Instabile Grenzkorrektur
In Mali haben Tuareg einen eigenen Staat ausgerufen - die Chancen, dass er Bestand hat, stehen allerdings schlecht
Die Tuareg sind ein Berbervolk, das in der Zentral- und Südsahara lebt. Sie wirtschaften zum großen Teil auch heute noch nach sehr traditionellen Vorstellungen als nomadische Viehzüchter. Nach dem Ende der französischen Kolonialzeit wurde das Gebiet, in dem die Tuareg umherziehen, zwischen fünf Staaten aufgeteilt: Algerien, Libyen, dem Niger, Mali und Obervolta, dem späteren Burkina Faso. Seit den 1960er Jahren gab es immer wieder militärische Bestrebungen, Gebiete der Kontrolle dieser Staaten zu entziehen. Nun waren Tuareg-Rebellen in Mali so erfolgreich, dass sie nicht nur einen beträchtlichen Teil des Landes kontrollieren. Am Karfreitag riefen sie einen eigenen Tuareg-Staat aus: Azawad.
Die "Mouvement national de libération de l’Azawad" (MNLA) scheint zum großen Teil aus schwer bewaffneten Tuareg zu bestehen, die vorher in Diensten Gaddafis standen und sich nach dem Sturz des libyschen Diktators im letzten Herbst unter der Führung des in Mali geborenen Mohamed Ag Najem auf den Weg nach Süden machten und dabei immer mehr Land unter ihre Kontrolle brachten. Weil sich der malische Präsidenten Amadou Toumani Touré als unfähig erwies, die MNLA zu vertreiben, putschten ihn Armeeangehörige unter Führung des Hauptmanns Amadou Sanogo am 21. März aus dem Amt. Allerdings erreichten sie damit militärisch genau das Gegenteil dessen, was sie wollten: Am 30. März fiel Kidal, am 31. März Gao und am 1. April Timbuktu.
Dass die Regierungen Malis und der benachbarten Staaten diese Staatsgründung hinnehmen werden, ist aus mehrerlei Gründen unwahrscheinlich: Zum einen ist das von den Tuareg eroberte Gebiet so groß, dass er deutlich über die Sprachgrenze hinausgeht. Vor allem in den Städten leben andere Volksgruppen als Tuareg. In der zur Kapitale erklärten 86.000-Einwohner-Stadt Gao und in Timbuktu stellen Songhai die Mehrheit. Die Tuareg leben dort ebenso wie Bozo, Fulbe, Mandingo, Araber und Bambara in eigenen Vierteln. Lediglich im gut 25.000 Bürger zählende Schmuggel- und Schleuserzentrum Kidal und im bereits am 24. Januar eroberten Wüstennest Adjelhoc gab das Berbervolk auch vor der Eroberung den Ton an.
Das Verhältnis der Tuareg zu den anderen Volksgruppen ist alles andere als konfliktfrei: Die erste Rebellion der "blauen Reiter" brach 1906 aus, nachdem die französische Kolonialverwaltung ihre afrikanischen Sklaven befreite und auch heute noch sehen viele der selbst in einem Feudalsystem gefangenen Nomaden und Nomadenabkömmlinge auf die dunkelhäutigeren "Iklan" herab. Bei der Einnahme von Adjelhoc sollen Tuareg nicht nur gefangene Soldaten, sondern auch Angehörigen anderer Volksgruppen hingerichtet haben. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang von 80 bis 100 Toten die Rede. Außerdem flüchteten dem Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) zufolge 30.000 Menschen in die südlichen Landesteile. Weitere 34.000 sollen in den Nachbarländern Aufnahme gefunden haben.
Zum zweiten spricht wenig dafür, dass die Tuareg wie verlautbart tatsächlich keine Gebietsansprüche an die Nachbarn haben. Wahrscheinlicher ist, dass sie Azawad als Rückzugs- und Versorgungsgebiet für Tuareg-Rebellen in den anderen Staaten betrachten, das aber nicht offen sagen. Vor allem der Niger dürfte diese Möglichkeit fürchten: Dort führten Tuareg bereits in der ersten Hälfte der 1990er und 2007 Kriege um ein Gebiet, das wirtschaftlich und geostrategisch nicht ganz uninteressant ist, weil dort Uran abgebaut wird.
Zum dritten wird den Tuareg vorgeworfen, sich mit der arabischen Organisation al-Qaïda au Maghreb islamique (AQMI) eingelassen zu haben. Allerdings gibt es dazu extrem unterschiedliche Berichte, die von scharfen Dementis einer Zusammenarbeit bis hin zu einer gemeinsamen Machtausübung in Timbuktu reichen, wo man angeblich Scharia-Recht einführte und westliche Musik verbot. Gut möglich scheint, dass die Salafistengruppe mit Wurzeln in Algerien, die sich bis vor kurzem noch militärische Auseinandersetzungen mit Tuareg-Kriegern lieferte, jetzt den Nordwesten Malis beherrscht, wo keine Tuareg umherschweifen, sondern Araber, von denen es viele seit der Entstehung des Vielvölkerstaates mit den Linealgrenzen als schwere Demütigung empfanden, nominell von einer schwarzafrikanischen Regierung und Verwaltung beherrscht zu werden.
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