Integrationswillig oder nicht?
Diese Frage wird in Österreich mehr und mehr eine Frage des Religionsbekenntnisses. Das beweisen der Fall Arigona, die Bleiberechts-Debatte und die Situation der Muslime in Österreich
Was eine Abschiebung bedeutet, darüber ist die österreichische Nation dank der 15-Jährigen Arigona seit drei Wochen im Bilde. Fotos von Arigona, den abgeschobenen Familienmitgliedern und Berichte über die Abschiebung bestimmen noch immer die Schlagzeilen.
Im oberösterreichischen Frankenburg hat sich am 26. September Folgendes zugetragen: Polizisten fuhren beim Haus der Zogajs vor, klingelten und ersuchten die Familie, in den nächsten dreißig Minuten das Notwendigste zu packen. Mehr Zeit hatten sie nicht. Dann folgte der Abtransport. Familie Zogaj musste zurück in den Kosovo, aus dem man fünf Jahre zuvor geflüchtet war – außer Arigona und ihrer Mutter. Da Arigona nirgends auffindbar war, sollte die Mutter bis 1. Oktober in Österreich bleiben, um nach ihrer Tochter suchen zu können.
Womit an jenem Tag niemand gerechnet hat, war der Kampf, den Arigona nun beginnen würde. Sie hielt sich versteckt und teilte Innenminister Platter per Videobotschaft mit, dass sie lieber sterben würde. als in den Kosovo zurückzukehren. Damit löste sie nicht nur eine politische Debatte um das Bleiberecht aus. Am 9. Oktober gingen in Wien zehntausend Menschen auf die Straße, um für das Bleiberecht zu demonstrieren. Das Schicksal Arigonas und ihrer Familie berührte. Auf der Demo wurde eine Wiedervereinigung der Familie Zogaj auf österreichischem Boden und ein Bleiberecht für „integrierte Ausländer“ gefordert – in diesem Punkt machte sich vor allem Alexander von der Bellen von den Grünen stark.
Integration als Gretchen-Frage
Die Frage, was eine „integrierte Ausländerin“ ist, wird im Moment nicht gestellt, da Arigona das Ideal „integrierten Ausländertums“ verkörpert. Arigona sieht aus wie ein österreichisches Mädchen, spricht wie ein österreichisches Mädchen, besuchte bis vor kurzem die Schule wie ein österreichisches Mädchen. Diese Frage würde auch viel zu viel weitere Fragen implizieren: Ist jemand integriert, wenn er Arbeit hat? Wenn er österreichische Freunde hat? Wenn er Deutsch spricht – und wie gut müssen die Deutschkenntnisse sein? Darf eine integrierte Frau ein Kopftuch tragen? Darf eine „integrierte Ausländerin“ eine nicht-christliche Religion sichtbar machen, fasten, nach dem Ramadan Bayram feiern – das Zuckerfest, das letzten Sonntag zu Ende gegangen ist?
Integration und Nicht-Integration werden mehr und mehr zur Religionsfrage, im Zentrum stehen natürlich besonders Angehörige der islamischen Glaubensgemeinschaft. Jedes Sichtbarwerden ihrer Religion sorgt für Diskussion und Vorwürfe mangelnder Integration. Das Kopftuch erregt den Volkszorn genauso wie von Muslimen initiierte Bauvorhaben, die in der Öffentlichkeit bekannt werden.
Demo gegen Bauvorhaben in der Brigittenau
Seit 1997 betreibt die Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit (ATIB) einen Versammlungssaal in der Dammstraße im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk Brigittenau. Der Hof dieses Gebäudes soll nun abgedeckt und ein Trakt aufgestockt werden. Neben Wohnungen ist dort unter anderem auch eine Kinderbetreuungseinrichtung geplant.
Das Bekanntwerden dieser Pläne rief im Sommer eine Bürgerinitiative ins Leben, die von der FPÖ und teilweise auch der ÖVP unterstützt wurde. Obwohl man nicht müde wurde zu betonen, dass die betroffenen Anrainer in erster Linie den Lärmzuwachs und den Verlust der ohnedies knappen Parkplätze fürchten und nichts gegen Andersgläubige, schon gar nicht Muslime hätten, bot die im September stattgefundene Demonstration gegen den Ausbau des islamischen Zentrums ein anderes Bild. 700 Menschen waren gekommen und brüllten Parolen wie „Ka Moschee wär schee“, „Moschee, ade“ oder „anzünden“. Mittendrin natürlich FPÖ-Führer Heinz-Christian Strache.
Auch der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider wollte die aufgeheizte Stimmung für sich nutzen und versprach im Rahmen der Diskussion um das Brigittenauer Bauvorhaben, sich für ein Bauverbot für Moscheen und Minarette in Kärnten einzusetzen. Überhaupt würde er sich so eine Regelung für ganz Österreich wünschen – er wolle keine „radikal-islamistischen Tendenzen wie in Köln, Wien oder Telfs“.
Das Minarett in Telfs
Da Haider die im Tiroler Oberland gelegene Marktgemeinde in einem Atemzug mit Köln oder Wien nannte, sollen die „radikal-islamistischen Tendenzen“ in Telfs im Folgenden näher beleuchtet werden.
Vorauszuschicken ist, dass es in Österreich derzeit 105 Gebetsräume und Moscheen gibt. Ein Großteil befindet sich in Hinterhöfen, Lagerhallen, Kellerräumen oder ganz normalen Wohnhäusern, weshalb sie von außen nicht erkennbar sind. Anders sollte es theoretisch bei jenen Moscheen sein, die mit einem Minarett ausgestattet sind. Das betrifft in Österreich drei Moscheen – eine davon befindet sich in Wien, eine in Saalfelden und eine in Telfs.
Das Minarett in Telfs ist das jüngste Minarett Österreichs und wurde vom türkisch-islamischen Verein für kulturelle und soziale Zusammenarbeit Telfs (Telfs-ATIB) erbaut. Im Oktober 2005 suchte man beim Bürgermeister um Baugenehmigung an und der hatte keinerlei Bedenken – als Höhe waren 20 Meter geplant und Muezzin war keiner vorgesehen. Stephan Opperer (ÖVP) wollte ein positives Zeichen für die 2.000 muslimischen Bewohner von Telfs setzen. Sie bilden immerhin ein Siebtel der Bevölkerung. Da ein Anrainer Sturm gegen das Minarett lief, eine Bürgerinitiative gründete und Unterschriften sammelte, mussten die Pläne aber abgeändert werden. Das Minarett schrumpfte um fünf Meter und damit gaben sich alle zufrieden. Bei Fertigstellung des Minaretts im Sommer letzten Jahres folgte ein letztes Rauschen im Blätterwald, mit jeder Menge Fotomaterial. Dann ist es still geworden.
Wie falsch die Eindrücke waren, die diese Bilder damals vermittelten, zeigt ein Besuch vor Ort. Wer die Autobahnausfahrt in Telfs verlässt und nach einem hohen Turm Ausschau hält, sucht vergeblich. Es gibt zwar Türme in Telfs. Die, die wirklich aus der Häuserflut hervor stechen, sind allerdings katholischen Ursprungs. Um das Minarett zu finden, muss man schon Ortskundige um eine Wegbeschreibung bitten. Es befindet sich nämlich im Süden von Telfs, am sehr versteckt gelegenen Giessenweg – die Spitze des Minaretts mit ihrem goldenen Halbmond ragt nicht einmal über den Dachgiebel des Vereinshauses.
Tekcan Siddik hat bestimmt schon einige enttäuschte Minarett-Touristen gesehen, nützt aber die Gelegenheit, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen und durch die Moschee zu führen. Er ist der Obmannstellvertreter von Telfs-ATIB. „Eine Moschee ist viel mehr als ein Gebetsraum“, erzählt er in perfektem Tiroler Dialekt. Eine Moschee sei ein Ort der Zusammenkunft für Menschen aller Altersgruppen. Auch Nicht-Muslime wären in Telfs herzlich willkommen. „Bis 1997 war hier die Rettung ansässig“, so Tekcan Siddik. 1998 hat sein Verein den Gebäudekomplex gekauft und ein Büro, Wohnungen, zwei Gebetsräume, eine Koranschule und zwei Aufenthaltsräume eingerichtet. Ein Aufenthaltsraum ist für Jugendliche. Neben einem Billardtisch gibt es dort einen Tischfußballtisch, wo gerade zwei Teenager spielen. Ein Aufenthaltsraum ist für alle – hier befinden sich ein großer Fernseher, jede Menge Pokaltrophäen, die der hauseigene Fußballclub gewonnen hat, und zwei Automaten, wo man sich mit Kaffee und Süßigkeiten ausstatten kann. Türkischen Cai gibt’s frisch und umsonst bei ihm persönlich.
Tekcan Siddik ist vor 36 Jahren von Ankara nach Telfs gekommen und hat in Tirol eine zweite Heimat gefunden. Nicht nur, weil Telfs nun ein Minarett hat und er Obmannstellvertreter des Vereins ist. Auch, weil er in seiner Firma Teamsprecher ist und nie arbeitslos war. Das erfüllt ihn mit Stolz und zeugt von einem guten Verhältnis zur Gemeinde und den Einheimischen. Darauf hätten er und der Verein immer großen Wert gelegt, meint er. Die muslimische Bevölkerung in Telfs sei deshalb gut integriert. Mit 13,5 Prozent liegt ihr Anteil im Übrigen auch deutlich über dem österreichischen Durchschnitt, der laut Volkszählung im Jahr 2001 4,2 Prozent beträgt. Das ist mehr als in den meisten Bezirken Wiens.
Ein paar Fakten zum Islam in Österreich
Türken stellen die größte Gruppe der in Österreich lebender Muslime dar, dann folgen Bosnier. Am meisten Muslime leben im 15. Wiener Gemeindebezirk. Dort beträgt der Anteil der muslimischen Bevölkerung 14,7 Prozent. Auf Platz zwei folgt mit 14,1 Prozent der zwanzigste Wiener Gemeindebezirk, auf Platz drei liegt Telfs. Laut Volkszählung des Jahres 2001 befindet sich der höchste Anteil muslimischer Bevölkerung aber nicht in Wien (7,8 Prozent), sondern im westlichsten österreichischen Bundesland: In Vorarlberg leben 8,4 Prozent Muslime.
Wien ist jedoch das einzige österreichische Bundesland, wo es islamische Horte, Kindergärten, Schulen und eine Religionspädagogische Akademie gibt, an der Religionslehrer ausgebildet werden. Da die Islamische Religionsgemeinschaft in Österreich seit 1912 staatlich anerkannt wird und seit 1979 eine Körperschaft öffentlichen Rechts ist, hat die Islamische Gesellschaft von ihrem damit einher gehenden Recht Gebrauch gemacht, an öffentlichen Schulen Religion zu unterrichten. Das Angebot islamischen Religionsunterrichts nehmen auch mehr und mehr Schulen in Anspruch. Während es in den achtziger Jahren nur 50 Lehrkräfte gab, sind mittlerweile mehr als 200 im Einsatz. In ganz Österreich werden etwa 37.000 Schüler betreut.
Von Wien abgesehen erlebten besonders industrialisierte Regionen wie das Tiroler Inntal, wo sich auch Telfs befindet, der Bodensee-Raum oder Linz und Wels große Einwanderungswellen. Regionen, die wenig industrialisiert sind bzw. unter einem Mangel an Arbeitsplätzen litten, haben den geringsten Anteil muslimischer Bevölkerung – er beträgt im Burgenland nur 1,4 Prozent.
Die Unterschiede zwischen Stadt und Land
Unabhängig davon, welcher Religionsgemeinschaft Migranten angehören, fällt auf, dass sie in den Bundesländern im Großen und Ganzen viel mehr dem entsprechen, was als „gut integriert“ bezeichnet wird. Ob die 15-jährige Arigona und ihre Familie in Wien auch so schnell Anschluss gefunden hätten, ob sie ihn überhaupt gefunden hätten – das ist zu bezweifeln.
Wien hat wie die meisten Großstädte Europas das Problem der Ghettobildung. Während in Nobelbezirken wie Hietzing oder der Inneren Stadt kaum Muslime vorhanden sind, gibt es in anderen Bezirken Stadtviertel, die ausschließlich von türkischen, ex-jugoslawischen und arabischen Geschäften, Lokalen und natürlich auch Menschen geprägt werden. Diese Wohn- und Geschäftssituation ist der Integration von Migranten nicht unbedingt dienlich und zu verantworten haben das Stadtpolitiker sowie Hauseigentümer und Hausverwaltungen, die lieber bescheidene Mieter einquartierten, als in Renovation und Infrastruktur der Häuser zu investieren. Doch auch das ist kein spezifisches Wiener Problem.
Spezifisch wienerisch und eigentlich erfreulich ist vielleicht, dass die Stadt klein und überschaubar ist, die Bevölkerung nicht wächst, sondern schrumpft und sich manches immer wieder neu zu mischen vermag. Der oft als Klein-Istanbul bezeichnete Brunnenmarkt im 16. Wiener Gemeindebezirk etwa mutiert gerade zu den „hottest spots in town“. Auf diesem Obst- und Gemüsemarkt bieten in erster Linie türkische Händler ihre Ware an. Türkische Supermärkte, Konditoreien und Restaurants sind ebenfalls nicht weit und mannigfaltig vorhanden. Das Viertel lebt von seinem türkischen Flair, galt bei den einen deshalb lange als verpönt, bei den anderen als Geheimtipp. Trotz seiner relativ zentralen Lage verirrten sich nur wenige dorthin. Es waren vor allem Künstler, die dort günstige Wohnungen und Ateliers vorfanden, für kurze Zeit auch der 1994 verstorbene Dramatiker Werner Schwab. Davon kann nun allerdings keine Rede mehr sein.
In den letzten Jahren hat sich am Brunnenmarkt eine bunt gemischte, lebendige Szene etabliert. Die Folgen sind eine Reihe neuer angesagter Lokale, jede Menge Nachtschwärmer und rapid steigende Mietpreise. Wer neu ins Viertel zieht, zahlt heute genauso viel wie in anderen angesagten Gegenden der Stadt. Nichts desto Trotz ist der Brunnenmarkt ein gelungenes Beispiel dafür, wie Integration in der Großstadt funktionieren kann. Vielleicht sollten sich Politiker also überlegen, Studenten, Künstler und andere Kreative mit günstigen Ateliers und Wohnungen in bestimmte Viertel zu locken – die Chance auf einen Wiederholungseffekt besteht und die Offenheit, Neues auszuprobieren, ist gerade bei diesen Menschen groß …