Inszenierte Offenheit: Der Spiegel im Dialog mit seinen Lesern

Seite 2: Schwierigkeiten mit dem Dialog

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Meine Fragen allerdings, die ich Brinkbäumer am nächsten Tag sandte, blieben sämtlich unbeantwortet. Auch eine höfliche Nachfrage nach einer Woche wurde ignoriert. Erst nachdem ich bei einer dritten E-Mail an ihn sämtliche Mitglieder der Chefredaktion offen in Kopie gesetzt hatte, erhielt ich - nun allerdings sehr schnell, binnen weniger Stunden - Antworten auf meine Fragen, die ich im Folgenden wiedergebe:

Frage 1: Wie viele Leser nahmen an der Konferenz teil und auf welche Weise wurden die Teilnehmer ausgewählt?

Brinkbäumer: Es haben 150 Leserinnen und Leser teilgenommen. Wir haben jene, die sich zu dem Text "Die Wut der klugen Köpfe" geäußert hatten, eingeladen, die freien Plätze wurden nach Eingang der Rückmeldungen besetzt.

Frage 2: Die Veranstaltung stand unter dem Motto, man wolle "zuhören", um die Anliegen der Leser besser zu "verstehen". Allerdings: Die auch gestern wieder geäußerten Kritikpunkte vieler Leser erreichen die Redaktion in Form von tausenden Leserbriefen und Kommentaren nun schon seit mindestens 4 Jahren, jedenfalls massiv seit Ausbruch der Ukraine-Krise, wie mir Matthias Streitz aus der Chefredaktion auf Nachfrage im vergangenen Jahr bestätigte. Die Kritikpunkte sind lange bekannt.

Bereits 2015 fand ein ähnliches Treffen mit Lesern beim Spiegel statt. Der Tenor war damals der Gleiche wie auch nun wieder (Telepolis berichtete). Meine Frage: Welchen konkreten neuen Erkenntnisgewinn erhoffen Sie sich also? Zugespitzt formuliert: Wenn Sie als Redaktion die Kritik bis heute tatsächlich nicht "verstanden" haben sollten, dann darf man an Ihrer Intelligenz zweifeln, was mir wenig schlüssig erscheint. In sich logisch und stimmig erscheint die Leserkonferenz daher eher als "Goodwill"-Maßnahme, um kritische Leser zu besänftigen. Ihr Kommentar?

Brinkbäumer: Der SPIEGEL hat sich verändert, und die Kritik verändert sich. Kommunikation ist selten statisch.

Frage 3: Frau Hülsen sagte mir, man habe gezielt keine Presse eingeladen, um den Lesern für Ihre Kritik einen "geschützten Raum" zu geben. Nun haben meines Wissens allerdings sämtliche eingeladenen Leser ihre Kritik bereits in Form ggf. zu veröffentlichender Leserbriefe geäußert, beanspruchen also gerade keinen "geschützten Raum", sondern ganz im Gegenteil eine größtmögliche Öffentlichkeit. Die Begründung für einen Ausschluss der Presse erscheint wiederum nicht logisch und stimmig. Ihr Kommentar?

Brinkbäumer: Es gibt einen Unterschied zwischen offener und öffentlicher Kommunikation. Es ging uns nicht um einen "Ausschluss" der Presse, sondern darum, offen diskutieren zu können.

Frage 4: Ihre Redakteurin Frau Amann meinte in dem Workshop, an dem ich teilnahm, nachdem ein Leser das Stichwort "Atlantikbrücke" nannte, deren Einfluss werde "überschätzt". Teilen Sie, allgemeiner formuliert, die Ansicht, dass der Einfluss transatlantischer Denkfabriken auf die Berichterstattung in Deutschland überschätzt wird?

Brinkbäumer: Nein, diese Ansicht teile ich nicht.

Frage 5: Ich habe erfahren, dass der damalige Kulturressortleiter Lothar Gorris vor einiger Zeit ein Spiegel-Gespräch zwischen Ihnen und Dr. Uwe Krüger, Medienwissenschaftler von der Uni Leipzig, bekannt u. a. für seine Dissertation zum Einfluss transatlantischer Netzwerke auf die Medien, organisieren wollte. Sie hätten, so meine Information, dieses SPIEGEL-Gespräch dann aber abgesagt. Meine Frage: Stimmt das? Wenn ja, warum haben Sie abgesagt?

Brinkbäumer: Nein, das stimmt nicht.

Frage 6: Allgemeiner gefragt: Weshalb bekommen renommierte Medienkritiker und Intellektuelle aus dem eher linken Spektrum, wie der erwähnte Uwe Krüger oder auch Prof. Ulrich Teusch, Prof. Rainer Mausfeld, Daniela Dahn etc. nun schon seit Jahren keine Möglichkeit, Ihre Position - die nach meinem Eindruck von einer großen Zahl kritischer Leser geteilt wird - im Blatt zu äußern, etwa in Form eines Interviews oder Gastessays? Gibt es da einen bestimmten Grund oder ist das Ausblenden dieser Positionen aus Ihrer Sicht als Zufall oder unbeabsichtigt zu werten?

Brinkbäumer: Da gibt es keinen bestimmten Grund, und ich kann aber auch ein Ausblenden, wie Sie es nennen, nicht erkennen.

Frage 7: In Ihrem Resümee am Ende der Konferenz meinten Sie gestern zum Stichwort "Nähe zu den Mächtigen", es widerspreche keineswegs einer kritischen Distanz beim Schreiben, wenn man mit Politikern eine "warme Gesprächsatmosphäre herstellt". Meine Frage dazu (keineswegs rhetorisch gemeint): Mit welchen russischen oder syrischen Regierungspolitikern unterhält der Spiegel eine "warme Gesprächsatmosphäre"? Mit anderen Worten: Ist die Nähe und "Wärme" nicht sehr einseitig auf NATO-nahe Positionen beschränkt?

Brinkbäumer: Nein, natürlich nicht, aber über Informanten oder Kontakte kann ich keine Auskunft geben.

Frage 8: Sie schilderten gestern eine persönliche Episode: Bei einer Reportage über einen afrikanischen Flüchtling, den sie eine Zeit lang eng begleiteten, hätte dieser Ihnen irgendwann anvertraut, eigentlich aus einem anderen Land zu kommen, als er den Behörden gesagt hatte. Sie lüfteten dieses Geheimnis in Ihrem Artikel, was der Mann dann als Vertrauensbruch und Verrat empfunden habe. Sie nannten das als Beispiel dafür, dass Nähe bei der Recherche einer kritischen Distanz beim Schreiben nicht widerspräche. Meine Frage: Wann haben Sie zuletzt nicht einen machtlosen Flüchtling, sondern einen mächtigen NATO-affinen Politiker oder Wirtschaftsführer in Ihrer Berichterstattung mit derart professioneller Kühle "bloßgestellt", nachdem dieser Ihnen vertrauliche Informationen gegeben hatte?

Brinkbäumer: Das Ziel besteht nicht im Bloßstellen, sondern im sauberen Arbeiten. Zum journalistischen Handwerk gehört Nähe bei der Recherche und Kühle beim Schreiben - das war gemeint. 


Besonders interessant ist Brinkbäumers Dementi bei Frage 5. Tatsächlich hatte es im Frühjahr 2016 eine entsprechende Anfrage (die E-Mail liegt mir vor) des Spiegel an Uwe Krüger für ein Streitgespräch gegeben - das dann nie zustande kam. Brinkbäumer will oder kann sich daran nun offenbar nicht mehr erinnern. Auf Nachfrage zu diesem Punkt schweigt er. Die sich aufdrängende Vermutung: Der Spiegel-Chef scheute die offene Auseinandersetzung mit einem profilierten Kritiker. Seine Assistentin teilte mir nach mehreren Nachfragen schließlich am 15. Juni mit: "Ich soll Ihnen von Herrn Brinkbäumer ausrichten, dass er Ihre Fragen alle beantwortet hat." So viel zu Dialog und Offenheit - beziehungsweise deren Inszenierung.

Was den "geschützten Raum für die Leser angeht", veröffentlichte Brinkbäumer selbst nach einer Woche im Spiegel einen zweiseitigen Bericht zur Konferenz, garniert mit vielen Fotos und Zitaten der Teilnehmer. Es ging offenbar nicht so sehr um einen Schutz der Leser, sondern um einen Schutz der Deutungshoheit des Spiegel, für die ein plötzlich auftauchender kritischer Journalist natürlich ein Problem darstellt. In seinem Bericht zur Veranstaltung meinte der Chefredakteur in weisen Worten:

"Kommunikation besteht aus Senden und Empfangen, und wenn sie gelingt, dann formulieren die Absender durchdacht und klar, und die Empfänger sind aufmerksam und hören oder lesen das, was der Absender meint. (…) Zu Leserkonferenzen werden wir weiterhin einladen, regelmäßig, und nicht nur in Hamburg und Berlin. Auch dies gehört zu geglückter Kommunikation: Irgendwann muss sie halt irgendwo beginnen."

Wie wahr. Nur wann? Und wo? Und vor allem: Mit welchem Resultat? Denn die auf der Konferenz (und auch schon in den Jahren zuvor immer wieder) vorgebrachten Kritikpunkte haben offenbar keinerlei Einfluss auf die Blattlinie. Man hält an den etablierten Feindbildern fest - Putin, Russland, Trump, "die Populisten" - und belehrt seine Leser in "bewährter" Manier über Gut und Böse.

Auf dem Cover der Ausgabe, die eine Woche nach der Leserkonferenz erschien, prangten die Worte: "Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit". Offenbar hatte das Volk in Italien "falsch" gewählt. Diskussion, offene Debatte, widerstreitende Argumente? Fehlanzeige. Im Hamburger Spiegel-Haus weiß man, was gut ist "für alle" - gern auch für Menschen in anderen Ländern. Dass dieser Einheitsbrei immer weniger Lesern schmeckt - daran dürften auch weitere Konferenzen voller Symbolik und warmer Worte wenig ändern.

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