Internet als Mittel zum sozialen Top-Down-Engineering
Internet & Politik, Erster Konferenztag, 18.2.97
Schon vor der Eröffnung der Konferenz war anhand der Teilnehmerliste klar, daß ein Politikverständnis im Vordergrund stehen würde, nach dem politische oder gesellschaftlich relevante Veränderungen von oben herab eingeleitet werden müssen und daß das Internet als hervorragend dazu geeignetes Werkzeug betrachtet wird. Und wenn auch als Teilnehmer anvisierte politische Spitzenleute wie Al Gore, Tony Blair und Martin Bangemann nicht erschienen sind, so hat sich dieser Eindruck nach dem ersten Tag noch verstärkt. Nirgends kam die Kontroverse zwischen staatlichen Lenkungs- und Kontrollversuchen einerseits und den von unten aufgebauten Bürgernetzen deutlicher zum Ausdruck, als in den Vorträgen von Ministerpräsident Edmund Stoiber und Geert Lovink in seiner Lieblingsrolle als Botschafter der Digitalen Stadt Amsterdam.
Nachdem sich Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaats Bayern, nach einleitenden Begrüßungsformalitäten langsam in Stimmung geredet hatte, steigerte er sich bald in einen stakkatohaften Tonfall, der vom rollenden bayerischen "R" nur noch betont wurde. In seiner Anrede hob er die Bedeutung hervor, welche High-Tech Entwicklungen im Telekommunikationsbereich für Bayern haben. Bayern liege mit einem Anteil von 4% seiner Staatsausgaben für Forschung und Entwicklung im europäischen, ja globalen Spitzenfeld, während der Rest Deutschlands bei mageren 2,25% herumlaviert. Immer wieder betonte er, welche vorrangige Bedeutung der Einrichtung einer hochrangigen Telekommunikations-Infrrrastrruktur beigemessen werde. Mit den durch diese Technologie realisierbaren neuen Diensten sei es jedem Menschen gestattet, "Datenbanken zu nutzen, sich unmittelbar Informationen aus erster Hand einzuholen, sich über Bildschirm aus- und fortzubilden und Versicherungs- und Behördengänge per Bildschirm zu erledigen".
Schön und gut, all das können und sollen Internetbenutzer tun. Doch was in dieser Aufzählung des Stoiberschen Cyber-Utopia fehlt, ist jede Erwähnung von Eigenaktivitäten der Bürger, wenn Interaktivität nicht auf das Ausfüllen eines Online-Versicherungsformulars beschränkt sein soll. Das mag nun eine zufällige Unterlassungssünde des Redenschreibers sein, es kann aber auch ebenso gut die Prioritäten ausdrücken, die in Bayerischen Staatsministerien an oberster Stelle stehen. Das Erstellen eigener Homepages, der Austausch in Newsgroups und Mailinglists zählen wohl nicht zu diesen Prioritäten. Deutlicher wurde der Ministerpräsident in der Prioritätenvergabe bezüglich innerer Sicherheit und bei der Aufzählung all dessen, was als nicht erwünscht gilt.
Ein Behördennetz werde aufgebaut und ein Polizeinetz, in dem die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, um "sekundenschnell kriminaltechnische Daten" austauschen zu können, "Bilder, Fingerabdrücke, Fahndungsgegenstände". Und seit 18.11.96 sind tatsächlich "Polizeistreifen im Internet" in Bayern unterwegs, zwecks Prävention und Aufklärung von Verbrechen wie Kinderpornographie und Verbreitung extremistischer politischer Propaganda. (Siehe dazu die Pressemeldung der bayerischen Polizei im Internet.)
Spätestens an dieser Stelle mag es dem niederländischen Medientheoretiker Geert Lovink einen Stich im Herz versetzt haben. Denn als er wenige Stunden später mit seinem Redebeitrag an der Reihe war, sagte er sinngemäß: "Ich bin einer von diesen Kriminellen, von denen Herr Stoiber gesprochen hat", und erntete damit das erste befreiende Lachen des Konferenzpublikums an diesem ansonsten ausgesprochen trägen Eröffnungstag.
In seinem kurzen und pointierten Vortrag sprach Lovink über die aktuelle Situation der Digitalen Stadt Amsterdam. Er unterstrich die Unabhängigkeit dieser Einrichtung, die inzwischen 60.000 User in ihrem Mail-Directory führt, und die Notwendigkeit, daß in solchen Foren eine außerparlamentarische politische Kultur gepflegt wird. Diese politische Kultur sollte nicht von staatlicher Förderung - und somit Einflußnahme - abhängig sein. Deshalb ist es nötig, daß auch ein "Freenet" wie die DDS (Email ist in der DDS gratis) eigene ökonomische Mechanismen findet, und sowohl technisch als auch sozial eigene Entwicklungen vorantreibt, unabhängig von industrieller Software-Entwicklung und staatlichen Richtlinien.
Danach informierte Lovink über Entwicklungen, die mit der Entstehung der DDS eng assoziiert sind, oder später aus ihr hervorgegangen sind. Als Beispiele nannte er den Provider XS4ALL und die neue, inhaltlich orientierte Organisation Contrast.Org. Letztere beschäftigt sich mit Themen wie Scientology, Radikal (an dieser Stelle der "Link" zur Radikalismusschelte des Ministerpräsidenten) und der Europakonferenz, die im Juni in Amsterdam stattfinden wird und zu der ein breites Spektrum politischer Organisationen begleitende Protestveranstaltungen vorbereitet. Bei aller Bereitschaft zur Kritik versäumte Lovink aber nicht, die Notwendigkeit konstruktiven Handelns hervorzuheben. Selbstgestaltete Infrastrukturen wie DDS oder XS4ALL zeichnen sich durch ihre offene Netzarchitektur aus. Und nur in einer derartigen Struktur, kann "elektronische Freiheit" gelebt werden.
Damit setzte Geert Lovink nicht nur zum bayerischen Ministerpräsidenten einen deutlichen Kontrapunkt. Die anglo-amerikanischen Internetaktivisten Steven Clift, Scott Aikens und Douglas Schuler präsentierten ihre Versionen von Freenet-Projekten. Deren subjektiver Sinn und Nutzen mag gegeben sein. Verblüffend war jedoch zu erfahren, wie eng verbunden diese Aktivitäten mit den Interessen von staatlichen oder städtischen Stellen sind, als pädagogische und didaktische Projekte "von oben herab" gewünscht und ins Leben gerufen. Und damit stehen sie dem von der bayerischen Staatsregierung in die Wege geleiteten Projekt "Bürgernetz Bayern" gar nicht so fern.
Was dabei im Grundzug zum Ausdruck kommt, ist die Hoffnung von Regierungen, durch technische Anbindungen auch soziale Anbindungen zu schaffen. Der Untertitel der Konferenz "Die Modernisierung der Demokratie durch die elektronischen Medien" nimmt damit eine eigenartige Färbung an: Modernität als im Sinn des Fortschrittsgedankens lineare Ausbreitung der nationalstaatlichen Integration mittels technischer Medien. Technologie wird als eine Art Wunderpille betrachtet, welche die politikverdrossenen Schäfchen wieder in die Arme der Politik treiben soll. Der Grundgedanke, daß ein Wiederaufleben des Politikinteresses in der Bevölkerung zuallererst ein sozialer Vorgang ist und kein technischer, klang außer im Vortrag von Lovink ganz selten durch, und der Gedanke, daß die Leute auch selbst auf Ideen kommen könnten, noch weniger.
Dabei ist es ja genau umgekehrt. Die miteinander verkoppelten Netzwerke, die unter dem Synonym "Internet" geläufig sind, unterwandern zuallererst die nationalstaatliche Souveränität. Das weiß auch Edmund Stoiber. "Da das Internet keine Grenzen kennt, untergräbt es zum Teil das den nationalen Grenzen unterworfene Recht". [...] "...führt das Internet dem Rechtsstaat seine Handlungsgrenzen vor Augen". Deshalb ist es Stoibers Bestreben, "zumindest in Europa eine Harmonisierung der angesprochenen Rechtsbereiche zu erwirken".
Im selben Atemzug beklagte er, wie störend es sei, daß ähnliche "Harmonisierungsbestrebungen" auf der Ebene des Polizeiwesens so schleppend langsam vor sich gingen. Deutsche Kriminalisten könnten in Ausübung ihres Amtes Verbrecher nur bis 10 Kilometer hinter der Grenze verfolgen, dann sei Schluß, während Deutschland das einzige Land in der Welt sei, in dem ausländische Polzisten nach Belieben fahnden könnten. Wie er reagieren würde, wenn auch im Internet die "Harmonisierung" so schleppend vor sich ginge, wurde dann allerdings in Worten nicht mehr ausgesprochen.
Doch der Ministerpräsident hatte auch Hoffnungen anzubieten. Wenn die Menschen im Flächenstaat Bayern durch Telekommunikation unabhängiger von den Einrichtungen der Städte würden, dann könnten sie vielleicht auch wieder mehr Zeit für die kleinen Lebensräume, für die Pflege und Bewahrung von Tradition, Brauchtum und Kultur im ländlichen Raum gewinnen. "Das ist politisch gewünscht", Punkt.
Spätestens an dieser Stelle wird die Vision vom High-Tech Bayern in Lederhosen gruselig. Denn wie John Horvath in seinem (bisher nur englischsprachig vorliegenden) Kommentar ausführt, war die Kombination von High-Tech-Kommunikationsmitteln und Pflege des deutschen Brauchtums eine wesentliche Komponente in der Propagandamaschine des Nationalsozialismus.
Es wäre Verharmlosung des deutschen Faschismus, die "Heimatliebe" der CSU in einen engen Kontext mit dem Hitlertum zu setzen. Es muß aber auch immer wieder betont werden, daß High-Tech in keinem notwendigen Bezug zu sozialem Fortschritt steht. In den falschen Händen kann Hochtechnologie zum Kontroll- und Steuerinstrument werden, insbesonders, wenn, so wie in Bayern, die Meinunsgfreiheit und der Datenschutz als nachrangig gegenüber der Bekämpfung von Kriminellen angesehen werden. Dieses Dilemma, zwischen Bürgerrechten und Staatsraison, kam etwa im Vortrag des Rechtsprofessors Spiros Simitis zum Ausdruck.
Vielleicht, so lautet meine persönliche Schlußfolgerung nach diesem ersten Tag, ist Internet überhaupt kein geeigneter Ausgangspunkt, um über Politik zu sprechen. Es entstand vielmehr der Eindruck, daß zunächst über Demokratie- und Politikverständnis gesprochen werden müßte. Politik ist in erster Linie Wirtschaftspolitik geworden. Darüberhinaus üben Regierungen die Exekutivgewalt aus und erzeugen so "Rechtssicherheit" für die Wirtschaftstreibenden. In dieser Hinsicht versucht Bayern besonders selbstsicher aufzutreten, beflügelt von immer noch vergleichsweise guten Wirtschaftsdaten. Aber eigentlich zeichnet sich immer deutlicher ab, daß im globalen Wirtschaftsgefüge die Zeiten vorbei sind, in denen Regierungen von oben herab die Geschicke ihrer Bevölkerungen steuern und lenken können.
Deshalb ist auch eine "Modernisierung der Demokratie", von Wirtschaftslenkern wie Burda und Politikern wie Edmund Stoiber in die Wege geleitet, aller Voraussicht nach zum Scheitern verurteilt. Die Grusel-Rhetorik des Bayerischen Ministerpräsidenten über Pornographie und politischen Extremismus kann somit als ein verzweifelter Versuch gewertet werden, die Legitimierung der politischen Top-Down-Kontrolle über die öffentliche Meinung zumindest eine Zeit noch am Leben zu erhalten.
Dieses Konzept erscheint jedoch so muffig wie ein Fernsehabend mit Aktenzeichen XY und kennzeichnet das "Münchner Klima" in dem die Konferenz stattfindet. 500 überwiegend männliche Wesen in Anzug und Krawatte wohnten dem Konferenzauftakt bei (laut Organisatorin Dr.Maar hätten es doppelt so viele sein können) und es ist zu hoffen, daß der zweite Tag ein wenig mehr Pfeffer und Salz in das sattsam bekannte Einheitsmenü der Bestrebungen zur Revitalisierung der Demokratie durch Technik bringen wird.