Iran: Streiks und neuer Höhepunkt des Aufstands

Seit September kommt das Land nicht zur Ruhe, weil die Menschen ihre Angst vor dem Regime verloren haben. Foto: Darafsh / CC-BY-SA-4.0

Kein Ende in Sicht: Die arbeitende Bevölkerung setzt klare Zeichen gegen das Mullah-Regime. Wenn Protestierende erschossen werden, manifestiert sich der Widerstand bei den Trauerfeiern erneut.

In dieser Woche erlebte der Iran einen neuen Höhepunkt der revolutionären Welle, die das Land seit zwei Monaten erschüttert. Seit nun acht Wochen sind die Proteste in den Straßen trotz offiziell mehr als 300 Toten und 15.000 Inhaftierten nicht abgerissen. Während vergangene Woche die Intensität von Protestaktionen etwas abgenommen hatte, kam es in dieser Woche zu den massivsten Aufständen anlässlich des Jahrestags des Aufstandes von 2019.

Am 15. November 2019 hatte die Regierung den Benzinpreis drastisch erhöht. Im Iran, der bekanntlich reich an Ölvorkommen ist, war Benzin bis dato immer sehr günstig zu haben. Diese drastische Preiserhöhung traf die ärmere und ländliche Bevölkerung am härtesten.

Die soziale Lage ist aufgrund der Hyperinflation bereits seit Jahren miserabel, und große Teile der Bevölkerung leben von der Hand in den Mund. Diese Preiserhöhung löste die massivsten Proteste seit der Reformbewegung 2009 aus. Das Besondere daran war, dass dieses Mal die Proteste in den armen Städten der Provinz und den ärmeren Stadtteilen der großen Städte ausbrachen.

Das Regime hatte gerade hier, also in den armen religiösen Provinzen und Stadtteilen, während und nach der "islamischen Revolution" seine Bastionen gehabt. Diese Armen und Unsichtbaren hatten sich aber schon lange sehr weit von dem System entfernt, das einst ihnen Gerechtigkeit versprach, dann aber zu einer religiös-mafiösen Oligarchie mutiert war.

Anders als 2009 waren die Proteste der armen Bevölkerungsteile nicht friedlich: Polizeistationen wurden angezündet, in einzelnen Provinzen mussten die Sicherheitskräfte die Orte verlassen. Der Staat antwortete mit brachialer Gewalt: In den zwei Tagen des Aufstands wurden bis zu 1000 Menschen auf der Straße umgebracht. Es kam danach auch zu Todesurteilen gegen Beteiligte der Proteste, unter anderem wurde der sehr bekannte und beliebte Ringer Navid Afkari aus Shiraz im Süden Irans hingerichtet.

In Ländern ohne legale Opposition, wo keine angemeldeten Demonstrationen möglich sind, werden Jahrestage immer zum Anlass für neue Proteste. Aus dem kollektiven Gedächtnis heraus folgen oft gemeinsame Handlungen. So geschehen am Dienstag im Iran.

Aufstand und Streiks

Es gab bereits in den Tagen davor unzählige dezentrale Aufrufe zum Protest und eine dreitägige Streikwelle. Und so war dieser Dienstag ein Höhepunkt der Revolution im Iran. Proteste erfassten wieder das ganze Land. Es ist kaum möglich, einen Überblick zu bekommen. Interessant war allerdings, dass es in sehr vielen kleineren Orten, in denen bisher keine Proteste stattgefunden hatten, diese Woche zu massiven Straßenaktionen kam.

Mehr und mehr sind junge Menschen auch mit Molotow-Cocktails zu sehen, die Gebäude der Sicherheitskräfte attackieren und anzünden. Viele kleinere Orte, die traditionell sehr religiös sind, waren Schauplatz vom Aufstandsaktionen.

Neben dieser Ausdehnung der Bewegung in die Provinzen kam in dieser Woche mit landesweiten Streiks ein neues Element der revolutionären Erhebung dazu. Der Streik betraf vor allem die Geschäfte und die Bazare. Auch hier ist es schwer, den Streik in seinem Ausmaß zu erfassen. In einem Video aus Shiraz, einer Millionenstadt im Süden, fährt ein Auto eine halbe Stunde im Stadtzentrum an geschlossenen Geschäften vorbei; nur in ganz wenigen Läden ist Licht zu sehen.

Ähnliche Berichte kamen aus allen Großstädten, aber auch aus vielen kleineren Orten, wo fast alle Geschäfte geschlossen blieben. Nach mehreren Augenzeugenberichten kann in den Städten von einer Streikbeteiligung 80 bis 90 Prozent im Handel ausgegangen werden.

Das produzierende Gewerbe spielt im Iran nicht die Rolle, die es im Europa spielt. Das Land lebt sehr stark vom Verkauf von Öl, Gas und anderen Ressourcen. Somit ist der Handel viel wichtiger im wirtschaftlichen Kreislauf. Die traditionellen Bazare spielen neben der wirtschaftlichen auch eine wichtige öffentliche Rolle.

Hier treffen sich die Menschen, sie sind der Pulsader der Stadt oder des Stadtteils. Insbesondere der traditionelle Bazar von Teheran hatte immer auch eine wichtige politische und symbolische Bedeutung. In der Zeit der Monarchie war der Bazar eine wichtige Stütze der antikolonialen Bewegung unter Mossadegh in den 1950er-Jahren, später eine wichtige Bastion der Islamisten. In den traditionellen Bazaren waren vor allem mittelständische konservativ-religöse Schichten, die unter dem Schah die islamischen Bewegungen und Schulen finanzierten.

Umso erstaunlicher nun, dass die großen traditionellen Bazare in Teheran, Isfahan, Mashhad und andere Städte nahezu komplett geschlossen blieben. Weniger erstaunlich war ein kompletter Generalstreik in den kurdischen Gebieten, die bereits mehrmals in den letzten zwei Monaten die Städte gänzlich lahmgelegt haben.

Neben den Handelsstreiks kam es auch vereinzelt zu industriellen Streiks. Diese betrafen die Stahlwerke in Isfahan und die Öl- und Gasindustrie im Süden. In der Ölindustrie hatte es bereits einen Streik im ersten Monat der Revolution gegeben. Es waren die Leiharbeiter, die in den politischen Ausstand gingen.

Dieser wurde allerdings hart niedergeschlagen: am Folgetag wurden 250 streikende Arbeiter festgenommen. Am Dienstag waren es tausende Stahlarbeiter, die zwar für wirtschaftliche Belange streikten, ihren Streiktag aber genau auf den Dienstag legten, was ein klar politisches Zeichen ist.

Die Universitäten gingen komplett in den Streik – sie sind wie erwartet eine Hochburg der Revolution. Bisher trafen sich die Studierenden in den Unis und organisierten Protestaktionen auf dem Campus. In dieser Woche blieben alle größeren Unis geschlossen. Auch viele Schüler:innen gingen in dieser Woche nicht zur Schule. Eine befreundete Lehrerin berichtete, statt 30 bis 40 seien nur zehn in ihrer Klasse gewesen, wodurch kein Unterricht stattfinden konnte.

Die Toten als Treiber der Revolution

Im Iran erleben wir zu Zeit ein Patt zwischen einem Staat, der von seiner Natur aus nicht zu Kompromiss und Reform imstande ist und dem Volk nichts anderes als das Gewehr, Gefängnis und Folter anzubieten hat, und einem Volk, in dem zu viele nicht mehr bereit sind, unter diesen sozialen und politischen Umständen zu leben, ihre Angst verloren haben und beginnen, sich organisieren.

Ein zentraler Treiber der revolutionären Aktionen sind die Trauerfeiern und Todestage der Opfer des Regimes. Die Sicherheitskräfte üben deshalb massiven Druck auf die Eltern von den Toten aus, keine Informationen über die Bestattungen freizugeben.

Dennoch werden die Zeremonien zu großen Versammlungen. Die Eltern der Opfer halten Reden, die Menschen beginnen Parolen zu rufen – daraus entstehen erneut Demonstrationen. In der schiitischen Tradition Irans dauert die Zeit der Trauer 40 Tage, und am 40. Tag wird erneut eine gemeinsame Trauerfeier abgehalten. Dabei kommt es auch regelmäßig erneut zu Aufstandsaktionen.

Ähnlich war es bereits in der Zeit der Revolution 1979. Bei den Bestattungen oder am 40. Tag kommt es wieder zur Ermordung von Demonstrant:innen, und so geht die Welle weiter, mit erneuten Bestattungen und 40. Trauertagen. In dieser Woche wurden erneut viele Demonstrant:innen erschossen, unter ihnen auch ein zehnjähriger Junge, der auf der Straße mit seinem Vater unterwegs war. Jede Bestattung wird gerade zu einer Manifestation gegen das Regime.