Iraks Kurden wollen über Unabhängigkeit abstimmen
Eine sehr große Mehrheit der Kurden befürwortet eine Unabhängigkeit Kurdistans
Anfang Juni 2017 trafen sich die kurdischen Parteien in der regionalen Hauptstadt Erbil und beschlossen, am 25. September ein Referendum über die Errichtung eines eigenen Staates abzuhalten. Das Präsidialamt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak bestätigte dieses Datum als Termin für ein Unabhängigkeitsreferendum.
Die Zentralregierung in Bagdad reagierte mit einer Ablehnung des Referendums. Auch die Nachbarstaaten Iran und die Türkei bekräftigten ihre Ablehnung gegenüber dem geplanten Referendum. In den beiden Ländern leben zahlenmäßig große kurdische Minderheiten, die auch nach mehr nationalen Rechten streben. In Nordsyrien existiert bereits seit 2012 eine Art kurdische Selbstverwaltung.
Die Kurden im Nordirak fühlen sich sprachlich und kulturell eigenständig gegenüber dem Rest des Landes, der von arabischsprachigen Schiiten und Sunniten bewohnt wird. In den Sozialen Medien werden Facebook-Profile mit kurdischen Fahnen und Farben geschmückt. In vielen Profilen steht ein bekannter kurdischer Spruch aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dieser stammt ursprünglich vom Führer des vietnamesischen Unabhängigkeitskrieges Ho Chi Minh und lautet: "Ji serxwebûn û azadiyê birûmetir tiştek nîn e" ("Es gibt nichts Wertvolleres als die Unabhängigkeit und die Freiheit").
Obgleich die allermeisten Kurden im Irak, aber auch außerhalb, eine Unabhängigkeit Kurdistans befürworten, wird die Frage über die Unabhängigkeit in kurdischen Kreisen kontrovers diskutiert. Die seriösen kurdischen Politiker und Analytiker machen auf die existierenden Probleme in Irakisch-Kurdistan aufmerksam und raten den kurdischen Parteien, schon jetzt nach Lösungen für diese Probleme zu suchen. Denn ein "Verschweigen" der bestehenden Probleme oder die "Vertagung" der Lösungen in die Zeit nach der Unabhängigkeit könnten für den jungen kurdischen Staat verheerende Folgen haben.
Spätestens nach dem Ausbruch des furchtbaren Bürgerkrieges in Süd-Sudan, kurz nach der Unabhängigkeit, sollten die irakischen Kurden die bestehenden Probleme ernster nehmen und schon jetzt aktiver nach Lösungen zu suchen. Die Kurden, die von verfeindeten regionalen Mächten umgeben sind, können sich nicht leisten, einen nächsten Bürgerkrieg zu riskieren. Daher sollten die Kritiker des Unabhängigkeitsprozesses ernster genommen werden. Anstatt ihnen "Verrat an der kurdischen Sache" vorzuwerfen, sollten sich Kurden zusammensetzen und möglichst schon jetzt viele Probleme untereinander und mit dem Irak zügig lösen.
Einige der Probleme, mit denen die Kurden im Irak konfrontiert sind
- Der Konflikt mit der Zentralregierung in Bagdad um die Zugehörigkeit der so genannten umstrittenen Gebiete. Hier handelt es sich vor allem um die nordirakische erdölreiche Provinz Kirkuk sowie einige andere Regionen im kurdischen Norden wie Sinjar, Khanaqin und Mandali. Während die Kurden die Provinz Kirkuk in die autonome Region Kurdistan aufnehmen wollen, möchten Teile der in Kirkuk ansässigen turkmenischen und arabischen Bevölkerung dies verhindern. Nach dem US-Einmarsch in den Irak versuchten radikale Schiiten, Sunniten und protürkische Turkmenen, einen Anschluss Kirkuks an Kurdistan mit allen Mitteln zu verhindern. Auch der parteipolitische Streit zwischen der Demokratischen Partei Kurdistan (DPK) von Masud Barzani und der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) von Jalal Talabani erschwerte eine Lösung der "Kirkukfrage". Die irakische Zentralregierung verhinderte auch die Lösung dieser Frage. Sie hätte den Artikel 140 der irakischen Verfassung längst umsetzen müssen. Der Artikel 140 der irakischen Verfassung sieht vor, dass die irakische Regierung angemessene Maßnahmen ergreift, um die Spuren der vom alten Regime "praktizierten Unterdrückungspolitik" in bestimmten Gebieten des Landes, darunter auch Kirkuk, zu beseitigen, die "zwecks Änderung der Bevölkerungsstruktur in der Vergangenheit" vorgenommen worden waren. Vorgeschlagen wird: Wiedergutmachung, Entschädigung, aber auch Repatriierungen. Die Grenzen der nordirakischen Distrikte, die das Regime von Saddam Hussein willkürlich ändern ließ, sollen einer gründlichen "Überprüfung" unterzogen werden. In drei Stufen sollte zu einer Lösung gefunden werden: In einer ersten Phase sollte die Normalisierung der Lage erreicht werden, indem die Siedler freiwillig in ihre alten Gebiete zurückkehren können. In der zweiten Phase sollten die vertriebenen Kurden, Turkmenen und andere ihr ehemaliges Eigentum zurückerhalten und darauf folgend die alten administrativen Grenzen der Provinz wiederhergestellt werden. Weiterhin ist auch eine Volkszählung vorgesehen. Abschließend sollte in einem Volksbegehren über die Zugehörigkeit der Region entschieden werden. Für dieses Vorgehen wurde ein eigener Ausschuss gebildet, der der Regierung Empfehlungen zur detaillierten Durchführung der Phasen unterbreiten sollte. Kommt es zu keiner Einigung, sollte als letztes Mittel der UN-Generalsekretär um Ernennung einer Person gebeten werden, welche diese Aufgabe übernimmt. Laut Artikel 136 der irakischen Verfassung sollte der gesamte Prozess eigentlich bereits am 31. Dezember 2007 abgeschlossen sein.
- Die Lösung der "Sinjarfrage". Nach dem Massenmord und der Vertreibung der Yeziden durch den "Islamischen Staat" aus ihrem Kerngebiet Sinjar im August 2014 verloren viele Yeziden jegliches Vertrauen in die Polizei, die Armee (Peschmerga) in Irakisch-Kurdistan, insbesondere in die Einheiten, die der DPK angehören. Damals zogen sich die Peschmerga der DPK aus Sinjar zurück. Die Yeziden waren sich selbst überlassen. "Der Peschmerga-General und Pressesprecher des Peschmerga-Ministeriums, Holgard Hekmat, räumte ein, dass die Peschmerga einfach geflohen seien. Das sei eine Schande und der Grund dafür, dass sie wahrheitswidrig behaupten würden, dass es einen Befehl zum Rückzug gegeben habe - alle Verantwortlichen würden bestraft werden. Der kurdische Präsident Barzani kündigte die Bestrafung der Verantwortlichen auch an, allerdings ist sie offensichtlich bis heute nicht erfolgt."1 Nun verlangen viele Yeziden eine "eigene autonome Region und einen internationalen Schutz". Es ist tatsächlich im Interesse der DPK und anderer kurdischen Parteien die "Ereignisse" vom August 2014 lückenlos zu untersuchen und alle Mitverantwortlichen am Völkermord an den Yeziden zu bestrafen, die Opfer der Yeziden zu entschädigen, den "Islamisierungsprozess" in Kurdistan, insbesondere in den Gebieten, wo vermehrt Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft und anderer Minderheiten wie der Assyrer/Chaldäer/Aramäer, Shabak, Armenier und der Kakai/Ahle Haqq leben, zu stoppen oder einzudämmen. Der radikale Islam, auch der kurdische, stellt eine tödliche Gefahr für Yeziden und alle Nicht-Muslime in Kurdistan dar. Eine Erfüllung dieser und anderer Forderungen der Yeziden könnte dazu führen, dass die meisten Yeziden ihren muslimischen Nachbarn, auch Kurden, wieder vertrauen könnten. Dann bestehen gute Chancen für eine Autonomie von Sinjar innerhalb Kurdistan.
- Es muss eine Einigung zwischen den Kurden und der christlichen Assyrer/Aramäer/Chaldäer über die Zukunft der so genannten Ninive-Ebene erzielt werden. Auch für die Gebiete nördlich und östlich von Mossul, wo die Christen eine große Minderheit bilden, könnte eine autonome Lösung die Mehrheit der Christen ermutigen, sich für einen Anschluss ihrer Gebiete an Kurdistan zu entscheiden.
- Bildung einer einheitlichen Polizei und Armee, von Sicherheitsdiensten, Justiz und aller anderen Behörden. Es darf keine parallelen Verwaltungen im Herrschaftsgebiet der DPK und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) mehr geben. Seit Anfang der 90er des 20. Jahrhunderts existieren immer noch faktisch zwei Verwaltungen, die völlig unabhängig voneinander agieren und miteinander sogar konkurrieren. Ein im Herrschaftsgebiet der PUK erlassener Haftbefehl hat oft im Herrschaftsgebiet der DPK keine Gültigkeit. Es muss eine einheitliche Regierung für ganz Kurdistan gebildet werden. Hierbei muss der Einfluss der Parteien, allen voran der von der DPK und PUK, auf die Regierungsarbeit spürbar begrenzt werden.
- Wiedereinsetzung des Parlaments von Kurdistan. Seit 2015 wird dem Parlamentspräsidenten, der der oppositionellen Partei "Goran" angehört, der Zugang in die regionale Hauptstadt verweigert. Die Goran-Partei hatte es zuvor abgelehnt, die Amtszeit von Präsident Barsani zu verlängern. Diese endete im August 2015, er ist jedoch weiter an der Macht.
- Die Lösung der Krisen um den Präsidentenposten von Kurdistan. Die kurdischen Parteien müssen dringend eine Lösung finden, welche Staatsform Kurdistan haben soll: ein präsidentielles, semipräsidentielles oder parlamentarisches Regierungssystem. Vielleicht auch eine Monarchie. Eine Vertagung der Lösung dieser Frage kann verheerende Folgen haben. Auf die Erfahrungen im Südsudan wurde bereits hingewiesen.
- Stärkung des Status der Provinzräte. Seit Jahrhunderten fordern die Kurden von den Regierungen der Türkei, des Iran, Irak und Syrien autonome und föderale Strukturen für die Gebiete, in denen sie eine Mehrheit bilden. Es kann daher nicht sein, dass Kurdistan ein streng zentralistischer Staat wird. Kurdistan war schon immer eine multiethnische, multireligiöse, multisprachliche und multikulturelle Region. Daher sollte auch die künftige Staatsform in Kurdistan eine föderale sein. Nur föderale und autonome Strukturen können die Konzentration der staatlichen Macht und des Reichtums des Landes in der Hand einer Person, einer Volksgruppe, einer Partei oder einer Region verhindern. Föderalismus könnte auch ein Garant dafür sein, dass es langfristig nicht zu Konflikten und Bürgerkriegen unter Kurden kommt.
- Vollständige Freiheit für alle Ethnien und Religionsgemeinschaften. In Kurdistan darf es nicht dazu kommen, dass nur eine Sprache, eine Religion, eine Ethnie, eine Fahne, eine Partei, eine Person oder ein Clan alles im Lande bestimmt.
- Der "Prozess der Islamisierung" in Kurdistan muss deutlich gedrosselt werden. Eine klare Trennung von Staat und Religion in Kurdistan ist dringend notwendig. In einem Kurdistan, in dem immer mehr Moscheen als Schulen oder Krankenhäuser gebaut werden, werden die Minderheiten keine Zukunft mehr haben. Die Einflüsse der türkischen Partei AKP von Erdogan, der Muslimbruderschaft sowie der dem Iran loyalen schiitischen Gruppierungen, müssen eingeschränkt werden. Eine Gesellschaft, in der die konservative und reaktionäre Form des Islams herrscht, kann sich in der Regel nicht entwickeln.
- Die Lösung der "Frauenfrage" in Kurdistan. Im zukünftigen Kurdistan muss eine vollständige Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann herrschen. Eine Gesellschaft, die die Hälfte ihrer Mitglieder einsperrt, hat keine Zukunft.
- Die Machtverhältnisse in Kurdistan müssen sich ändern: Die Autorität der Gerichte sowie der staatlichen Polizei muss stärker sein als die Macht der Stämme und der Clans.
- Die bewaffnete Präsenz der PKK sowie die von iranischen, kurdischen Parteien in den Bergen Kurdistans sollte beendet werden. Die Anwesenheit dieser Kämpfer wird zu mehr Konflikten mit den Nachbarstaaten Türkei und Iran führen.
- Die Anwesenheit vieler türkischen Truppen und Militärbasen in Irakisch-Kurdistan muss auch beendet werden. Die Präsenz von türkischen Truppen in Kurdistan führt schon jetzt zur Unzufriedenheit unter Kurden im Irak. Auch das Nachbarland Iran könnte die Anwesenheit des türkischen Militärs zum Anlass nehmen, um sich vermehrt in innere Angelegenheiten Kurdistans einzumischen.
- Die Beziehungen zwischen der DPK und der in Nordsyrien (Rojava/Syrisch-Kurdistan) regierenden PYD müssen normalisiert werden. Dieser ungelöste innerkurdische Konflikt birgt viel Konfliktstoff in sich. Ein Ausbruch des Konfliktes zwischen Irakisch-Kurdistan und Syrisch-Kurdistan könnte zu einer Eskalation unter verschieden kurdischen Parteien und Organisationen, auch in Irakisch-Kurdistan, führen.
Ich bin realistisch genug zu wissen, dass eine Lösung für alle oben erwähnten Probleme nicht vor der Unabhängigkeitserklärung erfolgen wird oder erfolgen muss. Die Kurden im Irak sind jedoch gut beraten, sich schon jetzt um Lösungen für die bestehenden Probleme und Konflikte zu bemühen. Der unabhängige Staat Kurdistan wird genug Probleme haben, die wir noch nicht voraussehen können. Daher soll die Divise gelten: Die Probleme, die heute gelöst werden können, müssen auch heute gelöst werden.
Schließlich muss festgehalten werden, dass eine sehr große Mehrheit der Kurden, unabhängig von den parteipolitischen Streitereien, eine Unabhängigkeit Kurdistans befürwortet. Denn seit mindestens 100 Jahren kämpfen die irakischen Kurden gegen die fremde Herrschaft im Irak. Kurdistan wurde immer wieder, auch mit verbotenen Waffen wie Giftgas, durch verschiedene irakische Regierungen angegriffen. In den 70er und 80er Jahren waren die Kurden einem Völkermord ausgesetzt. Mindestens 500.000 Kurden und Angehörige anderer Volksgruppen haben dabei ihr Leben verloren. Die Menschen in Irakisch-Kurdistan haben ein Recht auf Selbstbestimmung.
Dr. Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).