Internet & Politik und die "Münchner Erklärung"
Vor kurzem wurde erst eine sogenannte Online Charta von deutschem Boden aus verabschiedet. Jetzt gibt es schon wieder ein Manifest, das im Vor- und Umfeld der Tagung "Internet & Politik" unter dem Namen einer "Münchner Erklärung" veröffentlicht wurde und sich die "Zivilisierung des Cyberspace" und die "Modernisierung der Demokratie" auf die Fahnen geschrieben hat.
Die Erklärung soll vorwiegend politische und staatliche Institutionen dazu aufrütteln, das Internet aktiver zu nutzen. Überhaupt scheint das Motto der Tagung zu sein, mit den Verlockungen des Internet gegen den Politikverdruß anzugehen. Doch Lust allein schon an einer normalen Diskussion wollte schon während des ersten Tages keine aufkommen. Die Zeit war nicht dafür vorgesehen. Also soll man doch bitte die Dinge im Netz klären, indem man Leserbriefe ins Forum schickt. Hubert Burda hat womöglich zu der weniger idealistischen Variante das Stichwort gegeben, wenn er in seiner Ansprache betonte, daß das Internet auch dazu dienen könnte, die Kosten der Politik zu reduzieren. Das, und nicht die Stärkung demokratischer Kräfte, könnte in der Tat eine der wesentlichen Aspekte der digitalen Revolution von oben sein.
Insgesamt erfreulich ist ja, daß über ein neues Medium wieder einmal Ansätze einer Demokratiediskussion zu gedeihen scheinen. Mit aller Vorsicht sei nur gesagt, daß bei vielen neuen Techniken Hoffnungen einer besseren, friedlicheren und demokratischeren Politik keimten, die sich allerdings nicht so recht realisierten. Auch die Ansätze einer direkten Demokratie, einst in Athen erfunden und seitdem immer einmal wieder, später eher von linker und anarchistischer Seite thematisiert, sind keineswegs an das technische Medium Internet gebunden. Erleben wir jetzt eine Neuauflage von Ansätzen, die zuletzt die 68er Generation - Stichwort "außerparlamentarisch" oder "Rätedemokratie" - vergeblich erkämpfen wollte, bis sie beim Marsch in die Institutionen, in "selbstbestimmte" Kollektive, Bürgerinitiativen oder Parteien oder in den Terrorismus aufgerieben wurde?
Demokratie scheint, unabhängig von Techniken und Medien, in jenen Staaten am besten zu gedeihen, deren Wohlstand so hoch ist, daß die Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums und der Lebensqualität gemildert werden kann. Diese Voraussetzungen aber scheinen heute nicht gegeben zu sein, wenn die Schere zwischen "Reichen" und "Armen" immer weiter aufgeht und sich vor allem die Reichen und Unternehmen der gesamtgesellschaftlichen Solidarität durch Flucht entziehen können. Symptomatisch jedenfalls ist, daß in der Diskussion über Demokratisierungspotentiale des Internet der Abbau des Sozialstaates, immerhin auch eine demokratische Errungenschaft, im Hintergrund steht und die Frage der Verteilung des Reichtums keine Erwähnung mehr findet. Man hat fast den Eindruck, daß die vielen Diskussionen der letzten Jahrzehnte mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systeme nur noch den Kapitalismus pur übriggelassen haben. Wenn das Volk mehr Beteiligung an der Macht wünscht, dann geht es meist nicht nur um formale Rechte und deren Ausübung - freie Wahlen, Meinungs-, Rede-, Religions- und Versammlungsfreiheit -, sondern auch gegen eine Elite, die sich politische und wirtschaftliche Macht angeeignet hat und die man mit der erwünschten Demokratisierung aushebeln will. Solche Prozesse einer demokratischen Kultur von unten sind aber dann wohl meist nicht erwünscht.
Weiß-blaue Internetpolitik
Einen kleinen Umweg muß ich aber noch einschlagen, bevor auf die Erklärung weiter eingegangen werden soll. Wie das Internet hierzulande aktiver benutzt wird, hatte der weiß-blaue Ministerpräsident Edmund Stoiber mit seinen sicher berechtigten Sorgen um die künftige Handlungsfähigkeit der Politik bereits leidenschaftlich in seinem ausführlichen Grußwort am Eröffnungstag vorgetragen: Vernetzung der Behörden, vornehmlich der Polizei, und die Einrichtung einer Polizeistreife, die anlaßunabhängig und Abschreckung verbreitend das Netz durchsucht: "Die Erfolge können sich sehen lassen." Bayern will die Chancen nutzen, ein High-Tech-Land bleiben und an der Spitze stehen. Es fördere deswegen Wissenschaft, Technik und Infrastruktur. Auch vom Bürgernetz, steigender Verwaltungseffizienz und Kundenausrichtung sprach der Ministerpräsident. Weniger schon von Demokratie, noch weniger vom Ausbau direkter Demokratie, weil man da wegen der deutschen Geschichte (?) und wegen einiger der jüngsten Bürgerbegehren skeptisch sein müsse - meint er gar das von der CSU unterstützte Bürgerbegehren für den Ausbau der Tunnel am Mittleren Ring in München?
Richtig ins Fahrwasser kam Stoiber nicht mit der Schilderung der Chancen, sondern mit der von Gefahren. Die Gefahr des Mißbrauchs sei hoch. Weil sie die technische Entwicklung nicht beeinträchtigen solle, müsse man eben vorsorgen. Also stellt man den Mißbrauch - und damit die Angst der Menschen - in den Vordergrund. Natürlich scheint es richtig zu sein, daß der Schutz und die Würde von Kindern höher als "schrankenlose Meinungsfreiheit" einzustufen seien. Doch hinter der Pornographie und der organisierten Kriminalität kommen dann eben die "extremen" politischen Gruppen. Wenn man sich ansieht, wie die CSU derzeit gegen die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht in der Nazizeit Sturm läuft oder einer Ausstellung des Künstlers Helnwein in Ingolstadt, der sich als Nicht-Scientologe mehrfach und deutlich geäußert hat, dennoch die Zuschüsse wegen einer vermeintlichen Werbung für Scientology entzogen werden, kann dann doch vermuten, daß Pornographie, Schutz der Kinder oder Verfolgung von Kriminellen Deckmäntel für alte konservative Rechts- und Ordnungsstrategien sind.
Warum sollte das Internet auch politische Einstellungen verändern, zumal im Zeitalter des Cyberspace gleichzeitig nationalistische, ethnische und schichtenspezifische Einmauerungen und Abkapselungen gedeihen? Auffällig jedenfalls war, daß Stoiber weiterhin auf die Erhaltung der bestehenden "Werte" und "regionalen Identitäten" setzt und vor allem die Gefahren einer durch Globalisierung bedingten Unterhöhlung des nationalen Rechts setzt. Die weltweiten Nutzungsmöglichkeiten seien vom Staat nicht mehr kontrollierbar, daß dieser aber die Rahmenbedingungen für Entwicklungen weiterhin gestalten soll, schließt das von ihm betonte "Primat der Politik" wohl ebenso ein wie die Erhaltung bestehenden territorialen Identitäten. High-Tech-Land und wirtschaftlicher Globalismus ja, politisch und gesellschaftlich aber bitte weiß-blau. Das aber wird nicht zu haben sein.
Die elektronische Republik
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie wies zumindest darauf hin, daß das von Al Gore durch das Internet beschworene "neue athenische Zeitalter" jedenfalls nicht alleine durch eine neue Technik zustandekomme. Bedroht werde die Demokratie eben durch die überall mit der Informationsgesellschaft sich ausbreitende Massenarbeitslosigkeit, die zur politischen Apathie führen könne. Kommt sie zusammen mit der "Repräsentationslücke", also daß, wie derzeit, viele Menschen und vor allem die jüngeren sich von der repräsentativen Demokratie schlecht vertreten, schlecht informiert und ausgeschlossen fühlen, dann könne es wieder gefährlich werden. Tiefer auf den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Demokratie ging aber auch Leggewie nicht ein. Die Chancen einer direkteren Beteiligung der Menschen an politischen Prozessen sind aber durch die Zerfaserung der alten "Hülle" Nationalstaat für die Demokratie gefährdet. Der Nationalstaat zerfällt durch die Globalisierung nach unten in die Regionen und nach oben in die Weltgesellschaft. Trotzalledem ruft Leggewie zu mehr Euphorie für die Chancen auf und kritisiert die Stimmung hierzulande, weil die Sorgen vorherrschen.
Können sechs oder acht oder zehn Milliarden Menschen in einer Weltgesellschaft - und wie - eine direkte Demokratie überhaupt praktizieren? Ist eine solche höchstens für lokale Belange möglich? Und welche wären dies? Darüber ist nichts zu hören.
Lawrence Grossman, Präsident des PBS Horizons Cable Network, hat denn zumindest versucht, für die vermißte Euphorie zu sorgen. Natürlich wird für ihn die USA die erste elektronische Demokratie, das leuchtende Vorbild für die anderen Staaten, sein. Gefährdet sei sie allerdings durch die Dominanz der Unterhaltungsindustrie, die auch immer mehr ins Internet eindringe. Anstatt Information Spektakel, anstatt politischer Diskussion und Meinungs- oder Entscheidungsfindung Konsum, anstatt Agora Teleshopping. Deswegen brauche man öffentliche Datenwege und freien, von der Regierung garantierten Zugang zu diesen. Hier sollen dann die "electronic town meetings" stattfinden, die eben jene Individuen und Gruppen stärken, die von den Massenmedien negiert werden.
Die Regierenden werden sich umstellen müssen. Jetzt geht es nicht mehr um Wahlen als den großen demokratischen Ereignissen, auf die man sich permanent durch Umfragen vorbereitet, sondern eben um direkte Entscheidungen. Nicht mehr geographisch aufgebaut sind die Repräsentationsformen, sondern themenbasiert. Und für die großen Themen beruft man Super-Jurys ein, deren Mitglieder wechseln, die dafür bezahlt werden und Empfehlungen aussprechen. Wer an politischen Entscheidungen beteiligt werde, sei dann auch zufriedener mit der Regierung. Und digitales Fernsehen werde die elektronische Republik verwirklichen. Aber warum glaubt man eigentlich, daß die Menschen, die sich auch jetzt von der Politik abwenden und die bestehenden Möglichkeiten nicht nutzen, die nicht einmal alle paar Jahre zur Wahl gehen, dann viele Stunden Freizeit, Spektakel und Konsum opfern werden, um politisch aktiv zu werden? Und warum sollten Menschen dann "klüger" entscheiden, wenn sie direkte Demokratie praktizieren können, als wenn sie irgendwelche Repräsentanten wählen?
Die Erklärung
Gestolpert bin ich schon über den ersten Satz, der bezeichnend für das gegenwärtige Klima ist.
Zu Recht werden die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien als wichtige Zukunftsbranchen gesehen, die den europäischen Wirtschaftsstandort stärken können. Sie eröffnen neue Chancen für Wohlstand, Umweltschutz, Beschäftigung und Kommunikation.
Münchner Erklärung
Neue Chancen der Kommunikation sicher, aber daß darüber die Sicherung des Standorts geschehen könne, ist doch recht zweifelhaft im freien Markt der Standorte. Der Umweltschutz wird derzeit im Zeichen der globalisierten Konkurrenz immer weiter ramponiert, der Wohlstand wächst einer immer kleineren Schicht zu, die Beschäftigung nimmt weltweit ab. Man kann sich den IuK-Technologien nicht verschließen, aber man sollte doch die branchenübliche Euphorie meiden.
Wenn man stets von "neuen Strukturen einer weltweiten Öffentlichkeit" im Zusammenhang mit dem Internet spricht, dann wäre sicher eine kleine Überlegung zu entsprechenden weltweiten öffentlichen und demokratischen Organisationsformen und Institutionen hilfreich, um nicht im Nebulösen zu bleiben. Wenn man überdies von größerer Partizipation der Bürger auf Weltniveau oder von einer globalen "Selbstkontrolle des elektronischen Verkehrs" spricht, dann stellt sich noch mehr als in einzelnen Staaten die Frage nach den Verfahren. Idealerweise sollten ja alle Menschen dann Zugang zu den Netzen haben. Wie sollen sich Milliarden von Menschen auf einer virtuellen Agora einigen können? Wie also steht es mit den Massen und einer direkten Demokratie? Mit einer "bürgernahen" Politik auf globalem Niveau?
Ähnlich ist das pragmatische Problem mit der dauerhaft eingeforderten Dialogbereitschaft seitens der Bürger und der Institutionenrepräsentanten. Auch hier spielt die Frage der Quantität herein. Wenn sich beispielsweise "Bundestag und Landtage sowie kommunale Parlamente", Behörden und Parteien dem "Dialog mit den Bürgern" aktiv öffnen sollen, dann bräuchte man möglicherweise noch mehr Repräsentanten, Beamte und Angestellte, die sich darum kümmern.
Eine "demokratische Mediendebatte" (?) müsse geführt werden, damit sich endlich alle ans Internet anschließen und medien- sowie kommunikationskompetent werden. Aktiv sollen wir alle werden, an der Ausgestaltung mitwirken. "Vernetzte Medien können lokale politische Kommunikation verdichten und globale Kommunikation herstellen. Sie können als Mittel gegen politische Apathie und 'Politikverdruß', d.h. zur Regeneration der demokratischen Prozesse genutzt werden und so einen wesentlichen Beitrag zur Selbstorganisation des Gemeinwesens leisten." Damit wir dies können - warum viele es offenbar nicht wollen, ist keinen Satz wert -, sind dann die Politiker aufgerufen. Ein "öffentlicher Universaldienst" muß her. Wie der näher aussehen soll, wird nicht erwähnt.
Die Parteien werden aufgefordert, mit Hilfe der neuen Kommunikationsmedien die Interaktion mit den Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern zu verbessern und sie zu einem Instrument inner- und außerparteilicher Demokratie zu machen.
Münchner Erklärung
Wenn die Parteien daran nicht interessiert sind, dann wird dies auch nicht mit den Kommunikationsmedien geschehen. Viel eher könnte es sein, daß sich Gruppen unabhängig von Ort und Partei möglicherweise besser verständigen oder sich überhaupt erst finden können. Dann aber wäre die Frage, ob Parteien im herkömmlichen Sinne noch die richtigen Mittler darstellen. Aber die "Erklärung" hält sich stets im Fahrwasser des Bestehenden, eben in der Modernisierung, nicht in der Reformierung.
Immerhin betonen die Unterzeichner, daß die Förderung einer "demokratischen Telekommunikationspolitik" nicht kostenlos zu haben sei. Leider können, so schreiben sie, die "kommerziellen Anbieter allein dies nicht leisten", daher dürfe man dies nicht "technischen Fortschritt und den Kräften des Marktes allein überlassen". Aber den kommerziellen Anbietern geht es nicht - und ging es nie - um Demokratie, sondern um das Geschäft, es sei denn man verwechselt Demokratie mit Deregulierung. Geschäft aber ist mit Spektakeln und Shows auf dem Internet besser zu haben als mit politischen Diskussionen, wenn dann auch die Teilhabe an ihnen dann noch sozialverträglich sein soll. Wem also wollte man mit diesem Satz schmeicheln?
"Informationelle Grundversorgung", "universaler und freier Zugang für alle", "kostengünstige Angebote" - ja, sicher, aber die Diskussion dreht sich darum, wie dies geschehen soll. Die Erklärung bietet nur den Hinweis, daß Bildungsinstitutionen "bedarfsgerecht" ausgestattet und überhaupt "öffentliche Terminals" eingerichtet werden sollen. Das kostet ebenso Geld wie die Aufwertung des Bildungssystems. "Nationale Priorität" sollen "Bildung und Ausbildung für und durch die neuen Medien" erhalten. Das ist - vielleicht - richtig, aber eben diese neuen Medien führen auch zu einer Austrocknung der öffentlichen Haushalte und zu einer Ideologie der Reduktion des Staates. Wie läßt sich das zusammenbringen? An welchen Stellen müßten/sollten/könnten Einsparungen vorgenommen werden? Kein Wort auch darüber, ob Schulen oder Universitäten so bleiben sollen wie bisher, ob es gut ist, wenn die Auszubildenden anstatt der Begegnung miteinander und mit einem Lehrenden im wirklichen Leben vor dem Bildschirm sitzen.
Öffentliche Einrichtungen haben eine Informationspflicht und sollen nicht nur sich vernetzen, sondern alle Texte von öffentlichem Belang - "die sich an die Öffentlichkeit richten" - "kostenlos oder gegen geringes Entgelt elektronisch zur Verfügung stellen." Das ist selbstverständlich, das "geringe Entgelt" sollte man streichen.
Insgesamt ist die "Erklärung" ehrbar und tut niemandem weh. Sie führt allerdings keine neue Gedanken auf, und es fehlen vor allem Ideen zur praktischen Umsetzung. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie weniger breit anzulegen, und sich lieber einen Punkt herauszunehmen und diesen dann auch konkreter auszuformulieren. Aber die Diskussion soll ja damit erst im Cyberspace und außerhalb von ihm stattfinden. Mal schauen.
Bis jetzt sieht die Diskussion aber noch recht flau aus. Der Stand vom 20.2. um 22.56 Uhr ist folgendermaßen: " Demokratische Telekommunikationspolitik " von Akademie3000 Di. 18. Feb. 1997, 13:34 es folgen 0 Beiträge ; davon 0 Neue!
" Demokratische Bildungs- und Kulturpolitik " von Akademie3000 Di. 18. Feb. 1997, 13:34 es folgen 0 Beiträge ; davon 0 Neue!
" Bürgernahe Politik " von Akademie3000 Di. 18. Feb. 1997, 13:33 es folgen 0 Beiträge ; davon 0 Neue!
" Selbsthilfeorganisation und Selbstkontrolle der Nutzer der Neuen Medien " von Akademie3000 Di. 18. Feb. 1997, 13:31 es folgen 0 Beiträge ; davon 0 Neue!
Ist das also die neue Netzkultur? Oder will man sich nicht von oben zu einer scheindemokratischen Diskussion verführen lassen?