Inflation und Wertverlust der Bildungsabschlüsse
Die erneut in die Kritik geratene Bologna-Reform hat einen schon länger laufenden Prozess nur verstärkt
Zum 10jährigen Bestehen der Bachelor-Master-Ausbildung an den europäischen Hochschulen wurde allenthalben beklagt, dass die Ziele der Bologna-Reform nicht erreicht worden seien. Aber das trifft gar nicht den Kern der Entwicklung – in Wahrheit ist die nunmehr überall implementierte neue Universitätsausbildung nur der vorläufige Schlusspunkt einer Entwicklung, die vor Jahrzehnten schon begonnen hat.
Die Magister- und Diplomausbildung an den deutschen Universitäten und Hochschulen zielte bis vor ein paar Jahrzehnten darauf ab, Führungskräfte für Unternehmen und Verwaltungen heranzubilden. "Heiße Magister, heiße Doktor gar…" lässt Goethe seinen Faust im Eingangsmonolog sagen. Das zeigt, dass zu Goethes Zeiten noch der Magister etwas ganz Besonderes war, der "Doktor gar" war die Krönung der beruflichen Karriere schlechthin.
Das war so bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dann begann die Zeit, in der möglichst viele Kinder Abitur machen und studieren sollten. Hier soll gar nicht in die nun schon alte Leier vom Verfall des Niveaus an Gymnasien eingestimmt werden, der damit angeblich einherging. Jedenfalls ist klar, dass mit der Erhöhung des Anteils an Abiturienten in jedem Jahr eine Entwertung des Abschlusses einhergeht.
Und das setzt sich fort: Letztlich entspricht ein Abitur heute in etwa dem, was vor Jahrzehnten ein Realschulabschluss war, der Bachelor heute hat ungefähr den Wert eines Fachabiturs oder einer Facharbeiterausbildung, der heutige Master ist so wertvoll wie der Meister, den ein Facharbeiter nach der Berufausbildung ablegt, oder vielleicht eine Kombination aus Abitur und hochwertiger Berufsausbildung.
Was wir erlebt haben ist also nichts weiter als eine Inflationsrunde in den Berufsausbildungs-Abschlüssen. Wer da ankommen will, wo man im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts mit einem Diplom oder einem Magister stand, der muss dann eben promovieren, und die Graduierten-Kollegs stehen als moderne Form der Universitätsausbildung für die Elite der Zukunft bereit. Jede Inflation ist mit einer Entwertung der ausgeteilten Papiere (sei es Geld oder seien es Abschlusszeugnisse) einher. Wovon es zu viel gibt, das sinkt im Wert.
Tatsächlich sind ja in der heutigen Berufswelt, in den großen Dienstleistungskonzernen, den Banken und Versicherungen, genauso wie in den mittelständischen Serviceunternehmen wie Software- und Beratungshäusern, die Universitätsabsolventen längst nicht mehr die Führungselite, sie sind die Arbeiter der Dienstleistungsindustrie. Deshalb ist die Inflation der Abschlüsse auch nicht zu beklagen, sie ist eine selbstverständliche und richtige Begleiterscheinung der Veränderung der Arbeitswelt. Ein Problem können damit eigentlich nur Leute haben, die meinen, ein Magister müsse zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch den gleichen Status haben wie zu Zeiten des alten Goethe.
Deshalb ist auch die oft beklagte "Verschulung der Universitäten" keine Katastrophe, sondern eine Selbstverständlichkeit, und Professoren sind keine Halbgötter mehr, sie sind (auch hier gab es ja eine zahlenmäßige Inflation, einhergehend mit einem entsprechenden Wertverlust) die Berufsschullehrer des 21. Jahrhunderts. Die Hochschulen und Universitäten sind nicht mehr die elitären Orte der Forschung und der Wissenschaft, auch wenn sie mancher gern weiterhin so sähe – sie sind Berufsausbildungsschulen.
Zwei Fragen bleiben bestehen: Erstens: Wo werden in Zukunft die Führungskräfte für Wirtschaft und Verwaltung ausgebildet? Graduierten-Kollegs könnten zu einer Antwort auf diese Frage werden, wenn die Universitäten diese entsprechend konzipieren und sich darauf konzentrieren, an diesen Stellen die Traditionen der Universitäten, in modernisierter Form, zu erhalten.
Zweitens: Betrifft die Entwertung der Berufsabschlüsse auch diejenigen, die ihr Diplom oder ihren Magister vor 20 oder 30 Jahren erworben haben? Sicherlich können sie einiges durch ihre Erfahrung ausgleichen, wenn es um Status und Positionen in Unternehmen geht. Aber die Inflation trifft auch sie – sie sind Facharbeiter, wenn auch mit Lebenserfahrung und guten Verbindungen. Wer der allgemeinen Entwertung der Abschlüsse realistisch gegenübersteht, denkt über ein modernes Zweitstudium nach, oder über eine Promotion neben der Arbeit. An Werterhaltungsmaßnahmen kommt keiner vorbei, der angesichts von Inflation und Wertverfall den aktuellen Status erhalten will.