"Ich denke, die Vermischung von einem Freiheitskampf und Terrorismus wird sehr stark gefördert." - Präsident Pervez Musharraf

An dieser Stelle kommen die traditionell starken Interessen der USA in der Region ins Spiel. Als 1979 Ayatollah Chomeinis schiitische Revolution aus dem Iran in Pakistan Fuß zu fassen drohte, wurde der Militärdiktator Zia ul-Haqq an die Macht gebracht und konnte fortan mit der massiven Unterstützung der USA rechnen. Das Konzept, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, ging zwar kurzfristig auf, doch war so der Grundstein für einen totalitären Islamismus in Pakistan gelegt, der die demokratischen Ansätze im Keim erstickte.

Die strategische Allianz der USA gegen die schiitische islamische Revolution Khomeinis stützte sich in erster Linie auf Saudi Arabien. In der Folge entstanden auch in Pakistan sunnitische, von den Saudis finanzierte Moscheen und Koranschulen (Madressen). Diese Koranschulen dienten bis vor wenigen Wochen als Rekrutierungsstationen für die nun aus der Macht gebombten Taliban.

Vieles spricht dafür, dass der Einfluss Musharrafs auf diese seither kontinuierlich geförderten islamistischen Strukturen nur begrenzt ist. Beobachter gehen davon aus, dass er den Gruppen in Kaschmir freie Hand lässt, um eine weitere Zuspitzung der innenpolitischen Konflikte nach dem Krieg in Afghanistan und der Allianz mit den USA zu vermeiden. Die Stärke der Extremisten im pakistanischen Staat lässt sich alleine schon daran messen, dass der Versuch, den Blasphemieparagraphen 295c abzuschaffen, mehrmals am Widerstand der Mullahs gescheitert ist.

Dazu kommt, dass der Einfluss der Gottesmänner in der Armee stark ist und die Militärs aus dem Konflikt mit Indien zudem ihre Existenzberechtigung sehen. Ein Krieg mit Indien wäre somit nicht nur weltanschaulich gerechtfertigt, er entspräche auch den vitalen Interessen der stärksten Säule des Staates Pakistan. Befürchtungen, dass solche Folgen einer vom Westen forcierten Interessenpolitik in letzter Folge zu einer atomaren Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan führen könnte, fußen nicht auf einer akuten Gefahr, sind aber auch nicht aus der Luft gegriffen. Ein "Hiroshima-Bewusstsein" wie in der westlichen Welt existiert bei den beiden Parteien in dieser Form nicht.

Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschaffenen regionalen Organisationen haben sich mehrfach unfähig erwiesen, weitreichendere Konflikte zu lösen. Weder die "Asiatisch-pazifische wirtschaftliche Zusammenarbeit" (APEC) noch das ASEAN-Regional-Forum (ARF) konnten der Asienkrise oder dem Konflikt in Ost-Timor etwas entgegensetzen. Auch im derzeitigen Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist von den Institutionen nichts zu hören. Wenn aber die Probleme vor Ort nicht gelöst werden können, steht die internationale Gemeinschaft in der Pflicht.

Die Folgen kurzfristiger Allianzen

Aus dem Pentagon wurde in den vergangenen Wochen mehrmals verlautet, dass man sich in der "langfristigen Kampagne gegen den Terror" auch auf "kurzfristige Allianzen" stützen werde. Die ersten Folgen dieser Politik lassen sich sowohl im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wie auch derzeit in Kaschmir beobachten. Sowohl Israel wie auch Indien nehmen für sich das Recht auf nationale Selbstverteidigung in Anspruch, erklären diesen Schritt als ihren Beitrag im Kampf gegen den Terrorismus und leiten daraus die Legitimation eines offenen Krieges ab. In beiden Fällen haben die USA, und das ist sicherheitsanalytisch zunächst wertfrei zu beobachten, ihre Allianz mit einem der beteiligten Akteure vor dem Hintergrund kurzfristiger Interessen gelockert.

"Indien hat das volle Recht, militärische Aktionen gegen die Terroristencamps an der Grenze durchzuführen, wie dies die USA nach den Anschlägen vom 11. September gegen Afghanistan gemacht haben. ... Wir können keinen doppelten Maßstab anwenden, so dass die USA Afghanistan angreifen dürfen, wenn die Situation dies erforderlich macht, und wir Zurückhaltung zeigen müssen." - Pramod Mahajan, Minister für Parlamentarische Angelegenheiten

Die erste Konsequenz war der Vormarsch israelischer Truppen auf palästinensisches Autonomiegebiet. Was der ehemalige Militär Ariel Sharon zunächst im Schatten des Krieges in Afghanistan praktizierte, wurde später mit dem Rückzug der USA aus ihren Verpflichtungen begründet. "Wir werden uns nicht opfern lassen", sagte Sharon zu Beginn der Militärkampagne, deren Ende mit dem Yassir Arrafats einhergehen könnte.

Im Fall des Konfliktes zwischen Indien und Pakistan zeigt sich ein ähnliches Muster. Nicht nur, dass Washington innerhalb weniger Tage seine alte Freundschaft mit Islamabad wiederbelebt hat, auch wurde China mit ins Boot genommen. In Anbetracht der Schwäche Russlands stehen China und Indien aber in unmittelbarem Wettstreit um die Ressourcen in Südost- und Zentralasien. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich die Allianzen Washingtons in Asien langfristig nicht ändern werden. Für einen Krieg reicht - das zeigt die aktuelle Situation zwischen Islamabad und Neu-Delhi - aber auch ein kurzfristige Eskalation.

Auch die historische Perspektive gibt zu denken. Während in Europa zur Zeit des Kalten Krieges eine militärische Pattsituation den Ausbruch militärischer Konflikte verhinderte, sah das im asiatischen Raum anders aus. Auch daran waren die USA nicht unbeteiligt, denn die einzigen beiden von Washington in dieser Epoche gefochtenen Kriege wurden in Vietnam und Korea geführt. Auch der derzeitige Feld- beziehungsweise Kreuzzug in Afghanistan wird keineswegs eine friedliche Region hinterlassen. Der Kampf um die Ressourcen dürfte sich noch lange hinziehen.